Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 19.09.2011, Az.: L 11 AS 609/11 NZB
Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache; Erstattung von Vorverfahrenskosten nach Verwerfung eines Widerspruchs gegen einen Bescheid
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 19.09.2011
- Aktenzeichen
- L 11 AS 609/11 NZB
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 35943
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2011:0919.L11AS609.11NZB.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 06.06.2011 - AZ: S 45 AS 2362/11
Rechtsgrundlagen
- § 63 Abs. 1 SGB X
- § 86 SGG
- § 96 SGG
- § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG
- § 145 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Die Rechtsfrage, ob die Übernahme der Kosten des Vorverfahrens gemäß § 63 SGB X erfolgen kann, wenn der Widerspruch als unzulässig zurückgewiesen wurde, weil der angefochtene Bescheid gem § 86 oder § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand eines zuvor eingeleiteten Widerspruchs- oder Gerichtsverfahrens geworden ist, die Einlegung des Widerspruchs aber durch eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung veranlasst wurde, hat keine grundsätzliche Bedeutung, nachdem das BSG diese Rechtsfrage bereits höchstrichterlich entschieden hat. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Tenor:
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 6. Juni 2011 wird zurückgewiesen.
Kosten für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte verpflichtet ist, den Klägern Kosten des Widerspruchsverfahrens zu erstatten.
Die Kläger stehen im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Mit Bescheid vom 25. November 2009 wurden ihnen Leistungen für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2010 bewilligt. Hiergegen erhoben sie mit Schreiben vom 14. Dezember 2009 Widerspruch (Aktenzeichen - AZ - bei dem Beklagten: H.). Der Beklagte erließ einen weiteren Bescheid, der ebenfalls den Bewilligungsabschnitt des ersten Halbjahres 2010 betraf (vgl. Bescheid vom 1. Februar 2010: Bewilligung von Leistungen für die Zeit vom 1. bis 31. Januar 2010). Dieser Änderungsbescheid enthielt eine auf den Widerspruch hinweisende Rechtsbehelfsbelehrung. Auch hiergegen legten die Kläger Widerspruch ein (AZ beim Beklagten: I.), den sie auf die Kosten der Unterkunft beschränkten. Dieser Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2010 als unzulässig verworfen, weil der Änderungsbescheid gemäß § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des bereits anhängigen Widerspruchsverfahrens (Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 25. November 2009 - H.) geworden sei. Die Erstattung von Kosten für das Widerspruchsverfahren lehnte der Beklagte ab.
Der Beklagte half dem Widerspruch vom 14. Dezember 2009 gegen den Bewilligungsbescheid vom 25. November 2009 für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2010 (H.) mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2010 teilweise ab und erklärte sich zur Kostenerstattung in Höhe von 20 Prozent bereit. Diesem Widerspruchsverfahren schloss sich das Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Hannover S 45 AS 2576/10 an, das - soweit ersichtlich - noch anhängig ist.
Gegen die Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2010 (den Widerspruch gegen den Änderungsbescheid betreffend: AZ: I.) haben die Kläger vor dem SG Hannover Klage erhoben und die Verurteilung des Beklagten zur Erstattung der Vorverfahrenskosten begehrt. Zur Begründung haben sie vorgetragen, dass der Beklagte aus Gründen des "Veranlasserprinzips" die Kosten der unnötigen Rechtsverfolgung ersetzen müsse. Die Kostentragungspflicht ergäbe sich wegen der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung aus einer erweiternden Auslegung des § 63 Abs. 1 S. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) oder aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch.
Das SG Hannover hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 6. Juni 2011 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 S. 1 SGB X nicht erfüllt seien, weil der Widerspruch des Klägers gegen den in einem anderen Widerspruchsverfahren zum Gegenstand gewordenen Bescheid nicht erfolgreich gewesen sei. Die Tatbestandsmerkmale des § 63 Abs. 1 S. 2 SGB X liegen nicht vor, da eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung keinen unbeachtlichen Verfahrens- oder Formfehler in diesem Sinne darstelle. Daneben scheide auch eine erweiternde Auslegung der Vorschrift des § 63 Abs. 1 S. 2 SGB X aus, weil keine planwidrige Regelungslücke bestehe. Das Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches gewähre auf der Rechtsfolgenseite lediglich Restitution in natura und nicht Schadensersatz in Geld, so dass er ebenfalls keine Kostenerstattung begründen könne.
