Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 27.06.1997, Az.: 4 U 47/94
Ausmaß der von einem Kindergarten ausgehenden Lärmbelästigung; Interesse der Allgemeinheit an einer kinderfreundlichen und jugendfreundlichen Umgebung; Beweisaufnahmekosten, die auch bei sachgerechter Prozeßführung auf jeden Fall entstanden wären
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 27.06.1997
- Aktenzeichen
- 4 U 47/94
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1997, 14666
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1997:0627.4U47.94.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - AZ: 9 O 293/93
Rechtsgrundlagen
- § 91a ZPO
- § 97 Abs. 2 ZPO
- § 906 BGB
- § 906 Abs. 1 S. 2 BGB
- § 48 des BImSchG
Fundstelle
- MDR 1997, 1023-1024 (Volltext mit red. LS)
Verfahrensgegenstand
Rechtsstreitverfahren
In dem Rechtsstreit
hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters ... sowie
der Richter ... und ...
am 27. Juni 1997 beschlossen:
Tenor:
Die Kosten der ersten Instanz werden gegeneinander aufgehoben, die Kosten des Berufungsverfahrens werden den Klägern auferlegt, jedoch mit Ausnahme der Beweisaufnahmekosten zweiter Instanz, die beide Parteien je zur Hälfte zu tragen haben.
Gründe
I.
Die Parteien streiten über das Ausmaß der von einem Kindergarten ausgehenden Lärmbelästigungen. Nach der Veräußerung des den Klägern gehörenden Hausgrundstücks in der Berufungsinstanz haben die Parteien die Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.
Die Kläger waren Eigentümer eines Einfamilienhauses, in dessen erstem Obergeschoß sich eine Ferienwohnung befindet. An ihr Grundstück grenzt das der Beklagten, die dort seit dem Jahre 1991 einen behördlich genehmigten Kindergarten in der Zeit von 8.00 bis 12.00 Uhr sowie von 13.00 bis 17.00 Uhr betreibt. Vormittags befinden sich bis zu 70 und nachmittags bis zu 50 Kinder auf der Anlage. Nach Beschwerden der Kläger sowie der Nachbarn errichtete die Beklagte im Jahre 1993 einen etwa 1,2 m hohen Lärmschutzwall und mehrere Spielgeräte, die sich zum Teil auf diesem Erdwall befinden.
Die Kläger haben behauptet, von dem Kindergarten gingen unerträgliche Lärmbelästigungen aus, die insbesondere durch den später errichteten Lärmschutzwall noch verstärkt worden seien. Infolgedessen hätten Feriengäste Beschwerden erhoben und die Wohnung des öfteren auch schon vorzeitig gekündigt. Stammgäste zu finden sei angesichts der Geräusche unmöglich.
Wie unter den Parteien unstreitig ist, befinden sich die Grundstücke in einem allgemeinen Wohngebiet.
Die Kläger haben in erster Instanz eine Verurteilung der Beklagten zur Errichtung einer ganz bestimmten Lärmschutzwand erstrebt.
Die Beklagte hat um Klagabweisung gebeten, die Entstehung wesentlicher Geräusche in Abrede genommen und im übrigen die Auffassung vertreten, die Kinder dürften nicht von der Umwelt abgeschottet werden.
Das Landgericht hat die Klage ohne Beweisaufnahme mit der Begründung abgewiesen, die Kläger hätten trotz eines gerichtlichen Hinweises, daß ihnen ein Anspruch auf eine konkrete Maßnahme nicht zustehe, auf der Errichtung einer Lärmschutzwand bestanden.
Mit ihrer Berufung haben die Kläger unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrages nunmehr die Verurteilung der Beklagten zur Vornahme geeigneter Maßnahmen verlangt, durch die die Lärmbelästigung auf 50 dB (A) gedrückt werde. Die Beklagte hat weiterhin wesentliche Beeinträchtigungen bestritten.
In seinem Gutachten vom Oktober 1995 kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, daß der Beurteilungspegel 70,3 dB (A) und der Spitzenpegel 81,5 dB (A) beträgt. Die einzelnen Beurteilungspegel lagen zwischen 69,1 und 72,2 dB (A). Der für ein allgemeines Wohngebiet gültige Richtwert von 55 dB (A) kann nur eingehalten werden, sofern eine tägliche Einwirkzeit von 30 Minuten nicht überschritten wird, bei Nutzung der Wallkrone des vorhandenen Erdwalls sowie der darauf befindlichen Spielgeräte darf die effektive Einwirkzeit nur 15 Minuten betragen.
