Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 25.09.2001, Az.: 4 A 105/00

Asylbewerberleistungsgesetz; Kieferorthopädische Behandlung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
25.09.2001
Aktenzeichen
4 A 105/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 39300
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt, den Beklagten zu verpflichten, die Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung zu übernehmen.

2

Der am 20. Juli 1985 geborene Kläger ist libanesischer Staatsangehöriger. Er reiste mit seinen Eltern und Geschwistern am 27. September 1990 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Eltern waren im Besitz von Nationalpässen; im Pass der Mutter war auch der Kläger eingetragen. Die Pässe wurden bei der Einreise in Berlin-Schönefeld von der Grenzschutzstelle der DDR eingezogen und sind inzwischen unauffindbar. Den Eltern des Klägers wurde in der DDR eine "Identitätsbescheinigung für Asylbewerber" ausgestellt.

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Am 28. September 1990 beantragten diese für sich und ihre Kinder bei der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber in Braunschweig ihre Anerkennung als Asylberechtigte und gaben u. a. an, ihre Pässe "beim Schleuser vergessen zu haben". Die ihnen in der DDR ausgestellten Identitätsbescheinigungen legten sie nicht vor. Sie wiesen sich aber durch Vorlage eines Familienbuchs aus, in dem Geburtsurkunden enthalten waren.

4

Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 23. Oktober 1990 wurden die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte als offensichtlich unbegründet abgelehnt; die Ausreiseaufforderung wurde mit Bescheid des Beklagten vom 2. August 1991 ausgesprochen. Seit Abschluss des Asylverfahrens ist der Aufenthalt geduldet.

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Seit Sommer 1994 bemüht der Beklagte sich, für den Kläger und seine Familie Heimreisedokumente zu beschaffen. Dies gestaltet sich problematisch, weil dem Beklagten Personaldokumente nicht vorliegen und er erst seit Frühjahr 1999 davon Kenntnis erlangt hat, dass die Grenzschutzstelle der DDR in Berlin-Schönefeld die Einreise aktenmäßig erfasst hat.

6

Am 6. April 2000 wurde schließlich unter Beifügung von Kopien der 1990 eingezogenen Pässe erneut ein Antrag an die Kanzlei der Botschaft der libanesischen Republik in Bonn auf Ausstellung von Passersatzpapieren gerichtet, auf den von dort noch nicht reagiert wurde.

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Der Kläger und seine Familie stehen seit ihrer Einreise im laufenden Bezug von Hilfeleistungen.

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Mit Wirkung ab 1. Februar 1999 wurden die Leistungen nach § 1 a AsylbLG nur noch in eingeschränktem Umfang gewährt, und zwar in der Weise, dass die Barleistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG reduziert wurden. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 20. Oktober 1999 zurückgewiesen, nachdem auch ein deshalb bei dem erkennenden Gericht anhängig gemachtes Eilrechtsschutzverfahren erfolglos geblieben war (Beschluss vom 29.4.1999 - 4 B 22/99 -, OVG Lüneburg, Beschluss vom 4.6.1999 - 12 M 2342/99 -). Jedenfalls bis zur Klageerhebung in diesem Verfahren erhielten der Kläger und seine Familie nur die eingeschränkten Leistungen nach § 1 a AsylbLG, wenngleich in den im Jahre 2000 ergangenen Bescheiden vorwiegend die §§ 3 bis 6 AsylbLG als Leistungsgrundlage angeführt wurden.

9

Im Dezember 1999 wurde dem Beklagten für den Kläger ein kieferorthopädischer Behandlungsplan der Ärztin Dr. H. , W., vom 9. Dezember 1999 eingereicht, wonach eine im Einzelnen nach Diagnose und Therapie beschriebene kieferorthopädische Behandlung bei Zungendysfunktion durchgeführt werden sollte. Die voraussichtliche Dauer der Behandlung wurde unter der Voraussetzung guter Mitarbeit mit gut drei Jahren angegeben. Hinzugefügt war weiter, dass die Behandlung wegen des fortgeschrittenen Wachstums und der Zungendysfunktion schwierig sei.

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Der zahnärztliche Dienst des Gesundheitsamtes des Beklagten äußerte zu dem Behandlungsplan nach Aktenlage, ohne Untersuchung des Klägers, dass "die Notwendigkeit einer kieferorthopädischen Behandlung aus zahnärztlicher Sicht zu befürworten sei, da es sich um eine massive Fehlstellung handele".

11

Mit Bescheid vom 10. Februar 2000 lehnte der Beklagte die Gewährung der kieferorthopädischen Behandlung ab im Wesentlichen mit der Begründung, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger sich noch solange in Deutschland werde aufhalten können, bis die Behandlung abgeschlossen sei.

