Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 09.06.1998, Az.: VII 623/96 Ki

Kindergeldberechtigung der Pflegeeltern, wenn sie neben staatlichen Unterhaltszahlungen für die Pflegekinder weiter erhebliche staatliche Zahlungen für geleistete Erziehungsarbeit empfangen; Erfüllung des Unterhaltserfordernisses; Vorrang des Pflegekindschaftsverhältnisses vor anderen Kindschaftsverhältnissen

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
09.06.1998
Aktenzeichen
VII 623/96 Ki
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 18621
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1998:0609.VII623.96KI.0A

Verfahrensgegenstand

Kindergeld für Pflegekinder

Amtlicher Leitsatz

Eigener hinreichender Unterhaltsbeitrag (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG) und damit Kindergeldberechtigung der Pflegeeltern kann auch dann vorliegen, wenn sie neben staatlichen Unterhaltszahlungen für die Pflegekinder weiter erhebliche staatliche Zahlungen für geleistete Erziehungsarbeit empfangen.

In dem Rechtsstreit
hat der VII. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 9. Juni 1998...
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Kindergeld-Änderungsbescheid vom 22. Juli 1996 in der Fassung des Einspruchsbescheids vom 17. Oktober 1996 wird aufgehoben.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt der beklagte Landkreis.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der beklagte Landkreis darf die Zwangsvollstreckung des Klägers wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollsteckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kl als Pflegevater von drei Pflegekindern kindergeldberechtigt ist.

2

Der Kl ist als Sozialarbeiter Angehöriger desöffentlichen Dienstes. Er beantragte im Januar 1996 Kindergeld für die drei Pflegekinder K, N und J Sch. Daraufhin erhielt der Kl vom 1. Februar 1996 bis 30. April 1996 für J monatlich 200 DM, für N monatlich 300 DM und für K monatlich 350 DM Kindergeld. Nachdem der beklagte Landkreis im April 1996 den Umfang der Pflegegeldzahlungen (für J monatlich 2.273 DM; 836 DM Unterhaltsbeitrag und 1.437 DM Erziehungsbeitrag/für N monatlich 2.143 DM; 706 DM Unterhaltsbeitrag und 1.437 DM Erziehungsbeitrag/für K monatlich 2.143 DM; 706 DM Unterhaltsbeitrag und 1.437 DMErziehungsbeitrag) erfahren hatte, hob er mit Bescheid vom 22. Juli 1996 die Kindergeldfestsetzung auf; er forderte das bereits gezahlte Kindergeld in Höhe von 2.550 DM zurück, weil der Kl das Unterhaltserfordernis des § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG), wonach die Pflegeeltern das Pflegekind mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf dessen Kosten zu unterhalten habe, nicht erfülle.

3

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhebt der Kl Klage und trägt u.a. vor: Die im Rahmen einer Fremdplazierung eines Kindes durch das Jugendamt an die Pflegeeltern gezahlten Leistungen nenne man Pflegegeld. Dieses Pflegegeld setze sich aus einem Betrag, der der unmittelbaren Sicherung des Lebensbedarfes des Kindes diene (Pflegesatz oder Unterhaltsbeitrag) und aus einem Erziehungsbeitrag zusammen. Der Pflegesatz sei analog zu den als "HLU" bezeichneten Leistungen des Sozialamtes zu sehen. Bei dem Erziehungsbeitrag handele es sich um den finanziellen Ausgleich der Betreuungs- und Erziehungsleistung der Pflegeeltern, also deren pädagogische Arbeit und somit um Eigenmittel der Pflegeeltern. Es könne daher dieser Erziehungsbeitrag nicht als vom Jugendamtfür den Unterhalt der Pflegekinder gezahlter Betrag gewertet werden. Allgemein unstrittig sei, daß der Pflegesatz allein nicht für die Versorgung und Erfüllung der Bedürfnisse der Pflegekinder ausreiche. Es werde also regelmäßig zusätzlich zum Pflegesatz von Pflegeeltern ein Beitrag zum Unterhalt der Pflegekinder geleistet. Dies geschehe aus eigenen Mitteln, nämlich aus dem Erziehungsbeitrag und möglicherweise aus anderem Einkommen. Damit sei deutlich, daß Pflegeeltern eindeutig zum Unterhalt der Pflegekinder - und nicht einmal unwesentlich - aus eigenen Mittel beitrügen, einerlei, ob sie nun dazu gesetzlich verpflichtet seien oder nicht. Im übrigen - so der Kl - handele es sich bei seiner Pflegefamilie nicht um eineindividuell zwischen Jugendamt und ihm ausgehandelte Unterbringungsvariante, sondern um eine nach festen Vorgaben von den zuständigen Behörden geschaffene und genehmigte Form der Pflegefamilie (ehemals: Hamburger Modell). Nach der Argumentation des beklagten Landkreises dürften alle sozialpädagogischen Pflegefamilien keinen Anspruch auf Kindergeld haben. Da diese - wie auch andere, mit der klägerischen Pflegefamilie vergleichbaren Pflegefamiliengleichwohl Kindergeld erhielten, sei nicht nachvollziehbar, warum ihm das Kindergeld verweigert werde. Zwar erhalte er dafür eine Ausgleichszahlung in gleicher Höhe, dennoch lege er großen Wert darauf, Kindergeld zu bekommen. Denn an die Kindergeldfestsetzung sei eine Reihe von weiteren sozialen Maßnahmen geknüpft.

4

Der Kl beantragt,

den Kindergeld-Änderungsbescheid vom 22. Juli 1996 in der Fassung des Einspruchsbescheids vom 17. Oktober 1996 aufzuheben.