Nachdem umfangreiche und zeitraubende Vergleichsverhandlungen der Parteien über konkrete Maßnahmen zur Herabsetzung der Geräuschbeeinträchtigungen nicht zum Erfolg geführt haben, ist das Haus von den Klägern mit der Begründung veräußert worden, ein weiteres Bewohnen sei ihnen wegen des Lärms unzumutbar. Die Parteien streiten nunmehr nur noch um die Kosten des Rechtsstreits.
Der vorgesehene Ortstermin hat nicht stattgefunden, weil er dem Senat, solange erfolgversprechende Vergleichsverhandlungen liefen, nicht notwendig erschien und der neue Eigentümer nach dem Verkauf das Betreten seines Hauses nicht gestattet.
II.
Sofern die Parteien den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklären, ist gemäß § 91 a ZPOüber die Kosten nach billigem Ermessen zu entscheiden, wobei es in erster Linie darauf ankommt, wer den Prozeß ohne die Erledigungserklärungen voraussichtlich verloren hätte.
Bei der Kostenverteilung hat sich der Senat von folgenden Erwägungen leiten lassen:
1.
Der Anspruch der Kläger ergibt sich grundsätzlich aus § 906 BGB, der die Untersagung von Lärmbeeinträchtigungen ermöglicht, die wesentlich und ortsüblich sind, jedoch nicht durch wirtschaftlich zumutbare Maßnahmen verhindert werden können.
Nach § 906 Abs. 1 Satz 2 BGB liegt eine unwesentliche Beeinträchtigung in der Regel vor, wenn die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgelegten Grenz- oder Richtwerte von den nach diesen Vorschriften ermittelten und bewerteten Einwirkungen nicht überschritten werden. Nach Satz 3 gilt entsprechendes für Werte in allgemeinen Verwaltungsvorschriften, die nach § 48 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erlassen worden sind und den Stand der Technik wiedergeben. Die Neufassung des § 906 BGB durch das Sachenrechtsänderungsgesetz aus dem Jahre 1994 war zwar zu Beginn des Rechtsstreits noch nicht in Kraft getreten, sie entspricht aber nur der Kodifizierung der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtsprechung, denn der Bundesgerichtshof hat stets (BGH NJW 1983, 751) die Ansicht vertreten, daß Regelungen und Verwaltungsvorschriften als Richtwert zur Beurteilung der Wesentlichkeit dienen können, jedoch die Besonderheiten des Einzelfalles berücksichtigt werden müssen.
2.
Der Grenzwert für allgemeine Wohngebiete beträgt sowohl nach der TA-Lärm als auch der VDI-Richtlinie 2058 tagsüber 55 dB (A). Auch in der 18. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Sportanlagenlärmschutzverordnung) ist im § 2 Abs. 2 Nr. 3 ein Grenzwert von 55 dB (A) tagsüber außerhalb der Ruhezeiten vorgesehen. Dieser Wert ist als Ausgangspunkt deshalb auch der weiteren Beurteilung zugrunde zu legen.
3.
Die Rechtsprechung (BGH NJW 1993, 1656; VGH Mannheim, NVwZ 1990, 988; OLG Düsseldorf, DWW 1996, 20) hat allerdings mehrfach ausgesprochen, bei der notwendigen Wertung der Wesentlichkeit von Lärmbeeinträchtigungen dürfe im Interesse der Allgemeinheit an einer kinder- und jugendfreundlichen Umgebung auch den Bewohnern eines Wohngebiets Lärm als Begleiterscheinung kindlichen und jugendlichen Freizeitverhaltens in höherem Maße zugemutet werden, als er generell zulässig sei. Dieser Einschätzung tritt der Senat uneingeschränkt bei, weil der Kinderlärm eine notwendige Ausdrucksform und Begleiterscheinung des kindlichen Spielens darstellt, das zur Entwicklung eines jungen Menschen erforderlich ist und deshalb nicht generell unterdrückt oder beschränkt werden kann.
4.