12

Dagegen wurde Widerspruch eingelegt und geltend gemacht, dass die kieferorthopädische Behandlung eine unaufschiebbare medizinische Maßnahme sei, da die Kieferprobleme und die Zahnfehlstellung bereits die Zunge beeinflussten und zu einer Zungendysfunktion führe, wodurch das Sprechen behindert werde. Der Kläger und seine Familie gingen weiter davon aus, dass ihr nunmehr 10jähriger Aufenthalt in Deutschland weiter fortdauere, weil die libanesische Botschaft trotz mehrfacher Erinnerung seitens der Ausländerbehörde Passersatzpapiere nicht ausgestellt habe.

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Mit Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 27. April 2000 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen.

14

Am 27. Mai 2000 hat der Kläger Klage erhoben.

15

Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen das Widerspruchsvorbringen und hebt besonders hervor, dass Handlungsbedarf bestehe, da die Sprachbehinderung durch die Zungendysfunktion immer deutlicher werde. Ein beizuziehender Facharzt werde die Dringlichkeit der Behandlung darlegen können.

16

Der Kläger beantragt sinngemäß,

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den Bescheid des Beklagten vom 10. Februar 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Lüneburg vom 27. April 2000 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Kosten für seine kieferorthopädische Behandlung zu übernehmen.

18

Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

20

Er bezieht sich in seiner Erwiderung auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und weist weiter darauf hin, dass mit der Ausstellung von Passersatzpapieren gerechnet werde, nachdem inzwischen Kopien von Reisepässen für den Kläger und seine Familie gefunden worden seien.

21

Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die Gerichtsakten zu diesem Verfahren und dem Verfahren 4 B 22/99 sowie die beigezogenen Vorgänge des Beklagten und die Widerspruchsvorgänge der Bezirksregierung Lüneburg Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet.

23

Der Kläger kann entsprechend der mit Bescheid des Beklagten vom 10. Februar 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Lüneburg vom 27. April 2000 getroffenen Regelung nicht beanspruchen, dass die Kosten für seine kieferorthopädische Behandlung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von dem Beklagten übernommen werden.

24

Der Kläger ist als geduldeter Ausländer Leistungsberechtigter nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG.

25

Hier kann dahingestellt bleiben, ob der geltend gemachte Anspruch des Klägers nach den §§ 4 oder 6 AsylbLG zu beurteilen ist, die die Leistungen bei akuten Erkrankungen und zur Sicherung der Gesundheit regeln, oder ob diese Leistungen noch der Anspruchseinschränkung nach § 1 a AsylbLG unterliegen, wonach Leistungen (u. a. auch nach §§ 4 und 6 AsylbLG) nur gewährt werden, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist. Denn der geltend gemachte Leistungsanspruch ergibt sich bereits weder nach § 4 noch nach § 6 AsylbLG und kann deswegen erstrecht nicht aus § 1 a AsylbLG folgen.

26

Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sind zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten und Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu erbringen.

27

Als eine zahnärztliche Behandlung ist auch eine Kieferregulierung einstufen. Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzes über die Ausübung der Zahnheilkunde (BGBl. I 1987, S. 1225) ist unter einer Zahnkrankheit "jede von der Norm abweichende Erscheinung im Bereich der Zähne, des Mundes und der Kiefer ... einschließlich der Anomalien der Zahnstellung und des Fehlens von Zähnen" zu verstehen. Kieferorthopädische Behandlungen werden aber dann nicht als zahnärztliche Behandlung von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG umfasst, wenn sie unter den Leistungsausschluss nach § 28 Abs. 2 SGB V fallen, oder wenn der Patient bei Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet hat. D. h., dass eine kieferorthopädische Behandlung allenfalls dann als erforderliche Behandlung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG angesehen werden kann, wenn nach § 29 SGB V Versicherte Anspruch auf Kostenerstattung hätten, der u. a. voraussetzt, dass eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigen oder zu beeinträchtigten droht.

28

Unterstellt, die hier nach dem Behandlungsplan vorgesehenen Maßnahmen wären solche, die von § 29 SGB V bei einem Versicherten erfasst wären, dann scheiterte der Anspruch hier am Fehlen eines akuten Krankheitszustandes im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylbLG. Für chronische Erkrankungen - ohne gleichzeitig akuten Krankheitszustand - kommen nur Ermessensleistungen nach § 6 AsylbLG in Betracht.

