Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 03.08.2010, Az.: 6 B 126/10

Betreuung; Härte

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
03.08.2010
Aktenzeichen
6 B 126/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 40911
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2010:0803.6B126.10.0A

Amtlicher Leitsatz

Ob wegen der Betreuungsbedürftigkeit eines schulpflichtigen Kindes eine unzumutbare Härte i. S. v. § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG vorliegt, richtet sich nach der tatsächlichen Ausgestaltung des von den Erziehungsberechtigten gewählten Betreuungsverhältnisses, der örtlichen Bindung und dem zeitlichen wie sachlichen Aufwand der Betreuungsperson für die Wahrnehmung schulischer und außerschulischer Belange.

Gründe

1

Der einstweilige Rechtsschutzantrag, mit dem die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet werden soll, die Antragstellerin vorläufig zum Besuch der E. -(Grund)Schule in F. zuzulassen, hat keinen Erfolg.

2

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes erlassen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen notwendig erscheint. Dazu muss der Antragsteller grundsätzlich glaubhaft machen, dass die gerichtliche Entscheidung eilbedürftig ist (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch besteht (Anordnungsanspruch). Besondere Anforderungen gelten für den Fall, dass die begehrte Anordnung die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen würde. Da die einstweilige Anordnung grundsätzlich nur zur Regelung eines vorläufigen Zustandes ausgesprochen werden darf, ist sie in diesen Fällen nur möglich, wenn sonst das Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt würde. So darf die Entscheidung in der Hauptsache ausnahmsweise vorweggenommen werden, wenn ein Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben würde und wenn es dem Antragsteller darüber hinaus schlechthin unzumutbar wäre, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (vgl. z. B. VG Braunschweig, B. v. 19.09.2008 - 6 B 198/08 -, www.dbovg.niedersachsen.de - im Folgenden: dbovg -; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Aufl., Rn. 190 ff.). Diese Anforderungen sind im Fall der Antragstellerin nicht erfüllt.

3

Der Eilantrag ist auf die Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet. Eine die Anforderungen an den Erlass einer einstweiligen Anordnung erhöhende Vorwegnahme der Hauptsache liegt schon dann vor, wenn die begehrte Entscheidung des Gerichts dem Antragsteller für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens die Rechtsposition vermitteln würde, die er in der Hauptsache anstrebt (vgl. Nds. OVG, B. v. 23.11.1999 - 13 M 3944/99 -, NVwZ-RR 2001, 241; Finkelnburg/ Dombert/Külpmann, a. a. O., Rn. 179 ff.). Dies ist hier der Fall. Die sechsjährige Antragstellerin begehrt mit dem Antrag die vorläufige Einschulung in eine andere Grundschule, als es nach der geltenden Schulbezirkssatzung der Stadt G. vorgesehen ist. Damit begehrt sie im Eilverfahren diejenige Rechtsposition, die sie im Hauptsachverfahren anstrebt (vgl. VG Braunschweig, B. v. 25.05.2010 - 6 B 53/10 -; Finkelnburg/Dombert/Külpmann: a. a. O., Rn. 1399).

4

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund, das heißt die Eilbedürftigkeit ihres Begehrens glaubhaft gemacht, da sie am 07.08.2010 eingeschult wird. Demgegenüber ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden. Unter Berücksichtigung des Vortrags der Antragstellerin und des Verwaltungsvorganges wird das Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben. Der Antragstellerin steht voraussichtlich kein Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gemäß § 63 Abs. 3 Satz 4 Niedersächsisches Schulgesetz (NSchG) gegenüber der Antragsgegnerin zu.

5

Soweit - wie im vorliegenden Fall - Schulbezirke festgelegt sind, haben Schülerinnen und Schüler grundsätzlich diejenige Schule zu besuchen, in deren Schulbezirk sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben (§ 63 Abs. 3 Satz 1 NSchG). Die in diesem Sinne für die Antragstellerin zuständige Schule ist die H. -(Grund)Schule in G. (vgl. § 1 Nr. 3 der Satzung der Stadt G. über die Festlegung von Schulbezirken vom 07.04.2008). Der Besuch einer anderen Schule kann nur gestattet werden, wenn der Besuch der zuständigen Schule für die Schülerin, den Schüler oder deren Familie eine unzumutbare Härte darstellen würde (§ 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG), oder wenn der Besuch der anderen Schule aus pädagogischen Gründen geboten erscheint (§ 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 NSchG).