5

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

6

Der beklagte Landkreis vertritt weiterhin die Auffassung, daß der Kl das Unterhaltserfordernis des § 32 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht erfüllt. Nach der gesetzlichen Vorschrift müßten die Pflegeeltern die Pflegekinder zu einem nicht unwesentlichen Teil auf ihre Kosten unterhalten. Dieses Unterhaltserfordernis könne in der Praxis dann als erfüllt angesehen werden, wenn das Pflegegeld und/oder andere Mittel, die den Pflegeeltern für den Unterhalt einschließlich der Erziehung der Kinder zuflössen, insgesamt den in Betracht kommenden Pflegegeldsatz des zuständigen Jugendamtes nichtübersteigen (mit Hinweis auf die Dienstanweisung "DA 63.2.2.5 Unterhaltserfordernis", BStBl I 1996, 723, 741).

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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Verhandlungsprotokoll verwiesen.

Entscheidungsgründe

8

Die Klage hat Erfolg.

9

Der angefochtene Kindergeld-Änderungsbescheid ist rechtswidrig und war antragsgemäß aufzuheben, denn der Kl ist kindergeldberechtigt.

10

Nach § 70 Abs. 3 EStG können materielle Fehler der letzten Kindergeldfestsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden kann. Als Kinder, für die ein Anspruch auf Kindergeld geltend gemacht werden kann, werden u.a. gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 EStG in den Haushalt aufgenommene Pflegekinder, die von den Pflegeeltern mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf deren Kosten unterhalten werden (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG), berücksichtigt. Nach§ 32 Abs. 2 EStG hat das Pflegekindschaftsverhältnis Vorrang vor anderen Kindschaftsverhältnissen.

11

Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, denn der Kl ist kindergeldberechtigt, weil er die genannten Voraussetzungen für die in seinen Haushalt aufgenommenen und von ihm hinreichend unterhaltenen Pflegekinder erfüllt. Zwar erhält der Kl neben Unterhaltsbeiträgen für drei Pflegekinder nichtunerhebliche Erziehungsbeiträge und empfängt mithin ansehnliche Pflegegeldbeträge im weiteren Sinne. Gleichwohl geht das Gericht davon aus, daß der Kl seine Pflegekinder aus eigenen Mitteln mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil unterhält und damit das Unterhaltserfordernis des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG erfüllt.

12

Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, der der Senat folgt, sieht als nicht unwesentlichen Unterhaltsteil 20 v.H. der gesamten Unterhaltskosten des Kindes an; der in diesem Sinne hinreichende eigene Unterhaltsbeitrag wird vom Bundesfinanzhof im Regelfall dann angenommen, wenn das Kind im Haushalt des Pflegeelternteils lebt und von diesem mindestens teilweise betreut wird (BFH-Urteil vom 12. Juni 1991 III R 108/89 BFHE 165, 201, BStBl II 1992, 20). Etwas anderes könne nur dann gelten, wenn wie etwa bei der Kostpflege die Pflegeeltern einerheblich über den eigentlichen Unterhaltskosten des Kindes liegendes Entgelt erhalten würden und sie für die Unterbringung und ihre Betreuungsdienste nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten entlohnt würden (so BFH BStBl II 1992, 20, 21).

13

In Anwendung dieser Grundsätze hat der Kl einen nicht unwesentlichen Teil der Unterhaltskosten seiner Pflegekinder getragen. Denn einmal sind die vom Kl für die Pflegekinder bezogenen Erziehungsbeiträge (Pflegegeld nur im weiteren Sinne) als eigene Mittel des Kl, als eigenes Einkommen für geleistete Erziehungsarbeit, einzuordnen, und nicht etwa als weitere Unterhaltszuschüsse für die Pflegekinder von dritter Seite (vgl. auch BFH-Urteil vom 22. Juli 1988 III R 253/83, BFHE 154, 111, BStBl II 1988, 830 zum Unterhaltsbegriff im Rahmen des § 33 a Abs. 1 EStG; Glanegger in Schmidt, Kommentar zum EStG, 17. Auflage 1998, § 32 Anm. 25). Da des weiteren marktwirtschaftliche Gesichtspunkte bei der Entlohnung des Kl als Pflegevater offenkundig nicht vorliegen, kann das Gericht davon ausgehen, daß der Kl die Pflegekinder mindestens teilweise betreute und damit annehmen, daß der Kl mindestens 20 v.H. der gesamten Unterhaltskosten der Pflegekinder getragen hatte.

14

Der beklagte Landkreis kann sich auch nicht erfolgreich auf entgegenstehende Dienstanweisungen berufen. Denn zum einen ist der Senat an Verwaltungsanweisungen nicht gebunden. Zum zweiten steht die vom beklagten Landkreis herangezogene Anweisung dem hier gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Nach der Dienstanweisung 63.2.2.5 (BStBl I 1996, 723, 741) ist nämlich das Unterhaltserfordernis des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG - selbst bei erhöhten Pflegegeldzahlungen - nur dann nicht erfüllt, wenn durch das Entgelt die Unterhaltskosten des Kindes abgedeckt werden und die Pflegeperson für die Unterbringung und ihre Betreuungsdienste nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten entlohntwird (Kostenpflege). Bei einer Betreuung von bis zum fünf Kindern kann - so eine weitere Dienstanweisung - ohne nähere Prüfung unterstellt werden, daß die Pflege nicht erwerbsmäßig betrieben wird (Bundesminister der Finanzen vom 7. Februar 1990 IV B 1 - S 2121 - 5/90).

15

Nach alledem war der angefochtene Kindergeld-Änderungsbescheid des beklagten Landkreises aufzuheben.

16

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozeßordnung.