Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 25.09.2001, Az.: 4 A 102/99

Eingliederungshilfe; Legasthenie

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
25.09.2001
Aktenzeichen
4 A 102/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40194
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Bewilligung von Eingliederungshilfe für eine Legasthenie-Förderung.

2

Der am 17. Februar 1987 geborene Kläger nahm ab August 1996 bei dem Kreisverband Legasthenie L. er Heide e.V. an einer Legasthenie-Therapie teil und erhielt pro Woche eine Stunde Förderung. Er beantragte bei dem Beklagten, ihm für die Legasthenie-Förderung Eingliederungshilfe zu gewähren.

3

Nach der Bescheinigung des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychologie Dr. P. vom 14. Februar 1997 stellte dieser bei dem Kläger aufgrund verschiedener Untersuchungen eine umschriebene Teilleistungsschwäche im Lese- und Rechtschreibbereich (Legasthenie nach ICD 9) fest. Es handele sich nicht um Begabungsmängel, sondern um Funktionsschwächen des zentralen Nervensystems, aufgrund derer die Leistungen hinter den sonstigen allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten zurückblieben. Folge der bestehenden Funktionsschwächen seien anhaltende Misserfolgserlebnisse, Kränkungen und Entmutigungen in Leistungs- und Anforderungssituationen, die zu Ängsten und beginnender Vermeidungshaltung geführt hätten. Es bedürfe einer gezielten und fachkompetenten ambulanten Förderung im Lese-Rechtschreib-Bereich. Die schulische Förderung allein könne in Anbetracht der Ausprägung und der Besonderheit der bestehenden Defizite der Problematik nicht gerecht werden. Aufgrund der seelischen und sozialen Folgen der Störung drohe eine nicht nur vorübergehende wesentliche seelische Behinderung. Er empfehle zunächst 45 Sitzungen zu je 45 Minuten.

4

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H.  des Gesundheitsamtes des Beklagten  kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine umschriebene Teilleistungsschwäche im Lese- und Rechtschreibbereich (Legasthenie nach ICD 9) vorliege und aufgrund der bestehenden kindlichen Konflikte eine nicht nur vorübergehende wesentliche seelische Behinderung einzutreten drohe. Der Förderunterricht sei bis zum Abschluss der 4. Grundschulklasse notwendig.

5

Mit Bescheid vom 5. Mai 1997 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die ambulante Legasthenie-Therapie Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII und zwar für die Zeit von August 1996 bis Juni 1998.

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Am 30. April 1998 stellte der Kläger einen Verlängerungsantrag.

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Die Klassenlehrerin des Klägers, Frau F. , gab in ihrer am 29. Mai 1998 bei dem Beklagten eingegangenen Stellungnahme an, dass der Kläger im Verlauf des zweiten Schuljahres in ihre Klasse gekommen sei. Der Kläger weise immer noch eine erhebliche Schwäche in den Bereichen Lesen und Rechtschreibung auf, die sich in einer Störung der Wortspeicherung, mangelhafter Beherrschung der Rechtschreibregeln und einer Störung der akustischen Wahrnehmung zeige. Durch die Misserfolge in der Rechtschreibung verliere er an Selbstvertrauen. Eine außerschulische Förderung sei sehr wünschenswert. Eine schulische Förderung erfolge, finde aber nur in großer Gruppe und nur eine Stunde pro Woche statt.

8

Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychologie Dr. P. nahm in seiner Folgebescheinigung vom 2. Juni 1998 auf seine Erstbescheinigung vom 14. Februar 1997 Bezug. Die Nachuntersuchung habe ergeben, dass sich die LRS-Symptomatik gebessert habe. Eine weitere Förderung im Rahmen von 30 Sitzungen zu je 45 Minuten werde jedoch für notwendig erachtet.

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Der Beklagte schaltete daraufhin sein Gesundheitsamt ein und wies insbesondere darauf hin, dass die Grundschullehrerin eine außerschulische Förderung lediglich für "wünschenswert" gehalten habe.

