Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 10.09.2001, Az.: 1 A 45/99

Alterungsprozess; Bandscheibenbeschwerden; Bandscheibenvorfall; Dienstunfall; Lokomotivführer; Teilursache; Verschlimmerung; wesentliche Teilursache; wesentliche Ursache; Zurechnungslehre

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
10.09.2001
Aktenzeichen
1 A 45/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40236
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Nach der Zurechnungslehre ist diejenige Ursache rechtlich beachtlich, die zum Schaden wesentlich beigetragen hat.

2. Auch eine Einwirkung, die ein anlagebedingtes Leiden nur auslöst oder verschlimmert, kann wesentliche Ursache sein.

3. Nach Anerkennung einer Stauchung der Wirbelsäule durch einen Sturz von einer Lokomative als Dienstunfall kann der damit einhergehende Bandscheibenvorfall nicht mehr von der Anerkennung ausgenommen werden, wenn die Bandscheibe durch den Sturz eine "richtunggebende Verschlimmerung" erfuhr.

Tatbestand:

1

Der 1943 geborene Kläger erstrebt die Anerkennung des Vorfalles vom 13. Januar 1997 als Dienstunfall.

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Er ist bei der Beklagten als beamteter Lokführer beschäftigt und führte am 13. Januar 1997 den Zug Nr. 3241 von Hamburg nach A.. Nach Rangierarbeiten rüstete er die Lokomotive ab und verließ gegen 0.30 Uhr den Führerstand. Hierbei rutschte er von einer Trittstufe ab und stürzte ca. 1,50 m tief auf den Schotterboden. Er verspürte sofort heftige Schmerzen im Rücken, so dass der Kläger seinen Hausarzt aufsuchte. Er wurde vom 17. bis 28. Februar im B. behandelt (s. dazu Bericht vom 20. Oktober 1997). Bis zum 1. Mai 1997 war er dienstunfähig. Im April 1997 zeigte er den Bandscheibenvorfall im Segment L4/5 als eine Berufserkrankung an, was entsprechende Begutachtungen, z.T. nach Aktenlage, zur Folge hatte (Dr. C., Hannover, v. 18.4.1997; Oberbahnarzt Dr. D., Saarbrücken, v. 30.5.1997). Auf deren Grundlage wurde der Vorfall mit Bescheid vom 5. Juni 1997 nicht als Dienstunfall anerkannt.

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Dagegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 19. Juni 1997 Widerspruch. Auf Veranlassung der Beklagten erstattete hierauf Dr. H. E., Facharzt f. Orthopädie, sein Gutachten vom 13. November 1997, in dem er ein langjähriges Bandscheibenleiden des Klägers und auch eine „Beschwerdeverstärkung“ durch das Ereignis vom 13. Jan. 1997 feststellte, jedoch zu dem Schluss kam, es ließen sich „schädigungsrelevante Einwirkungen auch im Sinne einer wesentlichen Teilverursachung über ein einfaches Anlaßgeschehen hinaus nicht abgrenzen“. Daraufhin wurde das Schadensereignis vom 13. Januar 1997 durch den Bescheid vom 3. Dezember 1997 nochmals ausdrücklich nicht als ein Dienstunfall iSv § 31 BeamtVG anerkannt.

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Auch hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, den er mit Schreiben vom 24. Februar 1998 damit begründete, es handele sich bei seinem Sturz von der Lokomotive mindestens um eine wesentliche Teilursache seiner Bandscheibenbeschwerden. Die Beschwerden und Behinderungen, die einer intensiven stationären Behandlung in der neurologisch-therapeutischen Abt. des Hambg. Krankenhauses F. bedurft hätten, seien unmittelbar nach dem auslösenden Sturz vom 13.1.1997 aufgetreten. Hierauf erkannte die Beklagte durch den angefochtenen Bescheid vom 4. März 1998 zwar die „Prellung/ Stauchung der Wirbelsäule“ durch den gen. Sturz nach § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG als Dienstunfall an, nicht aber auch den dabei erlittenen Bandscheibenvorfall L4 mit Wurzelkompression L5, der ausdrücklich von der Anerkennung ausgenommen wurde.