6

Diese die Erfüllung der Schulpflicht betreffende Regelung lässt nach dem aus der Verschärfung der Gesetzesvorschrift im 6. Änderungsgesetz zum NSchG erkennbaren Willen des Gesetzgebers nur Ausnahmeentscheidungen zu, die sich an dem Sinn und Zweck dieser Regelungen ausrichten (LT-Drucksache 13/3635 S. 3; Sten. Ber. 7/9963, 7/9965). Die Befugnis des Schulträgers zu bestimmen, an welcher Schule die Schulpflicht zu erfüllen ist, schränkt die Grundrechte der Eltern und Schüler aus Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG in zulässiger Weise ein. Das vom Gesetzgeber grundsätzlich als vorrangig zu bewertende Interesse an einer sinnvollen Nutzung der mit öffentlichen Mitteln geschaffenen schulischen Einrichtungen steht dem Interesse des schulpflichtigen Kindes und seiner Eltern gegenüber, die nach ihren persönlichen Wünschen und familiären Gegebenheiten am besten entsprechende Schule besuchen zu können.

7

Nach Maßgabe dieser Grundsätze kann eine besondere individuelle Ausnahmesituation im Sinne des § 63 Abs. 3 NSchG nicht bereits dann angenommen werden, wenn aus der Sicht besorgter und um das Wohl ihres Kindes bemühter Eltern respektable Gründe dafür sprechen, den Schulbesuch in einer anderen Schule zu wünschen. Vielmehr liegt sie nur vor, wenn die Nachteile des Besuchs der zuständigen Pflichtschule auch mit Blick auf das vom Gesetzgeber vorrangig bewertete öffentliche Interesse an der Erfüllung der Schulbezirkseinteilung im Einzelfall wegen einer "unzumutbaren Härte" nicht hinnehmbar oder aus pädagogischen Gründen geboten ist (vgl. für alles Vorstehende: VG Braunschweig, B. v. 10.07.2003 - 6 B 174/03 -, dbovg). Bei der damit vorzunehmenden Interessenabwägung kann von Bedeutung sein, ob sich aus der berufsbedingten Belastung der Erziehungsberechtigten Umstände ergeben, die sich auf die Betreuungssituation des schulpflichtigen Kindes auswirken können. Zwar sind die Erziehungsberechtigten nicht gehalten, ihre Berufstätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihres Kindes einzuschränken oder gar aufzugeben, eine häusliche Betreuungskraft unter Aufwand der entsprechenden finanziellen Mittel zu beschäftigen oder unter vergleichbarem Einsatz finanzieller Mittel die vor- oder nachschulische Betreuung in einer sozialen öffentlichen Einrichtung sicherzustellen. Vielmehr ist die Auswahl der Betreuungspersonen und die Ausgestaltung des Betreuungsverhältnisses, wenn ein Grundschüler im Zusammenhang mit dem Schulbesuch betreuungsbedürftig ist, grundsätzlich Recht der Erziehungsberechtigten. Dies führt jedoch nicht dazu, dass allein der Umstand der Betreuungsbedürftigkeit eines schulpflichtigen Kindes neben dem Schulbesuch Auswahl und Zuständigkeit der in Betracht kommenden Schule bestimmt. Angesichts des Ausnahmecharakters der nach § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG zu erteilenden Genehmigung und der besonderen Situation, aufgrund der diese Genehmigung zu erteilen ist, ist vielmehr nach der tatsächlichen Ausgestaltung des von den Erziehungsberechtigten gewählten Betreuungsverhältnisses, der örtlichen Bindung und dem zeitlichen Umfang der Betreuung oder dem zeitlichen, wie sachlichen Aufwand zu urteilen, der für die Betreuungsperson mit der Wahrnehmung schulischer und außerschulischer Belange verbunden ist (vgl. für alles Vorstehende, Nds. OVG, B. v. 14.09.2007 - 2 ME 575/07 -, dbovg).