10

Nach der Stellungnahme des Arztes am Gesundheitsamt Dr. W.  vom 22. Juli 1998 war der Kläger bei seiner Untersuchung am 9. Juli 1998 freundlich, kooperativ und selbstbewusst und habe keine Angst oder Vermeidungshaltung gezeigt. Auch die Mutter habe berichtet, dass der Kläger selbständiger geworden sei und sich sein übriges Verhalten gebessert habe. Aus den Zeugnissen sei zu entnehmen, dass er aktiv mit guten Beiträgen am Unterricht teilnehme und schriftliche Arbeiten ausdauernd und in angemessener Zeit erledigen könne. Gegenüber Mitschülern verhalte er sich freundlich und hilfsbereit. Diese Befunde seien durch die Testverfahren bestätigt worden, so dass zur Zeit keine drohende seelische Behinderung zu erkennen sei. Da die Schule einen Förderkurs anbiete, sei gewährleistet, dass der Kläger ausreichend gefördert werde. Eine außerschulische Förderung halte er für nicht erforderlich.

11

Mit Bescheid vom 27. Juli 1998 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Weitergewährung von Eingliederungshilfe unter Bezugnahme auf die Stellungnahme seines Gesundheitsamtes ab. Dagegen legte der Kläger am 6. August 1998 Widerspruch ein. Der Beklagte forderte den Kläger daraufhin auf, verschiedene Unterlagen vorzulegen.

12

Auf die Anforderung des Beklagten reichte der Kläger die letzten drei Zeugnisse der Sternschule U. sowie Vorschriften (= Entwürfe) von Aufsätzen ein, in denen seine Klassenlehrerin Frau F.  die Rechtschreibfehler verbessert hatte. Aus den Zeugnissen ergibt sich, dass die Rechtschreibleistungen des Klägers in der Grundschule trotz der Fördermaßnahmen nicht ausreichend waren, so dass er in dem Fach Rechtschreibung keine Zensur erhielt. In dem Abschlusszeugnis der 4. Klasse wurde darauf hingewiesen, dass der Kläger am Förderkurs in der Rechtschreibung teilgenommen habe, aber nur geringe Fortschritte in seiner Rechtschreibleistung mache.

13

Die Förderlehrerin des Klägers bei dem Kreisverband Legasthenie machte in ihrem Zwischenbericht vom 13. Oktober 1998 deutlich, dass es für den Kläger sehr wichtig sei, die außerschulische Förderung weiter fortzusetzen, damit seine Erfolge im schulischen Bereich wie auch seine Stabilisierung in emotionaler Hinsicht voranschritten. Der Kläger versuche, Aufgaben zu vermeiden, zu deren Bewältigung er sich nicht sicher genug fühle. Die hohe Fehleranzahl führe zu Ärgernis, Missmutigkeit und Unkonzentriertheit. Anhaltende Misserfolgserlebnisse, Kränkungen und Entmutigungen in Leistungssituationen hätten zu Ängsten und beginnender Vermeidungshaltung geführt. Sein vermindertes Selbstwertgefühl müsse wieder aufgebaut werden.

14

Nach dem ärztlichen Attest des Facharztes für Augenheilkunde Dr. S.  vom 27. August 1998 liegt bei dem Kläger eine latente Weitsichtigkeit vor, die mit einer Brille ausgeglichen wird. Der Arzt Dr. St. stellte bei dem Kläger nach seiner Bescheinigung vom 20. Oktober 1998 einen beidseitigen Tieftonverlust unklarer Genese fest.

15

Mit Schreiben vom 3. November 1998 legte der Beklagte den Vorgang dem Gesundheitsamt zur Stellungnahme im Widerspruchsverfahren vor. Nach der Stellungnahme des Arztes am Gesundheitsamt Dr. W.  vom 4. März 1999 wiesen bei dem Kläger Krankheitszeichen auf eine neurologische Erkrankung, z.B. Anlagestörung der Hirnnerven, hin. Da eine empfohlene weitere Abklärung nicht erfolgt sei, sei die Diagnose "Legasthenie" äußerst zweifelhaft. Weiter habe Dr. P. im Mai 1998 eine annähernd durchschnittliche Rechtschreibleistung festgestellt. In seiner Ängstlichkeit unterscheide der Kläger sich nicht von anderen Schülern. Eine psychische Störung, aufgrund derer eine seelische Behinderung drohen könnte, habe im Mai 1998 nicht festgestellt werden können. Auch die Schule beschreibe den Kläger im Juli 1998 als Schüler, der sich aktiv mit guten Beiträgen am Unterricht beteilige, selbst schwierige Aufgaben selbständig bearbeite und in angemessener Zeit beende. Zu seinen Mitschülern habe er ein gutes Verhältnis. Dr. W.  kam daher zu dem Ergebnis, dass der von ihm am 9. Juli 1998 gewonnene Eindruck durch die Erhebungen von Dr. P. und der Lehrerschaft gestützt werde. Eine psychische Störung oder Erkrankung, die zu einer drohenden seelischen Behinderung des Klägers führen könnte, sei nicht erkennbar.

