Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.06.1998, Az.: XIII 170/95

Neutralisierung aufgedeckter stiller Reserven durch deren Abzug von den Anschaffungskosten eines Ersatzwirtschaftsguts; Bildung von Rücklagen wegen Ersatzbeschaffung bei Schadenseintritt durch Elementarereignisse oder bei vom Steuerpflichtigen nicht gewollten Zufallsereignissen; Beschädigung eines zum Betriebsvermögen gehörenden Pkws durch einen Verkehrsunfall; Voraussetzungen für das Vorliegen höherer Gewalt

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
19.06.1998
Aktenzeichen
XIII 170/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 18623
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1998:0619.XIII170.95.0A

Fundstelle

  • DStRE 1999, 580-581 (Volltext mit amtl. LS)

Verfahrensgegenstand

Einkommensteuer 1989 und 1990

Amtlicher Leitsatz

Rücklage wegen Ersatzbeschaffung: Die Neutralisierung aufgedeckter stiller Reserven durch deren Abzug von den Anschaffungskosten eines Ersatzwirtschaftsguts oder Bildung einer Rücklage wegen Ersatzbeschaffung ist nicht nur zulässig bei Schadenseintritt durch Elementarereignisse (z.B. Brand, Sturm, Überschwemmung), sondern auch bei vom Steuerpflichtigen nicht gewollten Zufallsereignissen (z.B. Diebstahl, Verkehrsunfall als unabwendbares Ereignis).

In dem Rechtsstreit
hat der XIII. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 19. Juni 1998,
an der mitgewirkt haben:
Vorsitzender Richter ... am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtlicher Richter ... Tischlermeister
ehrenamtliche Richterin ... Damenschneidermeisterin
für Recht erkannt:

Tenor:

Unter Änderung der Einkommensteuerbescheide 1989 und 1990 in der Gestalt des Einspruchsbescheids und der Änderungsbescheide, jeweils vom 29. März 1995, wird die Einkommensteuer 1989 auf 1.914 DM und die Einkommensteuer 1990 auf 1.205 DM festgesetzt.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der an die Kläger zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit leisten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die in einem zum Betriebsvermögen gehörenden Pkw enthaltenen stillen Reserven nach dessen unfallbedingtem Ausscheiden aus dem Betriebsvermögen erfolgsneutral im Wege der Bildung einer Rücklage für Ersatzbeschaffung bzw. des Abzugs von den Anschaffungskosten eines Ersatzwirtschaftsguts zu behandeln sind.

2

Der Kläger (Kl.) ist Inhaber eines forst- und landwirtschaftlichen Betriebes. Der Gewinn wird gem. § 4 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) ermittelt. Im Wirtschaftsjahr 1989/90 wurde ein zum Betriebsvermögen gehörender Pkw durch einen Verkehrsunfall beschädigt. Der Pkw schied aus dem Betriebsvermögen aus. Ein anderer Verkehrsteilnehmer hatte den Unfall dadurch schuldhaft verursacht, dass er auf den geparkten Pkw des Kl. aufgefahren war.

3

Der Buchwert des Pkw betrug am Tage des Unfalls 6.749,99 DM. Die von dem Unfallgegner geleistete Entschädigung belief sich auf 16.739,58 DM. Daraus ergaben sich aus außerordentlicher Ertrag aufzulösende stille Reserven in Höhe von 9.989,59 DM. Für den ausgeschiedenen Pkw wurde ein Ersatzwirtschaftsgut gegen Anschaffungskosten von 21.700 DM erworben.

4

Der Kl. beantragte unter Hinweis auf Abschn. 35 Einkommensteuerrichtlinien (EStR) die Bildung einer Rücklage wegen Ersatzbeschaffung bzw. den Abzug der aufzulösenden stillen Reserven vonden Anschaffungskosten des Ersatzwirtschaftsguts.

5

Der Beklagte (Finanzamt - FA) lehnte das ab und erließ aufgrund einer Außenprüfung wegen anderer nicht mehr streitiger Punkte geänderte Einkommensteuerbescheide 1989 und 1990, letztmals in der Gestalt der Änderungsbescheide und des Einspruchsbescheids vom 29. März 1995.

