Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 27.09.2002, Az.: S 14 P 8/02

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
27.09.2002
Aktenzeichen
S 14 P 8/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 35834
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOSNAB:2002:0927.S14P8.02.0A

Tenor:

  1. 1. Der Bescheid der Beklagten vom 04. Oktober 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 30. Januar 2002 wird aufgehoben.

    2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin weiterhin ein Anspruch auf Zahlung eines Pflegegeldes aus der Sozialen Pflegeversicherung gem. § 37 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) nach Pflegestufe 1 zusteht.

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Bei der 1927 geborenen Klägerin besteht seit Geburt eine Hüftdysplasie. Wegen zunehmender Beschwerden waren im Jahre 1974 beiderseits Hüftgelenkstotalendoprothesen implantiert worden, ein Stielbruch machte sodann Ende März 1999 einen Wechsel der rechtsseitigen Endoprothese erforderlich. Im Anschluss an die hiernach in der Zeit vom 05. Mai bis 31. Mai 1999 erfolgte Anschlussheilbehandlung im ... Hospital wurde der Klägerin ab 01. Juni 1999 Pflegegeld aus der Sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe 1 bewilligt.

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Grundlage dieser Bewilligung bildete ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) - Beratungsstelle Nordhorn -, welches von der Pflegefachkraft .... aufgrund einer häuslichen Untersuchung vom 23 August 1999 erstattet worden war; darin war der Grundpflegebedarf der Klägerin für Hilfeleistungen bei der Körperpflege sowie im Rahmen der Mobilität mit insgesamt 49 Minuten pro Tag beziffert und wegen der grenzwertigen Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen deren Zuordnung zu der Pflegestufe 1 empfohlen worden.

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Die vom Gutachter außerdem empfohlene Überprüfung der Pflegesituation fand im Rahmen einer neuerlichen MDKN-Begutachtung am 05. September 2001 statt - und zwar wiederum durch die Pflegefachkraft ... . In dem am 14 September 2001 freigegebenen Gutachten kam Herr R. nunmehr zu dem Ergebnis, dass sich der Grundpflegebedarf der Klägerin nur noch auf insgesamt 17 Minuten im Tagesdurchschnitt belaufe, somit seien die Voraussetzungen für eine Einstufung in die Pflegestufe 1 nicht mehr gegeben.

5

Gemäß dieser Beurteilung sowie nach Einholung einer ergänzenden - nach Aktenlage verfassten - gutachtlichen Stellungnahme des Arztes ... vom 28. September 2001 verfügte die Beklagte durch Bescheid vom 04. Oktober 2001 die Einstellung der Pflegegeldzahlung mit Wirkung zum 31. Oktober 2001.

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Den dagegen erhobenen Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten durch Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2002 zurück.

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Gegen diese Bescheide richtet sich die am 18. Februar 2002 vor dem erkennenden Gericht erhobene Klage.

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Die Klägerin, die in der mündlichen Verhandlung weder erschienen noch vertreten worden ist, beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

9

den Bescheid der Beklagten vom 04 Oktober 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2002 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Sie hält die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

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Das Gericht hat im vorbereitenden Verfahren zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts zunächst einen Befundbericht des Facharztes für Orthopädie Dr O. Bad Bentheim, angefordert. Danach hat es gemäß Beschluss vom 23. Mai 2002 Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von der Fachärztin für Innere Medizin und Radiologie - Sozialmedizin - Dr. L. Sozialmedizinischer Dienst der Bundesknappschaft, Untersuchungs- und Begutachtungsstelle Ibbenbüren. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Bericht vom 08. Mai 2002 sowie auf das nach häuslicher Untersuchung erstattete Gutachten vom 12. Juni 2002 Bezug genommen.

13

Außer den Gerichtsakten haben der Kammer die die Klägerin betreffenden Pflegeakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Akten und Beiakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die fristgerecht erhobenen Klage ist zulässig und auch begründet. Denn der angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 04. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2002 hält - aus rechtlichen Erwägungen - einer gerichtlichen Überprüfung nicht stand und war daher aufzuheben.

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Als Ermächtigungsnorm für die Vorgehensweise der Beklagten kommt allein § 48 Abs. 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB X) in Frage. Denn das SGB XI enthält keine Regelung, wonach Pflegesach- bzw. -geldleistungen befristet bewilligt werden dürfen; insofern hat der in Bewilligungsbescheiden häufig vorzufindende Hinweise auf in Zukunft zu erwartende Wiederholungsbegutachtungen lediglich Ordnungsfunktion für die Pflegekassen. Rechtliche Außenwirkung gegenüber dem Versicherten entfaltet diese Anmerkung nicht, so dass sich die Änderung eines Bewilligungsbescheides an den gesetzlichen Erfordernissen des § 48 Abs. 1 SGB X messen lassen muss.