Mit der am 5. Juli 2011 eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde begehren die Kläger die Zulassung der Berufung gegen den ihnen am 9. Juni 2011 zugestellten Gerichtsbescheid. Sie sind der Auffassung, dass die Rechtssache eine klärungsbedürftige Rechtsfrage betreffe. Klärungsbedürftig sei, "ob eine Kostenerstattungspflicht des Beklagten bei fehlerhafter Rechtsbehelfsbelehrung gegeben sei, soweit das Verfahren gegen den ursprünglichen Bescheid erfolgreich war und der Beklagte durch die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung im Folgebescheid weitere Widersprüche provoziert". Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Oktober 2010 sei auf die vorliegende Streitigkeit nicht übertragbar, weil in dem dort entschiedenen Fall die Beklagte nicht berechtigt gewesen sei, über die Kosten zu entscheiden, sondern diese Entscheidung vom Gericht im Rahmen der Kostenentscheidung hätte getroffen werden müssen.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig, weil die Berufung wegen des Nichterreichens des Beschwerdewertes von 750,01 EUR gemäß § 143 i.V.m. § 144 Abs. 1 SGG nicht statthaft ist. Die Klage betrifft einen auf eine Geldleistung unterhalb des genannten Beschwerdewertes gerichteten Verwaltungsakt im Sinne der letzten Tatbestandsalternative des § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage, § 144 Rdnr. 9 und 49). Zwar sind die geforderten Vorverfahrenskosten nicht beziffert worden. Der Senat geht jedoch davon aus, dass der Vergütungsanspruch des Prozessbevollmächtigten der Kläger den maßgeblichen Beschwerdewert unterschreitet. Gemäß § 14 Abs. 1, § 3 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) i.V.m. Nr. 2400 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG (RVG VV) beträgt die Geschäftsgebühr in sozialrechtlichen Angelegenheiten, in denen im gerichtlichen Verfahren Beitragsrahmengebühren entstehen, 40,- bis 520,- EUR, wobei eine Gebühr von mehr als 240,- EUR nur gefordert werden kann, wenn die Tätigkeit umfangreich und schwierig war. Auch bei Ausschöpfung des Gebührenrahmens und unter Berücksichtigung der Pauschale für Post- und Telekommunikation (Nr. 7002 VV RVG) in Höhe von 20,- EUR sowie der Umsatzsteuer von 19 Prozent (Nr. 7008 VV RVG) erreicht der Vergütungsanspruch des Prozessbevollmächtigten der Kläger nicht den Beschwerdewert von mehr als 750,- EUR. Die Kläger haben imÜbrigen nicht geltend gemacht, dass die Berufung bereits gemäß § 143 i.V.m. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG statthaft ist.
Ein Zulassungsgrund nach § 144 Abs. 2 Nr. 4 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung ist nicht gegeben, weil die Klage keine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen hat. Eine Rechtsfrage hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Sie muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein (vgl. Leitherer, aaO., § 141 Rdnr. 28). Die aufgeworfene Rechtsfrage, ob dieÜbernahme der Kosten des Vorverfahrens gemäß § 63 SGB X erfolgen kann, wenn der Bescheid als unzulässig zurückgewiesen wurde, weil er gemäß § 86 oder § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand eines zuvor eingeleiteten Widerspruchs- oder Gerichtsverfahrens geworden ist, die Einlegung des Widerspruchs aber durch eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung veranlasst wurde, hat das BSG jedoch bereits höchstrichterlich verneint (vgl. BSG, Urteil vom 20. Oktober 2010 - B 13 R 15/10 R Rdnr. 28 f.). Zwar betraf diese Entscheidung die Fallkonstellation, in dem während eines bereits anhängigen Gerichtsverfahrens ein weiterer Bescheid mit fehlerhafter Rechtsbehelfsbelehrung erlassen wurde, welcher gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Gerichtsverfahrens wurde. Das BSG stellte aber ausdrücklich fest, dass nach Klageerhebung eine gesonderte Erstattung der Kosten nach § 63 SGB X nicht (mehr) in Betracht kommt, sondern über die Kosten des Widerspruchs