16

Der Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 1999 zurück, da die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nicht gegeben seien. Verschiedene Krankheitszeichen wiesen auf die Möglichkeit einer neurologischen Erkrankung hin, die bisher nicht abgeklärt worden sei.

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Die Erziehungs- und Familienberatungsstelle des Landkreises Uelzen empfahl in einer nicht datierten, nach Erlass des Widerspruchsbescheides eingegangenen Stellungnahme, die gezielte Förderung des Klägers im Hinblick auf die Lese- und Rechtschreibproblematik fortzusetzen. Der Kläger sei nach dem Wechsel an die Orientierungsstufe nach Angaben seiner Mutter Einzelgänger in einer unruhigen Klasse. Er habe im vergangenen Dezember/Januar gehäuft über Magenkrämpfe geklagt. Im Gespräch zeige sich deutlich, dass der Kläger für sich alles, was mit dem Thema Legasthenie verbunden sei, als persönliche Schwäche bewerte. Die Häufigkeit kritischer Situationen im Unterricht, insbesondere die Reaktionen der Mitschüler hierauf, hätten ihn veranlasst, immer wieder auch die Hilfe der Beratungslehrerin in Anspruch nehmen zu müssen.

18

Nach dem Attest der Ärzte für Neurologie und Psychiatrie Dr. T. und T. vom 19. Mai 1999 besteht bei dem Kläger ausgehend von den erhobenen kinderneuropsychiatrischen Befunden eine Legasthenie, deren Ursache bisher unbekannt sei. Typische hirnorganische Veränderungen fehlten. Ein EEG von Dezember 1998 sei unauffällig gewesen. Eine neurologische weiterführende Diagnostik sei nicht notwendig. Der Kläger leide offensichtlich aufgrund der Hirnleistungsteilstörung schon an einer Frustration mit Entwicklung psychosomatischer Beschwerden, wie sich aus dem Bericht des Krankenhauses C. ergebe, so dass eine gezielte pädagogische Maßnahme in Form von Förderunterricht aus neurologisch-psychiatrischer Sicht unbedingt erfolgen müsse.

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Der Kläger hat am 4. Juni 1999 Klage erhoben.

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Zur Begründung trägt er vor, dass mit dem Wechsel zur Orientierungsstufe im Sommer 1998 erhebliche schulische Probleme aufgetreten seien. Die Misserfolge häuften sich. Erwartungsgemäß sei es im Englischunterricht ebenfalls zu Problemen gekommen. Hinzu gekommen sei, dass er durch die ständigen Untersuchungen und Arzttermine im Zusammenhang mit dem Antrag auf Eingliederungshilfe immer wieder mit seiner Lese- und Rechtschreibschwäche konfrontiert worden sei. Er habe daraufhin eine konsequente Verweigerungshaltung eingenommen. Außerdem habe er massiv unter Kopfschmerzen gelitten. Dazu seien starke Magenkrämpfe gekommen mit der Folge, dass er sechs Wochen nicht am Unterricht habe teilnehmen können. Die Hausärztin habe ihn ins Krankenhaus eingewiesen, wo sich herausgestellt habe, dass die körperlichen Beschwerden psychisch bedingt gewesen seien. Die Klassenlehrerin der Grundschule, Frau F. , habe noch einmal ausdrücklich bestätigt, dass der in der Grundschule erteilte Deutschförderunterricht kein Legasthenieförderunterricht sei. In der Orientierungsstufe sei derzeit kein Förderkurs für Legastheniker eingerichtet, wie der Schulleiter mit Schreiben vom 30. Mai 2000 bestätigt habe.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 27. Juli 1998 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 1999 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm für den Zeitraum ab dem 1. Juli 1998 Eingliederungshilfe für die ambulante Legasthenie-Förderung zu gewähren.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

25

Er tritt dem Vorbringen des Klägers unter Hinweis auf die Stellungnahmen seines Gesundheitsamtes vom 14. Januar 2000, 8. Juni 2000 und 9. Oktober 2000 entgegen. In den Stellungnahmen von Dr. W.  heißt es unter anderem, dass Dr. P. offen gelassen habe, ob die von ihm als notwendig erachtete weitere Förderung des Klägers von der Schule oder außerschulisch durchgeführt werden sollte. In der Anfangszeit nach Feststellung der Legasthenie sei für viele Schüler eine außerschulische Förderung erforderlich. Diese werde in der Regel für 12 bis 24 Monate durchgeführt. Dann hätten die Schüler Techniken erlernt, um mit der Schwäche umzugehen. Später könnten die Legastheniker in der Schule wie andere lese- und rechtschreibschwache Schüler auch ausreichend gefördert werden. Für den Zeitraum von Mai bis Juli 1998 hätten weder die untersuchenden Ärzte noch die betreuenden Lehrer der Sternschule die Notwendigkeit für eine außerschulische Förderung des Klägers im Lese- und Rechtschreibbereich gesehen. Für diesen Zeitraum sei auch von Dr. P. keine drohende seelische Behinderung festgestellt worden. Auch der Übergang des Klägers in die Orientierungsstufe zeige, dass die schulische Eingliederung nicht beeinträchtigt gewesen sei. Der Kläger sei regelmäßig versetzt worden. Der Schulleiter der Orientierungsstufe habe für den Kläger Maßnahmen der inneren Differenzierung als ausreichend angesehen und keinen Förderkurs eingerichtet. Die schulische Integration des Klägers sei daher nicht beeinträchtigt gewesen, so dass auch keine seelische Behinderung gedroht habe.

26

Nach der ärztlichen Bescheinigung der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. Sch. vom 15. Januar 1999 war der Kläger seit Anfang Dezember 1998 wegen heftiger abdominaler Beschwerden in ihrer Behandlung. Trotz ausführlicher stationärer und ambulanter Diagnostik habe sich eine organische Ursache nicht finden lassen. Als Ursache der Beschwerden sei die Legasthenie und die dadurch bedingte psychische Belastung denkbar. Nach dem Bericht der Ärzte des Allgemeinen Krankenhauses Celle Prof. Dr. J. und B. vom 12. Februar 1999 befand sich der Kläger dort vom 14. bis zum 17. Dezember 1998 in stationärer Behandlung. Eine Ursache für die Bauchschmerzen, Magenkrämpfe und zeitweiligen Kopfschmerzen habe nicht gefunden werden können. Möglicherweise seien die Beschwerden auch psychisch bedingt. Die Mutter habe psychische Probleme hartnäckig verneint. Die Entlassung sei gegen den ärztlichen Rat erfolgt. Gegebenfalls müsse eine weitere Diagnostik und eventuell auch eine psychologische Beratung durchgeführt werden.

27

Der Kläger legte außerdem einen Befundauszug von Dr. P. vom 5. Januar 1999 über die im Januar/Februar 1997 und im Mai 1998 durchgeführten Untersuchungen vor.

28

Nach der Bescheinigung des Kreisverbandes Legasthenie L. er Heide e.V. vom 26. Juli 2001 hat der Kläger nach Ablauf des von dem Beklagten bewilligten Zeitraumes in der Zeit vom 3. Juli 1998 bis zum 4. Mai 1999 insgesamt 30 Therapiestunden zu je 45 Minuten erhalten.

29

Mit Beschluss vom 12. Juli 2001 hat die Kammer dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt.

30

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet.

32

Der Kläger hat auch für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Juli 1998 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 1999 einen Anspruch darauf, dass der Beklagte ihm Eingliederungshilfe für eine ambulante Legasthenie-Förderung gewährt.

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Nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII (in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1998, BGBl. I  S. 3546) haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe.