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Der dagegen gerichtete Widerspruch vom 2. April 1998 wurde auf der Grundlage des Gutachtens der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie G. vom 20. Juni 1998 damit begründet, die objektiven Kriterien einer Vorschädigung der Wirbelsäule seien nach den Röntgenbefunden im Vorgutachten gering ausgeprägt gewesen, so dass unter Berücksichtigung der erheblichen Gewalteinwirkung vom 13.1.1997 von einer „wesentlichen Teilverursachung des Bandscheibenvorfalles durch den Sturz ausgegangen werden“ müsse. Nachdem der Betriebsarzt der DB AG, Dr. med. H., in seiner Stellungnahme vom 23. Oktober 1998 u.a. ausgeführt hatte, die Vorschädigung der Wirbelsäule sei zwar nur gering ausgeprägt gewesen, auch habe die vorgeschädigte Bandscheibe eine „richtungsgebende Verschlimmerung“ erfahren, aber dennoch sei nach seiner Einschätzung nur von einer unwesentlichen Teilverursachung auszugehen, wurde der Widerspruch durch den Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 1999 unter Verweis auf die vorgenannte Stellungnahme und das Gutachten des Dr. E. als unbegründet zurückgewiesen.

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Zur Begründung seiner am 24. Februar 1999 erhobenen Klage ergänzt und vertieft der Kläger unter Bezug vor allem auf das Gutachten von Dr. G. seinen Standpunkt, der Sturz vom 13. Januar 1997 sei eine wesentliche Teilursache des Bandscheibenvorfalls und der daraus folgenden Beschwerden.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 4. März 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 1999 aufzuheben und das Unfallgeschehen vom 13. Januar 1997 als Hauptursache für die Bandscheibenbeschwerden des Klägers anzuerkennen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie tritt der Klage unter Bezugnahme auf die ergangenen Bescheide und die Gutachten Dr. O. und Dr. G. entgegen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die aufgrund des erklärten Einverständnisses gem. § 87 a Abs. 2 VwGO entschieden werden kann, ist begründet.

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Der vom Kläger gestellte Antrag ist dahin auszulegen, dass er vor allem eine Anerkennung des Geschehens vom 13. Jan. 1997 als Dienstunfall begehrt und es ihm hierbei weniger darauf ankommt, ob das Geschehen als „Haupt-“ oder als „Teilursache“ bewertet wird.

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Die vom Kläger somit erstrebte Anerkennung eines Dienstunfalles setzt gem. § 31 Abs. 1 S. 1 BeamtVG ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich u. zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis voraus, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist. Aus der Aufzählung ergibt sich, dass zwischen den bestimmenden Faktoren „Dienst“ - „Ereignis“ - „Körperschaden“ ein Zurechnungszusammenhang (Kausalzusammenhang) bestehen muss, der hier auch für den Bandscheibenvorfall des Klägers L4 mit Wurzelkompression L5 gegeben ist.

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Denn in dem Falle, dass - wie hier - mehrere Ursachen zu einem Schaden geführt oder doch im Verbund miteinander zu ihm beigetragen haben, muss im Einzelfall unter Auswertung der Gegebenheiten abgewogen werden, welche der beteiligten Ursachen wohl die wesentliche ist (BVerwGE, 23, 201; BVerwG, ZBR 1970, 157 und ZBR 1980, 180). Hierbei folgt die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung der für das Sozialversicherungs- und Kriegsopferrecht entwickelten Zurechnungslehre (BVerwGE 35, 133; 80, 4; BVerwG, NJW 1982, 1893). Danach ist diejenige Ursache auch im rechtlichen Sinne beachtlich zu bewerten, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Schaden (Erfolg) bei natürlicher Betrachtung zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen hat.