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Hiernach ist ein Bescheid aufzuheben und der Anspruch entsprechend neu festzustellen, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bescheides vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann auf einer Besserung oder Verschlimmerung des Behinderungs- und Pflegezustandes beruhen. Wesentlich sind alle Änderungen, die dazu führen, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen eine entsprechende Regelung nicht hätte treffen dürfen (BSGE 59, 111, 112; BSG SozRecht 3 - 1300 § 48 SGB X Nr. 48; Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen, Breithaupt 2000, 655, 656). Damit richtet sich die Feststellung einer wesentlichen Änderung nach den materiellen Anspruchsvoraussetzungen.

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Haben sich also die entscheidungserheblichen Gegebenheiten in der einen oder anderen Richtung weiterentwickelt, so darf in derjenigen Richtung und dem Ausmaße, in dem sich die dem Bescheid zugrunde liegende Sachlage gewandelt hat, die vorangegangene Entscheidung geändert werden.

18

§ 48 Abs. 1 SGB X bietet indessen keine Handhabe zur Korrektur fehlerhafter Vorentscheidungen; insofern sind Vorstellungen, von denen sich die Verwaltungsbehörde bei ihrer damaligen Entscheidung hat leiten lassen und die nach ihrer jetzigen Einschätzung mit der Realität nicht voll übereinstimmen, unbeachtlich (BSG, SozRecht 3100 § 62 Bundesversorgungsgesetz - BVG - Nr. 16; BSGE 7, 8, 12; 13, 89,90; 19, 77,78 f.). Dementsprechend ist eine Änderung in dem pflegerelevanten Verhältnissen nicht anzunehmen, wenn lediglich eine andere ärztliche Beurteilung oder eine veränderte Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei gleichem medizinischen Sachverhalt vorliegt (vgl. BSGE 6, 25, 27 f.; 8, 241, 244; so jetzt auch speziell für den Bereich der Sozialen Pflegeversicherung BSG, Urteil vom 11. April 2002 - B 3 P 8/01 -). Unter diesen Umständen besteht nur dann eine sachliche Rechtfertigung zur Neubescheidung nach § 48 SGB X, wenn die sichere Erkenntnis gewonnen werden kann, dass seit Erteilung der früheren Bescheide tatsächlich eine wesentliche Änderung eingetreten ist, und wenn mit ebensolcher Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass der im Zeitpunkt der beabsichtigten Erteilung eines Neufeststellungsbescheides bestehende Zustand nicht schon bei Erteilung der früheren Bescheide bestanden hat (Urteile der erkennenden Kammer vom 26. September 1997 - S 14 P 82/96 -; vom 15. Mai 1998 - S 14 P 65/97 -; vom 30. Juni 1999 -S 14 P 54/97 -; vom 29. Juni 2000 - S 14 P 68/98 - sowie vom 17. November 2000 - S 14 P 35/00-).

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Unter Beachtung dieser rechtlichen Vorgaben war hier für eine Neufeststellung des Anspruchs auf Pflegegeld kein Raum. Dies steht zur Überzeugung der erkennenden Kammer vor allem aufgrund der gutachtlichen Begutachtung der gerichtlichen Sachverständigen Dr. L. vom 12. Juni 2002 fest. In dieser Beurteilung geht die Gerichtssachverständigen mit Recht davon aus, dass die gesetzlichen Vorschriften eine nicht nur vorübergehende und somit eine über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten sich erstreckende Gesundheitsbeeinträchtigung und eine daraus abzuleitende Pflegebedürftigkeit voraussetzen und folglich bei abklingenden Gesundheitsstörungen nur derjenige Status Berücksichtigung finden kann, der dem über 6 Monate hinaus verbliebenen Schaden respektive Hilfebedarf entspricht. Unter dieser Prämisse zeigt der Vergleich des Pflegestatus, wie er sich im Zeitpunkt des Entziehungsbescheides vom 04. Oktober 2001 dargeboten hat, mit den medizinisch-pflegerischen Verhältnissen, wie sie zum Zeitpunkt der Leistungsbewilligung im September 1999 geherrscht hatten, keine signifikanten Unterschiede auf. Legt man die neueren - weitgehend in Einklang stehenden - gutachterlichen Feststellungen des MDKN einerseits und der Gerichtssachverständigen Dr. L. andererseits zugrunde, so ist die Klägerin wegen der fortbestehenden Bewegungseinschränkungen in beiden Hüftgelenken lediglich in begrenztem Maße im grundpflegerischen Bereich auf Beistandleistungen in Form von Teilhilfe beim Duschen (bzw. alternativ bei der Ganzkörperwäsche) sowie beim An- und Ausziehen von Kleidungsstücken unterhalb der Gürtellinie angewiesen. Den dafür benötigten Zeitaufwand schätzt die gerichtliche Sachverständige Dr. L. mit insgesamt 24 Minuten im Tagesdurchschnitt ein und weicht demnach von der restriktiveren Bewertung der MDKN-Pflegefachkraft R. vom 05./14. September 2001 (zu Gunsten der Klägerin) um 7 Minuten ab.

