Sozialgericht Osnabrück
v. 18.09.2002, Az.: S 3 KR 220/01

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
18.09.2002
Aktenzeichen
S 3 KR 220/01
Entscheidungsform
Gerichtsbescheid
Referenz
WKRS 2002, 35833
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOSNAB:2002:0918.S3KR220.01.0A

In dem Rechtsstreit

...

Klägerin,

vertreten durch ihre Mutter

gegen

Beklagte,

Krankenkasse, vertr.d.d. Vorstand,

hat das Sozialgericht Osnabrück - 3. Kammer - am 18. September 2002 gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch ...

für R e c h t erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Kostenzusage für ein Rollfiets.

2

Bei der im Jahre 1997 geborenen Klägerin besteht eine schwerste Entwicklungsverzögerung von Anfang an mit einer psychomotorischen Entwicklung, die nur in den basalen Bereichen gefördert werden konnte. Die Klägerin leidet häufig an astatischen und generalisierten Anfällen. Eine Möglichkeit zur Kommunikation mit der Klägerin besteht nicht. Die Klägerin besucht seit kurzem den heilpädagogischen Kindergarten in O.

3

Im Juli 2001 verordnete der Kinderarzt Dr. S. der Klägerin ein Rollfiets. Ein Kostenvoranschlag des Orthopädiehauses über insgesamt 11.468,00 DM ging danach bei der Beklagten ein.

4

Mit Bescheid vom 24. Juli 2001 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab. Die medizinischen Voraussetzungen für die Lieferung eines Rollfiets lägen bei der Klägerin nicht vor.

5

Gegen diesen Bescheid erhob die Mutter der Klägerin Widerspruch und führte folgendes aus:

6

"R. Behinderung ist so schwerwiegend, dass alle Hilfsmittel, die sie in die Lage versetzen würden, sich ohne fremde Hilfe außerhalb der Wohnung zu bewegen, von ihr leider nicht genutzt werden können. Die vorhandenen Hilfsmittel sind nur für gepflasterte Wege mit einer zu Fuß gehenden Begleitperson für kurze Strecken geeignet. Das Rollfiets ermöglicht mir, gemeinsam mit R. am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und R. einen körperlichen und geistigen Freiraum zu schaffen, den jedes nicht behinderte Kind als Grundbedürfnis im Rahmen der Lebensbetätigung findet."

7

Nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 08. November 2001 zurück. Das Bundessozialgericht habe entschieden, dass das Radfahren grundsätzlich nicht zu den Grundbedürfnissen gehöre, für deren Sicherstellung die gesetzliche Krankenversicherung einzutreten habe. Der Medizinische Dienst sei in seiner Stellungnahme zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin liege eine solch schwere Gehirnschädigung vor, dass eine bewusste Wahrnehmung des integrativen Charakters des Hilfsmittels durch das Kind nicht gegeben sei. Das Vermitteln von stimulierenden Bewegungen, Geschwindigkeit und Außenreiz könne auch durch einen Rollstuhl erfolgen. Die Verordnung eines Aktivrollstuhls sei zweckmäßig und ausreichend. Einen solchen Rollstuhl besitze die Klägerin. Damit könnten auch längere Strecken zurückgelegt werden.

8

Mit der am 06. Dezember 2001 erhobenen Klage macht die Mutter der Klägerin geltend, für gemeinsame Aktivitäten, auch mit anderen Bekannten und für gemeinsamen Fahrradtouren sei das Rollfiets sehr wichtig. Außerdem tue sie dann etwas für ihre Rückenmuskulatur, um sich gesund zu erhalten.

9

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 24 Juli 2001 und den Widerspruchsbescheid vom 08. November 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ein Rollfiets zur Verfügung zu stellen.

10

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

11

Sie hält die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Kassenakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben worden und daher zulässig. In der Sache konnte sie jedoch keinen Erfolg haben, da der Klägerin kein Anspruch auf Lieferung eines Rollfiets zusteht. Für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben mag ein Rollfiets durchaus von Vorteil sein. Die gesetzliche Krankenversicherung ist aber nur für einen Basisausgleich zuständig und nicht für eine allgemeine Gleichstellung von behinderten und nichtbehinderten Menschen im gesellschaftlichen Leben. Insbesondere das Radfahren gehört grundsätzlich nicht zu den Lebensbetätigungen, für die die gesetzliche Krankenversicherung einzustehen hat.

14

So hat das Bundessozialgericht im Urteil von 16. September 1999, Aktenzeichen B 3 KR 9/98 ausgeführt, das Grundbedürfnis der Erschließung eines "gewissen körperlichen Freiraums" habe die Rechtsprechung nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden verstanden. Das Radfahren gehöre zwar in breiten Bevölkerungsschichten zum normalen Lebensstandart; existenznotwendig sei die Möglichkeit, ein Fahrrad zu benutzen, hingegen nicht. Wenn es die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sei, dem durch eine Krankheit oder Behinderung beeinträchtigten Menschen die eigenständige und unabhängige Erfüllung seiner vitalen Lebensbedürfnisse zu ermöglichen, könne ihre Leistungspflicht nicht an die übliche Nutzung eines Fahrrades anknüpfen und dazu führen, es für den Behinderten nutzbar zu machen oder eine dem Radfahren vergleichbare Fortbewegungsmöglichkeit mit dem Tandem zu eröffnen.

15

Die grundlegenden Organfunktionen der Beine, um deren Ausfall es gehe, seien das Gehen und Stehen. Diese Funktionen seien beim Gehbehinderten im Rahmen des technisch machbaren und wirtschaftlich vertretbaren, unter anderem durch Hilfsmittel, ganz oder teilweise he zustellen oder zu ersetzen, nicht hingegen die Fähigkeit, mittels der Beine ein schnelleres und bequemeres Fortbewegungsmittel zu betreiben. Der Wunsch, sich mit Hilfe des Tandems wie ein Radfahrer zu bewegen und zum Beispiel Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen, die damit verbundene Raumerfahrung, das Umwelterlebnis, das Geschwindigkeitsempfinden, Gleichgewichtsgefühl und sonstiges positives Erleben zähle nicht mehr zu den Grundbedürfnissen, wenn die Fortbewegung im Nahbereich anderweitig sichergestellt sei.

16

Bei der Klägerin ist die Bewegung im Nahbereich durch den Aktivrollstuhl, der von ihrer Mutter geschoben werden kann, sichergestellt. Für weitere Ausflüge, die nicht das Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung betreffen, steht der Pkw der Mutter zur Verfügung. Die Integration mit gleichaltrigen behinderten Kindern ist durch den Besuch des heilpädagogischen Kindergartens gewährleistet.

17

Wenn die Mutter der Klägerin mit Bekannten weitere Fahrradausflüge machen will, so handelt es sich hier nicht mehr um einen Basisausgleich der Behinderung, sondern um die soziale Integration. Hierfür ist nicht die Krankenkasse, sondern das Sozialamt zuständig.

18

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.