6

Dagegen richtet sich die Klage. Sie wird wie folgt begründet: Höhere Gewalt im Sinne der Rechtsprechung zur Rücklage wegen Ersatzbeschaffung liege auch vor, wenn ein Fahrzeug durch einenunverschuldeten Verkehrsunfall vernichtet oder beschädigt werde und dadurch ohne jedes Zutun des Steuerpflichtigen die stillen Reserven aufgedeckt würden. In solchen Fällen solle nicht ein Teil der Entschädigung weggesteuert werden, die für die Anschaffung oder Herstellung eines Ersatzwirtschaftsgutes benötigt würden. Das gelte auch bei einem unfallbedingten Ausscheiden eines Pkw aus dem Betriebsvermögen. Die nunmehr anders lautende Regelung in den EStR sei unzutreffend. Dies gelte um so mehr, als nach dem weiteren Inhalt dieser Richtlinien bei Diebstahl höhere Gewalt vorliegen soll. Weshalb stille Reserven bei Ausscheiden aus dem Betriebsvermögen bei Diebstahl nicht, wohl aber bei Vernichtung durch einen Verkehrsunfall aufgelöst werden müssten, sei mangels sachlicher Begründung nicht nachvollziehbar. Entscheidend sei die Frage, ob stille Reserven von der Besteuerung verschont werden sollen, wenn sie gegen den Willen des Steuerpflichtigen aufgedeckt werden und der Steuerpflichtige die zufließende Entschädigung für die Beschaffung eines Ersatzwirtschaftsguts benötige. Eine Differenzierung nach der Häufigkeit oder Seltenheit des schadenstiftenden Ereignisses sei nicht stichhaltig. Eher könne man danach unterscheiden, ob das ausgeschiedene Wirtschaftsgut und das angeschaffte Ersatzwirtschaftsgut betriebsnotwendig seien oder nicht.

7

Die Kl. beantragen,

unter Änderung der Einkommensteuerbescheide 1989 und 1990 inder Gestalt des Einspruchsbescheids und der Änderungsbescheide vom 29. März 1995 die Einkommensteuer 1989 auf 1.914 DM und die Einkommensteuer 1990 auf 1.206 DM festzusetzen, für den Fall ihres Unterliegens, die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

8

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen,

für den Fall seines Unterliegens, die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

9

Es hält dem Vorbringen unter Bezugnahme auf Abschn. 35 u.a. der EStR 1993 entgegen: Die Auslegung des Begriffs "höhere Gewalt"durch die Kl. gehe zu weit. Dazu gehörten Blitz- und Hagelschlag, Erdbeben und Explosion. In höchstrichterlicher Rechtsprechung seien auch andere Zufallschäden als höhere Gewalt angesehen worden, nämlich Unterschlagung, Raub, Diebstahl und der Abriss eines Gebäudes wegen erheblicher Baumängel. Dazu zählten aber nicht Verkehrsunfälle. Es gebe keinen Rechtssatz, dass jegliche Zufallsschäden die Bildung einer Rücklage wegen Ersatzbeschaffung rechtfertigten.

10

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze sowie der Einkommensteuer-Betriebsprüfungsakte der Kl. zur Steuernummer bei dem beklagten FA Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage hat antragsgemäß Erfolg.

12

Der Kl. war befugt, die durch das unfallbedingte Ausscheiden des Pkw und die erhaltene Entschädigung aufgedeckten stillen Reserven durch deren Abzug von den Anschaffungskosten des angeschafften Ersatzwirtschaftsguts zu neutralisieren. Denn bei vernünftiger Interpretation der von der Rechtsprechung in das Bilanzsteuerrecht eingeführten "Rücklage für Ersatzbeschaffung" wird auch der hier zu beurteilende Sachverhalt davon erfasst.