Aus dem zuvor Gesagten folgt allerdings entgegen der Auffassung der Beklagten nicht, daß Einschränkungen auch bei einer erheblichen Überschreitung der Grenzwerte generell unzulässig seien. Wie die Kläger unwidersprochen vorgetragen haben, hat der Bau des Kindergartens etwa 1.000.000,00 DM gekostet, auch unter diesem Gesichtspunkt erscheint es nicht vertretbar, sich auf den grundsätzlichen Standpunkt zu stellen, daß für Lärmschutzmaßnahmen - überhaupt - kein Geld zur Verfügung stehe, denn Nachbarn sind diesen Geräuscheinwirkungen über Jahrzehnte ausgesetzt. Auch das noch so verständliche kindliche Verhalten kann nicht auf Dauer wenigen Bürgern als Sonderopfer zugemutet werden. Das gilt umsomehr, als in der von den Parteien eingereichten Baugenehmigung - von deren Vollständigkeit mangels anderweitiger Anhaltspunkte auszugehen ist - u. a. Stellplätze für Kraftfahrzeuge in allen Einzelheiten bis zur Herstellung von farblicher Bepflasterung vorgeschrieben worden sind, offenbar jedoch keinerlei Maßnahmen für eine vertretbare und wirtschaftlich zumutbare Geräuschdämmung. In diesem Zusammenhang darf bei der von der Rechtsprechung geforderten Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles auch nicht übersehen werden, daß die Kläger nachvollziehbar vorgetragen haben, auf Einnahmen ihrer Ferienwohnung - zur Abzahlung der Finanzierung - angewiesen zu sein. Schließlich können die Bedürfnisse spielender Kinder auch gewisse Einschränkungen unter dem Gesichtspunkt einer zumutbaren konkreten anderweitigen Gestaltung des Spielplatzes erfahren. Dies gilt besonders für den vorliegenden Fall, weil durch die Errichtung eines Sandwalls und der Installierung von Spielgeräten auf diesem Wall eine Erhöhung des Lärmpegels deshalb eingetreten ist, weil die Abschirmwirkung der Begrenzanlagen durch die Höherlegung der Lärmquelle vermindert worden ist. Die berechtigten Interessen der Kinder schließen somit wirtschaftlich vertretbare Lärmschutzmaßnahmen und zumutbare Änderungen der Spielplatzgestaltung jedenfalls bei einer Überschreitung der Lärmgrenzwerte nicht aus.
5.
Die Rechtsprechung hat es - soweit ersichtlich - allerdings bisher vermieden, sich darauf festzulegen, ob und bejahendenfalls in welchem Umfang der Gedanke der gesteigerten Duldungspflicht Einfluß auf die Grenzwerte haben sollte. Zieht man in Betracht, daß die Erhöhung des Lärmpegels um 10 dB (A) bei gleichartigen Geräuschen subjektiv als Verdoppelung des Lärms empfunden wird, so hätte der Senat bei einer streitigen Entscheidung in der Sache voraussichtlich im Interesse der Rechtssicherheit dazu geneigt, daß eine Erhöhung des Grenzwertes von 55 dB (A) um 3 dB (A) aufgrund der gesteigerten Duldungspflicht hinzunehmen sei, und zwar deshalb, weil der Gesetzgeber selbst in § 1 Abs. 2 Ziffer 2 der 16. Durchführungsverordnung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung) eine Erhöhung um 3 dB (A) als wesentlich angesehen hat.
6.
Bei der Anwendung der zuvor erörterten Grundsätze auf den vorliegenden Fall hat der Senat ferner folgende Erwägungen in Betracht gezogen:
a)
Wie bereits erwähnt, hat der Sachverständige in seinem - insoweit von den Parteien nicht angegriffenen - Gutachten eine Einhaltung des Richtwertes von 55 dB (A) nur bei einer Einwirkzeit von 30 Minuten gewährleistet gesehen, wobei lediglich 15 Minuten zugrundegelegt werden dürfen, wenn der gesamte zur Verfügung stehende Freiraum einschließlich der Nutzung der Wallkrone und des Erdwalls sowie der darauf befindlichen Spielgeräte insgesamt unterstellt wird.
b)
Diese Ergebnisse sind jedoch mit gewissen Einschränkungen zu betrachten und bedürfen einer wertenden Korrektur deshalb, weil der im Gutachten zugrunde gelegte Beurteilungspegel auf einer Einwirkzeit von 48 Minuten beruht, und zwar am Vormittag, während nachmittags keine relevanten Messungen deshalb vorgenommen werden konnten, weil sich die Kinder an diesem konkreten Nachmittag vollständig innerhalb der Gebäude befanden.