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Wesentlicher Beitrag und damit wesentliche Ursache kann auf der Grundlage dieser Zurechnungslehre auch eine äußere Einwirkung sein, die ein anlagebedingtes Leiden nur auslöst, beschleunigt oder verschlimmert - es sei denn, sie tritt (nach Wertung und Gegebenheiten des Einzelfalles) derart stark in den Hintergrund, dass die anderen Bedingungen (Vorschäden) wertungsmäßig nur noch allein als maßgebend anzusehen sind (BVerwGE 80, 4; DÖD 64, 111; ZBR 67, 219 und ZBR 89, 57; BVerwG, Beschl. v. 25.11.1992 - 2 B 184.92 -; OVG Nordrhein-Westf., Urt. v. 13.12.1989 - 6 A 744/87 -; VG Göttingen, ZBR 1994, 191 [OVG Nordrhein-Westfalen 18.02.1994 - 1 B 3366/93 .PVL]; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 9.6.1995 - 2 A 12831/94 -). Im Urteil des VGH Baden-Württbg. v. 30.1.1991 (ZBR 1991, 277) heißt es dementsprechend:

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"Wesentliche Ursache im Dienstunfallrecht der Beamten kann demnach auch ein Ereignis sein, welches ein anlagebedingtes Leiden auslöst oder beschleunigt oder welches im Zusammenwirken mit einer Vorschädigung oder ungünstigen Befindlichkeit die Schadensfolge herbeiführt, wenn diesem Ereignis nicht im Verhältnis zu den anderen Bedingungen eine derart untergeordnete Bedeutung für den Eintritt der Schadensfolge zukommt, daß die anderen Bedingungen bei der angezeigten wertenden Betrachtungsweise allein als maßgeblich und richtungweisend anzusehen sind. Nicht Ursachen im Rechtssinn sind demgemäß sog. Gelegenheitsursachen, nämlich Ursachen, bei denen zwischen dem Dienst und dem eingetretenen Schaden nur eine rein zufällige Beziehung besteht, d.h. wenn es - z.B. wegen der leichten Ansprechbarkeit einer krankhaften Veranlagung oder ungünstigen körperlichen Verfassung - zur Auslösung von Schadenserscheinungen nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlicher Einwirkungen bedurfte, vielmehr auch ein anderes, alltäglich vorkommendes Ereignis denselben Erfolg herbeigeführt hätte. Nur eine solche untergeordnete Bedeutung wird jedenfalls immer dann anzunehmen sein, wenn das Ereignis der „letzte Tropfen“ war, „der das Maß zum Überlaufen brachte bei einer Krankheit, die ohnehin ausgebrochen wäre, wenn ihre Zeit gekommen war“ (BVerwG, Urt. v. 18.1.1967, Buchholz 232 § 135 Nr. 31; BVerwGE 26, 332/339 f.; zum Ganzen etwa auch BVerwG, Urteil v. 30.6.1988, ZBR 1989, 57). Das Dienstunfallrecht legt dergestalt eine Risikoverteilung fest. Der Dienstherr soll Risiken dem Beamtendienst eigentümlicher und spezifischer Gefahren tragen, während dem Beamten Risiken zuzuordnen sind, die aus seinem privaten und persönlichen Bereich erwachsen.“

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Die äußere Einwirkung als mitwirkende (Teil-)Ursache wird in einem solchen Falle durch Vorschädigungen nicht etwa von vorneherein verdrängt. Vielmehr bedarf es einer wertenden Betrachtung, ob die äußere Einwirkung im Vergleich zu den bereits gegebenen Vorschädigungen von derart untergeordneter Bedeutung für den eingetretenen Schaden ist, dass diese Vorschäden - bei natürlicher Betrachtung - nur noch allein als maßgeblich zu bewerten sind.