13

Aufgrund des Systems der steuerrechtlichen Gewinnermittlung nach Maßgabe der §§ 4 ff. EStG ist ein Gewinn, der dadurch entsteht,dass ein Wirtschaftsgut aus dem Betriebsvermögen gegen Erwerb einer über den Buchwert hinausgehenden Entschädigung oder eines Entschädigungsanspruchs ausscheidet, ausgewiesen und versteuert werden muss. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat Ausnahmen von dieser sich aus den Regeln der Gewinnermittlung durch Vermögensvergleich zwangsläufig sich ergebenden Rechtsfolge zugelassen (u.a.n. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 15. Mai 1975 IV R 138/70, BStBl II 1975, 692; 18. Sept. 1987 III R 254/84, BStBl II 1988, 330 m.w.N.). Diese Ausnahmen betreffen Fälle, in denen ein Wirtschaftsgut infolge höherer Gewalt oder infolge oder zur Vermeidung eines behördlichen Eingriffs gegen eine Entschädigung aus dem Betriebsvermögen ausscheidet und alsbald ein Ersatzwirtschaftsgut angeschafft wird. Die Gewinnrealisierung kann alsdann dadurch vermieden werden, dass die Anschaffungskosten des Ersatzwirtschaftsguts um einen Betrag in Höhe des beim Ausscheiden des Wirtschaftsguts entstandenen Buchgewinns gekürzt werden oder dass, sofern das Ersatzwirtschaftsgut in demselben Wirtschaftsjahr angeschafft wird, in derselben Höhe zunächst eine Rücklage gebildet wird, die im Zeitpunkt der Anschaffung des Ersatzwirtschaftsguts aufzulösen und von den Anschaffungskosten des Letzteren abzusetzen ist. Die Rechtsprechung hat dieses Ergebnis bei wirtschaftlich vernünftiger Betrachtung aus dem Sinn und Zweck der steuerrechtlichen Gewinnermittlung gefolgert.

14

Es handelt sich dabei nicht um einen Steuerverzicht, sondern um eine in ein materiell-rechtliches Gewand gekleidete zinslose Steuerstundung, weil in der Folgezeit durch die niedrigeren Anschaffungskosten des Ersatzwirtschaftsguts die AfA entsprechend geringer und folglich der Gewinn entsprechend höher ausfallen. Die Finanzverwaltungsbehörden sind dieser Rechtsprechung dem Grunde nach gefolgt, wie sichaus Abschn. 35 EStR bzw. R 35 des "amtlichen Handbuchs" ergibt.

15

Die Beteiligten im Streitfall weisen zutreffend darauf hin, dass nach der Rechtsprechung recht unterschiedliche Sachverhalte dieser Steuerstundung teilhaftig geworden sind. Die Rechtsprechung selbst hat eingeräumt, dass die Frage offen ist, was unter höherer Gewalt im Sinne der Rücklage für Ersatzbeschaffungen zu verstehen ist, insbesondere, ob die Ursache für den Schadenseintritt in Elementarereignissen bestehen muss oder ob auch vom Steuerpflichtigen nicht gewollte Zufallsereignisse ausreichen (BFH-Urteil vom 18. Sept. 1987 III R 254/84 sowie die Zusammenstellung jeweils gegensätzlicher Rechtssprüche im BFH-Urteil vom 15. Mai 1975 IV R 138/70). Die Finanzverwaltungsbehörden lassen Diebstahl sowie von dritter Seite vorsätzlich herbeigeführten Brand eines Wirtschaftsguts als Fall höherer Gewalt in diesem Sinne gelten, nicht aber die Beschädigung durch einen Verkehrsunfall. Dem kann jedenfalls in Fällen, in denen die Beschädigung des Wirtschaftsguts wie im Streitfall durch ein für den Geschädigten unabwendbares Ereignis im zivilrechtlichen Sinne verursacht worden ist, nicht gefolgt werden. Ob ein Wirtschaftsgut durch Diebstahl oder wie hier durch ein Ereignis aus dem Betriebsvermögen ausscheidet, das für den Geschädigten unabwendbar ist, kann keinen Unterschied machen. Jedenfalls ist die mehr oder weniger große Häufigkeit des schädigenden Ereignisses im täglichen Leben kein geeignetes Abgrenzungskriterium. Ob das von dem Klägervertreter vorgeschlagene Kriterium der Betriebsnotwendigkeit des Wirtschaftsguts die Rechtslage durchsichtiger machen würde, mag dahinstehen.

16

Die Einkommensteuer für die Streitjahre war antragsgemäß nach Maßgabe der zutreffenden Berechnung der Kl. im Schriftsatz vom 11. Juni 1998 für 1989 auf 1.914 DM und für 1990 auf 1.206 DM festzusetzen.

17

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Finanzgerichtsordnung(FGO). Die übrigen Nebenentscheidungen beruhen auf§ 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 710, 711 Zivilprozessordnung.

18

Die Revision war im Hinblick auf die Ausführungen im BFH-Urteil vom 18. Sept. 1987 III R 254/84, BStBl II 1988, 330, 331, wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

19

Gegen dieses Urteil ist die Revision zugelassen worden.