Das Problem der Beurteilung von Kinderlärm besteht unter anderem darin, daß die für die Messung von Gewerbelärm geltenden Grundsätze deshalb nicht berücksichtigt werden dürfen, weil bei Gewerbelärm eine Einwirkungszeit von 6 bis 22 Uhr zugrundegelegt wird und dem berechtigten Schutzbedürfnis der Anlieger bei Kinderlärm nicht ausreichend Rechnung getragen würde, wenn man die zum Teil sehr hohen Lärmwerte auf eine Zeit von 14 Stunden umrechnen würde und dann selbst bei extremen Lärmbelastungen zu einem unter dem Grenzwert liegenden Beurteilungspegel gelangte. Auf der anderen Seite erscheint es aber auch nicht zulässig, den vom Sachverständigen zugrunde gelegten Pegel bei einer Einwirkungszeit von 48 Minuten auf die gesamte Betriebszeit des Kindergartens von 6-7 Stunden hochzurechnen, weil sich die Kinder einerseits nicht während der gesamten Betriebszeit des Kindergartens im Freien aufhalten und selbst während des Aufenthalts im Freien nicht die gesamte Zeit den als unerträglich empfundenen Lärm verursachen, weil sie nicht ständig schreien und sich nach einer gewissen Austobungsphase in der Regel auch wieder ruhigeren Spielen zuwenden. Aus diesem Grunde ist der schließlich vom Gericht zu ermittelnde Beurteilungspegel lediglich ein mehr oder weniger zutreffender Annäherungswert, der auch durch eine Ortsbesichtigung nicht wesentlich genauer bestimmt werden kann, denn diese vermittelt nur den Eindruck von der Geräuschkulisse eines konkreten Tages, besagt aber nichts darüber, von welchen Lärmbelästigungen an anderen Tagen auszugehen ist.
c)
Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Kindergarten vor- und nachmittags mehrere Stunden betrieben wird, erscheint es dem Senat vertretbar, von einer Einwirkungszeit von etwa drei Stunden täglich auszugehen. Nach dem Gutachten wäre in diesem Fall der Beurteilungspegel von 56,2 dB (A) um 5,8 dB (A) auf 62 dB (A) (Seiten 5 und 9 des Gutachtens) gestiegen und hätte somit den ohnehin erhöhten Grenzwert von 58 dB (A) noch wesentlich überschritten, wobei zusätzlich bei Spielen auf dem Damm der Beurteilungspegel noch erheblich gestiegen wäre.
Unter diesen Umständen bestand eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Beklagte verurteilt worden wäre, geeignete Maßnahmen zur Lärmminderung durchzuführen. Dazu hätten nach ihrer Wahl beispielsweise der Einbau von Schallschutzfenstern bei den Klägern für ca. 8.000,00 DM gehört sowie die Errichtung der vom Sachverständigen - beispielsweise im Ergänzungsgutachten vom 18. Januar 1996 - vorgeschlagenen Wallkonstruktion nebst Vorpflanzung. Die Beklagte hätte, obwohl sie zu konkreten Maßnahmen nicht hätte verurteilt werden können, im Ergebnis etwa diejenigen Maßnahmen durchführen müssen, zu denen sie sich in dem von ihr schließlich widerrufenen Vergleich vom 20. August 1996 verpflichtet hatte.
7.
Unter Berücksichtigung sämtlicher Gesichtspunkte sowie der Unwägbarkeiten des Ergebnisses eines Ortstermins sowie der Revision, die der Senat voraussichtlich wegen der Frage zugelassen hätte, wie der Begriff der gesteigerten Duldungspflicht rechtlich zu verstehen ist, hält der Senat eine Kostenverteilung von 50 zu 50 für angemessen, so daß die Kosten des ersten Rechtszuges gegeneinander aufzuheben waren.
Da die Kläger indessen in erster Instanz zu Unrecht darauf bestanden haben, die Beklagte zu einer konkreten Maßnahme zu verurteilen, erschien die Anwendung des § 97 Abs. 2 ZPO geboten, jedoch mit Ausnahme der Beweisaufnahmekosten, die auch bei sachgerechter Prozeßführung auf jeden Fall entstanden wären. Im Rahmen der Billigkeitsprüfung nach § 91 a ZPO erschien dem Senat die Teilung der Beweisaufnahmekosten auch deshalb geboten, weil die Beklagte erst nach den Ergebnissen der Lärmmessungen in der Berufungsinstanz erstmalig eine gewisse Konzessionsbereitschaft hat erkennen lassen und vorher jegliche - auch geringfügige - Maßnahmen zugunsten der Kläger kategorisch abgelehnt hatte. ...