20

Das ist hier nicht der Fall, wie vor allem das Neurologische Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie G. zeigt, das auf dem vorangehenden Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. I. aufbaut. Dabei hat die Gutachterin auch das Röntgenbild verwertet, welches im orthopädischen Gutachten zitiert wird, und festgestellt, dass es „keinen nennenswerten Verschleiß“ zeige. Zusammenfassend ist die Gutachterin dann zu dem Schluss gekommen, der Sturz vom 13. Jan. 1997 sei als wesentliche Teilursache des Bandscheibenvorfalls zu werten (Bl. 88 der Verwaltungsvorgänge). Übereinstimmend hiermit gelangt auch der Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. med. J. in seiner Stellungnahme vom 23. Oktober 1998 zu einer - der Sache nach - entsprechenden Einschätzung, wenn er ausführt:

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„M.E. hat der Unfall vom 13.01.97 eine vorgeschädigte Bandscheibe vorgelegen, die durch die Krafteinwirkung eine richtungsgebende Verschlimmerung erfuhr. Auch wenn die Vorschädigung der Wirbelsäule nur gering ausgeprägt war, ist dennoch von degenerativen Veränderungen auszugehen.“

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Seiner auf dieser Grundlage dann vorgenommenen (rechtlichen) Bewertung, es handele sich nicht um eine wesentliche Teilursache, kann allerdings nicht gefolgt werden, weil auf diese Weise die Rechtsprechung zur Teilursache (s.o.) außer Betracht bliebe.

23

Wenn auch der Facharzt für Orthopädie Dr. I. in seinem Gutachten zu der Einschätzung gelangt, dass es durch das Ereignis vom 13.01.1997 zu einer „Beschwerdeverstärkung“ gekommen ist, er sie jedoch nicht als wesentliche Teilursache bewertet sehen will, so mag hierfür seine Grundannahme (S. 22 des Gutachtens) maßgeblich sein, dass Bandscheibenschäden ausnahmsweise „nur dann anerkennungsfähig“ seien, „wenn hierfür im Einzelfall ein pathophysiologisch nachvollziehbare Begründung mit ganz ungewöhnlichen, nur auf diesen Wirbelsäulenabschnitt einwirkende berufliche Belastung festzustellen ist“. Eben hiervon gehen die beiden Gutachter K. und L. (s.o.) unter Bezug auf den Sturz vom 13. Jan. 1997 aber aus, wenn sie ihm medizinisch eine „richtungsweisende“ (Bl. 92), eine den Bandscheibenvorfall „sicher induzierende“ (Bl. 88 oben der Verwaltungsvorgänge), also „erhebliche“ Wirkung zumessen.

24

Da rechtlich auch schon das bloße Auslösen oder Verschlimmern eines zweifellos bestehenden Anlageleidens als anerkennungswürdige Teilursache iSd Dienstunfallsrechts in Betracht kommt (s.o. die einschlägige Rechtsprechung) und hier - wie Dr. J. in Übereinstimmung mit Frau Dr. K. ausgeführt hat - „die Vorschädigung der Wirbelsäule nur gering ausgeprägt war“, können die beim Kläger fraglos vorhandenen Vorschäden wertungsmäßig nicht mehr in den Vordergrund treten und etwa - neben dem Sturz - als alleinige Ursache seiner Bandscheibenbeschwerden bewertet werden. Vielmehr behalten sie ihre geringe Ausprägung mit entsprechend geringem Gewicht als mitwirkende Teilursache neben der Teilursache der „Beschwerdeverstärkung“, die ja auch Dr. E. festgestellt hat, bei, so dass rechtlich von zwei Teilursachen auszugehen ist, von denen die auslösende und verschlimmernde Teilursache eine Anerkennung als Dienstunfall nach sich zieht.

25

Die vorhandenen Vorschäden sind als Folge des normalen Alterungsprozesses mit seinen Aufbraucherscheinungen ja auch nicht ungewöhnlich, da bereits ab dem 25. Lebensjahr eine altersphysiologische Involution der meistbelasteten Sehnen und Gelenke einsetzt. Entscheidend ist hier demzufolge allein, ob und ggf. in welchem Umfange das Unfallereignis vom 13. Januar 1997 eine wesentliche Mitursache für die dann aufgetretenen Beschwerden des Klägers darstellt. Das ist bei wertender Gesamtsicht der Sach- und Rechtslage zu bejahen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.