29

Im Asylbewerberleistungsgesetz selbst ist der Begriff der akuten Erkrankung nicht definiert. In der Kommentarliteratur (GK-Asylbewerberleistungsgesetz, Stand: Dezember 2000, § 4 Rdnr. 19 i. V. m. Psychrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: akut) wird die akute Erkrankung definiert als unvermittelt auftretender, schnell und heftig verlaufender regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der aus medizinischen Gründen der ärztlichen oder zahnärztlichen Behandlung bedarf.

30

Hier ist nicht ersichtlich, dass auf der Grundlage einer solchen Definition im Falle des Klägers eine akute Erkrankung vorgelegen hat, wobei für diese Entscheidung der Zeitraum ab Bekanntwerden des Behandlungsplanes beim Beklagten im Dezember 1999 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides am 27. April 2000 maßgeblich ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich der Zustand, der hier kieferorthopädisch hat behandelt werden sollen - und was unterstellt wird, auch noch behandelt werden soll - langsam entwickelt hat. Denn ein kieferorthopädischer Behandlungsbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen regelmäßig wachstumsbedingt, so dass deshalb auch eine meistens über Jahre andauernde Behandlung erforderlich ist.

31

In der zum Regierungsentwurf des § 3 Abs. 1 AsylbLG (§ 4 Abs. 1 AsylbLG) gegebenen Begründung (BT-Drucksache 12/4451, S. 9) heißt es dazu, dass für Behandlungen langfristiger Natur, die wegen der voraussichtlich kurzen Dauer des Aufenthaltes nicht abgeschlossen werden können, jedenfalls keine Leistungspflicht ausgelöst werden sollte. Weiter heißt es, dass die Abgrenzung im Einzelfall nicht immer einfach sein werde. Mit der zu dieser Frage auch befassten Bundesärztekammer, bestehe Einvernehmen, dass dazu konkretisierende Empfehlungen sinnvoll seien. - Diese Empfehlungen liegen indessen bis heute nicht vor. Festgehalten werden kann jedoch, dass nach den aufgezeigten Vorstellungen im Gesetzgebungsverfahren Leistungen für über Jahre andauernde Behandlungen nicht von § 4 Abs. 1 AsylbLG erfasst werden.

32

Dass jedenfalls hier eine akute Erkrankung des Klägers im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nicht in Rede stehen kann, erscheint offenkundig. Denn kennzeichnend für eine akute Erkrankung ist, dass eine erforderliche Behandlung keinen Aufschub duldet. Gerade das ist hier nicht der Fall. Der Behandlungsplan ist im Dezember 1999 aufgestellt worden und nichts spricht dafür, dass mit einer Behandlung begonnen worden ist. Wegen des Zeitablaufs seither würde sich ohnehin die Frage stellen, ob die Behandlung - wie vorgesehen - noch durchgeführt werden könnte.

33

Der nach Ausschluss des § 4 AsylbLG in Betracht zu ziehende § 6 AsylbLG gibt dem Kläger ebenfalls keinen Anspruch auf die begehrte Kostenübernahme für seine kieferorthopädische Behandlung.

34

Nach § 6 AsylbLG können sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall u. a. zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind.

35

Leistungen nach § 6 AsylbLG sind Ermessensleistungen des Leistungsträgers, wobei das Ermessen regelmäßig auf Null reduziert ist, wenn eine Leistung unerlässlich ist. Der Beklagte hat bezogen auf § 6 AsylbLG Ermessenserwägungen nicht angestellt, sondern einen Anspruch des Klägers mit der Begründung verneint, dass die kieferorthopädische Behandlung bezogen auf den damaligen Zeitpunkt nicht zur Sicherung der Gesundheit des Klägers unerlässlich sei.

36

Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Denn der Beklagte hat zu Recht die Dauer der vorgesehenen kieferorthopädischen Behandlung in seine Überlegungen einbezogen, weil Behandlungsmaßnahmen, die nur über einen kurzfristigeren Zeitraum als den vorgesehenen von drei Jahren vorgenommen werden, einen nachhaltigen Erfolg nicht herbeiführen. Denn wird eine kieferorthopädische Behandlung nicht zu Ende geführt, ist - und dies ist gerichtsbekannt - damit zu rechnen, dass bereits erzielte Behandlungserfolge nicht bestehen bleiben.

37

Nachdem Kopien der Reisepässe des Klägers und seiner Familie aufgefunden worden sind, kann erwartet werden, dass der Kläger und seine Familie Passersatzpapiere erhalten und die Bundesrepublik Deutschland verlassen müssen, ehe mindestens drei weitere Jahre verstrichen sind und eine kieferorthopädische Behandlung abgeschlossen wäre.

38

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.