34

Seelisch behindert sind Kinder und Jugendliche, bei denen in Folge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 35 a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII i. V. m. § 3 Satz 1 EingliederungshilfeVO). Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten wie die hier vorliegende Legasthenie stellen als solche keine seelischen Störungen dar. Insbesondere sind sie keine Neurosen (§ 3 Satz 2 Nr. 4 EingliederungshilfeVO). Als Folge der Legasthenie können jedoch psychische Störungen eintreten (sekundäre Neurotisierung). Letztere erfüllen allerdings erst dann den Tatbestand der seelischen Behinderung, wenn sie so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft nachhaltig beeinträchtigen. Daraus folgt, dass bei bloßen Schulproblemen oder Schulängsten, wie sie auch andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung zu verneinen ist, dagegen beispielsweise bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung, dem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder der Vereinzelung in der Schule eine behinderungsrelevante seelische Störung vorliegt (vgl. Hauck/Haines, SGB VIII, Kommentar, Stand: August 2000, § 35 a Rn. 24; Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Auflage, § 35 a Rn. 71; zu ADS: BVerwG, Urteil vom 26.11.1998 - BVerwG 5 C 38.7 -, FEVS 49, 487; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24.4.1996 - 6 S 827/95 -, FEVS 47, 309).

35

Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder und Jugendliche, bei denen eine seelische Behinderung als Folge seelischer Störungen noch nicht vorliegt, der Eintritt der seelischen Behinderung aber nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35 a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII i. V. m. § 5 EingliederungshilfeVO).

36

Nach diesen Maßstäben drohte dem Kläger auch in dem hier entscheidungserheblichen Zeitraum ab Juli 1998 noch eine seelische Behinderung.

37

Der Beklagte hatte dem Kläger von August 1996 bis Juni 1998, während dieser die 3. und 4. Klasse der Grundschule besuchte, aufgrund von § 35 a SGB VIII Eingliederungshilfe für die ambulante Legasthenie-Therapie bewilligt und war damit davon ausgegangen, dass der Kläger in diesem Zeitraum von einer seelischen Behinderung bedroht war. Diese Einschätzung ist aufgrund der Bescheinigung des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychologie Dr. P. vom 14. Februar 1997 auch nachvollziehbar. Dieser hatte bei dem Kläger eine umschriebene Teilleistungsschwäche im Lese- und Rechtschreibbereich (Legasthenie nach ICD 9) festgestellt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Funktionsschwäche anhaltende Misserfolgserlebnisse, Kränkungen und Entmutigungen in Leistungs- und Anforderungssituationen verursacht habe, die wiederum zu Ängsten und beginnender Vermeidungshaltung geführt hätten. Aufgrund der seelischen und sozialen Folgen der Störung drohe eine nicht nur vorübergehende wesentliche seelische Behinderung. Es bedürfe einer gezielten und fachkompetenten ambulanten Förderung im Lese-Rechtschreib-Bereich. Die schulische Förderung allein könne in Anbetracht der Ausprägung und der Besonderheit der bestehenden Defizite der Problematik nicht gerecht werden. Das Gesundheitsamt des Beklagten kam zu demselben Ergebnis. Der dort beteiligte Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H.  stellte fest, dass aufgrund der dem Kläger drohenden seelischen Behinderung Förderunterricht bis zum Abschluss der 4. Klasse notwendig sei.

38

Auch in dem sich anschließenden Zeitraum lagen entgegen der Auffassung des Beklagten noch die Voraussetzungen vor, um dem Kläger Eingliederungshilfe zu bewilligen. Zwar mag es sein, dass, wie der Arzt im Gesundheitsamt Dr. W.  im Klageverfahren vorträgt, nach Feststellung der Legasthenie in der Regel eine 12- bis 24monatige außerschulische Förderung ausreicht, um für die Folgezeit eine drohende seelische Behinderung ausschließen zu können. Für den Kläger trifft dies jedoch nicht zu.

39

Maßgebende Bedeutung kommt dabei der Einschätzung des Facharztes Dr. P. in seiner Bescheinigung vom 2. Juni 1998 zu. Unter Bezugnahme auf seine Erstbescheinigung vom 14. Februar 1997 stellt er darin fest, dass sich die LRS-Symptomatik des Klägers gebessert habe. Eine weitere Förderung im Rahmen von 30 Sitzungen zu je 45 Minuten werde jedoch für notwendig erachtet. Soweit Dr. W.  der Bescheinigung entnehmen will, Dr. P. habe keine drohende seelische Behinderung und auch nicht die Notwendigkeit einer außerschulischen Förderung des Klägers festgestellt, kann dem nicht gefolgt werden. Dies ergibt sich schon daraus, dass in der - sehr knappen - Folgebescheinigung auf die ausführliche Erstbescheinigung Bezug genommen wird, in der sowohl von einer drohenden seelischen Behinderung ausgegangen als auch ausdrücklich eine außerschulische ambulante Förderung im Lese-Rechtschreib-Bereich als notwendig angesehen wird, da die schulische Förderung allein nicht ausreiche. Gerade die Formulierung in der Folgebescheinigung "30 Sitzungen" zeigt, dass es sich um außerschulische und nicht um schulische Förderung handeln sollte. Es würde auch keinen Sinn machen, in einer im Rahmen eines Antrages auf Eingliederungshilfe für das Jugendamt erstellten Bescheinigung zu den der Schule obliegenden Fördermaßnahmen Stellung zu nehmen. Im Übrigen ist für die Orientierungsstufe Sternschule festzustellen, dass dort nach der Stellungnahme des Schulleiters Bilitza vom 30. Mai 2000 kein spezieller Förderkurs für die Behebung besonderer Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben eingerichtet gewesen war, sondern lediglich Maßnahmen der inneren Differenzierung durchgeführt wurden. Dass dies nicht den von Dr. P. empfohlenen "Sitzungen" entspricht, ist offensichtlich.

40

Dr. P. hat in seinem Befundauszug vom 5. Januar 1999 zu den im Mai 1998 bei dem Kläger durchgeführten Untersuchungen ausgeführt, dass sich dessen Rechtschreibfähigkeit im vergangenen Jahr deutlich verbessert habe. Trotzdem solle er noch mindestens ein halbes Jahr Förderung erhalten, damit sich diese Entwicklung stabilisieren und er in der Orientierungsstufe einen guten Start bekommen könne. Dass diese Beurteilung zutreffend gewesen ist und dem Kläger nach Übergang in die Orientierungsstufe im Sommer 1998 noch eine seelische Behinderung drohte, zeigt die weitere Entwicklung des Klägers in dem hier entscheidungserheblichen Zeitraum. Der Kläger hat nach dem Bericht der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. Sch. vom 15. Januar 1999 ab Dezember 1998 an heftigen Bauchschmerzen und Magenkrämpfen gelitten, für die sich eine organische Ursache auch während des Krankenhausaufenthalts im Allgemeinen Krankenhaus C. nicht habe finden lassen. Als Ursache war nach Auffassung von Dr. Sch. die Legasthenie und die dadurch bedingte psychische Belastung denkbar. Auch die Ärzte Prof. Dr. J. und B. des Allgemeinen Krankenhauses Celle, wo der Kläger vom 14. bis zum 17. Dezember 1998 wegen seiner Bauchschmerzen stationär behandelt wurde, vermuteten psychische Ursachen für die Beschwerden. Dass der Kläger durch die mit dem Schulwechsel verbundenen Neuerungen wie z.B. neue Mitschüler und Englischunterricht aufgrund seiner Legasthenie an psychosomatischen Beschwerden gelitten hat und wieder stärker der Gefahr einer seelischen Behinderung ausgesetzt gewesen ist als zum Ende seiner Grundschulzeit, erscheint auch durchaus plausibel.

41

Dem Kläger ist für den gesamten streitbefangenen Zeitraum Eingliederungshilfe zu gewähren. Dr. P. hat in der Folgebescheinigung vom 2. Juni 1998 30 Sitzungen zu je 45 Minuten und in seinem Befundauszug Förderung für mindestens ein halbes Jahr empfohlen. Tatsächlich hat der Kläger in dem hier streitigen Zeitraum vom 1. Juli 1998 bis zum 4. Mai 1999 30 Förderstunden zu je 45 Minuten enthalten, was dem empfohlenen Förderumfang entspricht. Dass sich die Förderung über einen Zeitraum von zehn Monaten erstreckt hat, steht dem Anspruch nicht entgegen.

42

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.