20

Während damit die zeitlichen Differenzen nur knapp ausfallen, ergeben sich in Bezug auf die Einschätzung des postoperativen Hilfebedarfs im Jahre 1999 erhebliche Diskrepanzen, welche speziell den Bereich der Körperpflege betreffen: denn die gerichtliche Sachverständige Dr. L. veranschlagt den damaligen klägerischen Grundpflegebedarf bei ihrer retrospektiven Beurteilung diesbezüglich im Maximum mit bloß 27 Minuten pro Tag und unterscheidet sich damit von der MDKN-Beurteilung des Herrn R. vom, 23.730. August 1999 (die diesbezüglich für Beistandsleitungen bei der Körperwäsche 15 Minuten sowie für Hilfebedarf bei der Darm- und Blasenentleerung 27 Minuten - insgesamt 42 Minuten - pro Tag in Ansatz bringt) um 15 Minuten.

21

Was nun die kritische Würdigung der vorstehend aufstehend aufgezeigten Diskrepanzen angeht, so vermag die Beklagte mit ihrem Argument, dass das Erstgutachten der Pflegefachkraft R. vom 23./30. August 1999 mehr Authentizität aufweise und die Vermutung der Richtigkeit in sich trage, kein Gehör zu finden. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die MDKN-Beurteilung aus dem Jahre 1999 den streitbefangenen Sachverhalt nicht angemessen bewertet und für die im Endeffekt deutliche zeitliche Diskrepanz zwischen Erst- und Zweitbegutachtung von 32 Minuten im Tagesdurchschnitt keine plausible Erklärung geliefert hat. Insofern muß Beachtung finden, dass sich die Unterschiede nahezu ausschließlich auf den Komplex "Darm- und Blasenentleerung" beziehen In diesem Zusammenhang finden sich - wie die Gerichtssachverständigen Dr. L. mit Recht hervorhebt - in den gutachtlichen Aussagen des Herrn R. Unstimmigkeiten dergestalt, dass einerseits bei der Beschreibung der Fähigkeiten hinsichtlich der Aktivitäten des täglichen Lebens die Funktion "Ausscheiden können" unter Gliederungspunkt 4.3.7 mit "teilweise unselbständig" beurteilt wird, wohingegen andererseits die Bestimmung der Pflegebedürftigkeit unter Gliederungspunkt 5.1 auf der Annahme einer kompletten Unselbständigkeit und eines dadurch bedingten Angewiesenseins auf umfassende Hilfeleistung im Sinne der vollständigen Übernahme der Verrichtungen beim Wasserlassen, Stuhlgang sowie Richten der Kleidung basiert.

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Letzteres ist bei ständiger Würdigung der pflegebegründenden Umstände mit der Realität' nicht in Einklang zu bringen.

23

Diesbezüglich muß einerseits Berücksichtigung finden, dass die Klägerin im Bereich der oberen Extremitäten keinerlei Funktionseinschränkungen aufweist, und andererseits bedacht werden, dass die Klägerin ausweislich der von ihr überreichten Computerausdrucke seit dem 08. Juni 1999 u.a. mit einer Toilettensitzerhöhung bzw. einem Toilettenstützgestell zwecks Erleichterung der Verrichtung "Blasen- und Darmentleerung" ausgerüstet ist. Bezieht man in die Überlegungen schließlich den Umstand mit ein, dass die Klägerin gemäß den Beobachtungen des behandelnden Orthopäden Dr. O. anlässlich einer Konsiliaruntersuchung vom 20. April 2000 - ca. 1 Jahr nach erfolgtem Austausch der Totalendoprothese rechts - trotz der beschriebenen Bewegungseinbußen beider Hüftgelenke (Einschränkung der Beugefähigkeit auf 90° bzw. 80°) "gut zurecht kommt", so erscheint nachvollziehbar, dass diese für ein gewisses zeitliches Intervall vorübergehend noch in stärkerem Maße auf Hilfe auch bei den Toilettengängen angewiesen war, bei Beachtung der gesetzlichen Tatsbestandsmerksmale, die die Bewertung des Dauerzustandes erfordern, läßt sich indessen bei realitätsnaher retrospektiver Beurteilung lediglich annehmen, dass seinerzeit noch ein geringfügiger Hilfebedarf im Sinne der Teilübernahme sowie beim Richten der Bekleidung vorhanden war, welcher analog der gutachtlichen Einschätzung der gerichtlichen Sachverständigen Dr. L. pro Verrichtung jeweils mit maximal 1 Minute bemessen werden kann. Unter der Annahme von insgesamt 6 Toilettengängen pro Tag reduziert sich demgemäß der notwendige Hilfebedarf auf 12 Minuten und weicht folglich von der Bewertung des MDKN-Gutachters R. deutlich um 15 Minuten ab.

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Ist nach alledem zu konstatieren, dass die Beklagte den ihr obliegenden Nachweis einer nachhaltigen Änderung im Sinne einer deutlichen Besserung der Pflegesituation der Klägerin gemäß § 48 SGB X schuldig geblieben ist, so mußte der Anfechtungsklage im vollen Umfang stattgegeben werden.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

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Rechtsmittelbelehrung

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