gegen einen Bescheid ausschließlich im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 193 SGG mit zu entscheiden ist und dies auch für die Kosten des Widerspruchs gegen einen Bescheid gilt, der in ein bereits anhängiges Gerichtsverfahren nach § 96 Abs. 1 SGG einbezogen wurde, wenn es trotz der Einbeziehung eines solchen Bescheides aufgrund fehlerhafter Rechtsbehelfsbelehrung zu einem (unnötigen) Widerspruchsverfahren kommt (BSG, aaO., Rdnr. 20 f.). Für diesen Fall hat das BSG die Befugnis des Kostenschuldners, eine inhaltliche Entscheidung über die Erstattung der geltend gemachten Kosten des Widerspruchs zu treffen, verneint. Auch wenn sich vorliegend nicht die Frage nach einer solchen Entscheidungsberechtigung des Beklagten stellt, weil der mit Widerspruch angefochtene Bescheid während eines laufenden Widerspruchsverfahrens ergangen ist und damit gemäß § 86 SGG Gegenstand des schon anhängigen Widerspruchsverfahrens geworden ist, hält der Senat die aufgeworfene Rechtsfrage für geklärt. Als höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht sie zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, zur Auslegung des anzuwendenden Rechts aber bereits eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Klärung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (BSG, Beschluss vom 25. Mai 2011 - B 4 AS 29/11 B). Die Entscheidung des BSG vom 20. Oktober 2010 (BSG, aaO.) ist auf die aufgeworfene Rechtsfrage übertragbar, weil dort klargestellt wurde, dass ein Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 63 Abs. 1 S. 1 SGB X nicht gegeben ist, wenn der Widerspruch nicht erfolgreich war (vgl. ebenso: Beschluss des erkennenden Senats vom 30. Juni 2011 - L 11 AS 457/11 B). Das ist u.a. der Fall, wenn ein Bescheid Gegenstand eines anhängigen sozialgerichtlichen Verfahrens geworden ist. Entsprechendes gilt nach Überzeugung des Senats, wenn der spätere Bescheid gemäß § 86 SGG Gegenstand eines bereits laufenden Widerspruchsverfahrens geworden ist, weil auch der dagegen eingelegte Widerspruch unzulässig ist. Daneben hat das BSG deutlich gemacht, dass im Falle einer unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung weder die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 S. 2 SGB X vorliegen noch eine Kostenerstattung auf der Grundlage einer erweiternden Auslegung des § 63 Abs. 1 S. 2 SGB X oder des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in Frage kommt.
Soweit die Kläger meinen, klärungsbedürftig sei, "ob eine Kostenerstattungspflicht des Beklagten bei fehlerhafter Rechtsbehelfsbelehrung gegeben sei, soweit das Verfahren gegen den ursprünglichen Bescheid erfolgreich war und der Beklagte durch die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung im Folgebescheid weitere Widersprüche provoziert" fehlt es an der Klärungsfähigkeit bzw. Entscheidungserheblichkeit dieser aufgeworfenen Rechtsfrage. Denn dem Widerspruch der Kläger gegen den Bewilligungsbescheid ist nicht in vollem Umfang abgeholfen worden. Vielmehr wehren sich die Kläger gegen die Teilabhilfe mit der - noch anhängigen - Klage (S 45 AS 2576/10), so dass der zunächst in das Widerspruchsverfahren nach § 86 SGG einbezogene Änderungsbescheid nunmehr auch zum Gegenstand des Gerichtsverfahrens geworden ist. Insoweit wird über die Kosten des Widerspruchs gegen den einbezogenen Änderungsbescheid im Rahmen des noch anhängigen gerichtlichen Verfahrens zu entscheiden sein.
Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG liegen ebenfalls nicht vor, weil keine abweichenden Entscheidungen der dort aufgeführten Gerichte ersichtlich sind.
Die Kläger haben auch keine Verfahrensfehler i.S.d. § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG geltend gemacht (vgl. zum Erfordernis der ausdrücklichen Geltendmachung eines Verfahrensfehlers: BSG, Urteil vom 15. Mai 1985 - 7 RAr 40/84; Leitherer; aaO., § 145 Rdnr. 4).
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).