8

Soweit aufgrund der glaubhaft gemachten Tatsachen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO) im Rahmen des nur auf eine summarische Prüfung der Sachlage angelegten Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ersichtlich, ist eine für die Beschulung in der E. -Schule in F. sprechende Sachlage nicht gegeben.

9

Soweit sich die Antragstellerin auf ihre Betreuungsbedürftigkeit aufgrund der Teilzeitbeschäftigung ihrer allein sorgeberechtigten Mutter beruft, ist bereits nicht erkennbar, inwiefern der Besuch der zuständigen H. -Schule in G. gegenüber dem Besuch der E. -Schule in F. mit überwiegenden Nachteilen verbunden sein sollte. In Anbetracht der gegenüber der Antragstellung bei der Antragsgegnerin geänderten Situation stützt sich die Kammer insoweit maßgeblich auf die Angaben der Mutter der Antragstellerin in den im gerichtlichen Verfahren zuletzt übersandten Schriftsätzen. Dort wird für den Monat September 2010 ausgeführt, dass die Antragstellerin aufgrund der beschäftigungsbedingten Abwesenheit ihrer teilzeitbeschäftigten Mutter (20 Std. pro Woche im Wechsel an 2 und 3 Tagen je 8 Stunden) an insgesamt 11 Tagen von der Tagesmutter Frau I. (7 Tage: 4 x 5,5 Stunden, 3 x 1 Stunde) und ihrem Großvater (4 Tage) betreut wird. Aus der vorgelegten Aufstellung ergibt sich, dass die Betreuung an elf Tagen durch ihre Mutter erfolgen kann. Diese Angaben lassen sich nach Ansicht der Kammer mit geringen Abweichungen auch auf den Monat August 2010 oder die Folgemonate übertragen. Dementsprechend wurde aufgrund des vorübergehenden krankheitsbedingten Ausfalls der Großmutter als Betreuungsperson grundsätzlich eine Betreuung durch Frau I. an 6 Arbeitstagen und durch den Großvater an 4 Tagen vereinbart. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern der Besuch der H. -Schule in G. auf dieser Grundlage zu "kilometerweiten Umwegen" für die Antragstellerin führen sollte. Zwar ist richtig, dass die Entfernung von der in F. wohnenden Tagesmutter zur H. -Schule in G. nach den Entfernungsangaben des Routenplaners "Via Michelin", die die Kammer bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigt hat, 6,2 km beträgt. Demgegenüber sind die Wohnungen der Mutter und der Großeltern, in denen auf den Monat betrachtet öfter eine Betreuung stattfindet als bei der Tagesmutter, lediglich 3,7 km bzw. 1,5 km von dieser Schule entfernt. Würde die Antragstellerin die E. -Schule in F. besuchen, würde der Weg zur Tagesmutter zwar lediglich 650 m betragen. Jedoch müsste von dort zur Wohnung der Mutter ein Weg von 4,1 km und zur Wohnung der Großeltern ein Weg von 6,7 km zurückgelegt werden. Aufgrund dieser Situation ist nicht ersichtlich, inwiefern der Besuch der zuständigen Grundschule in G. bezogen auf die Betreuung einen erheblichen Nachteil darstellen sollte. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der dargestellten Betreuungssituation lediglich um eine vorübergehende Lösung handelt und dass dann, wenn die Großmutter nach ihrer Knieoperation, einer sich anschließenden Rehabilitation und weiteren Nachbehandlungen (nach Angaben der Antragstellerin ab August 2010 mindestens 7 Monate) wieder belastbar ist, die ursprünglich angedachte hälftige Aufteilung der Betreuungsleistungen zwischen Frau I. und den Großeltern erfolgen wird. Bezüglich der Entfernung der H. -Schule zum Wohnort der Tagesmutter ist anzumerken, dass eine Busverbindung zwischen der Grundschule und F. ohne die Erforderlichkeit des Umsteigens etc. existiert.

10

Auch die weiteren geltend gemachten Umstände begründen keine unzumutbare Härte beim Besuch der H. -Schule in G. im oben genannten Sinne. Soweit auf das bei der Antragstellerin diagnostizierte Asthma bronchiale verwiesen wird, ist eine Unzumutbarkeit des Schulbesuchs nicht glaubhaft gemacht worden. Nach den nicht bestrittenen Angaben der Antragsgegnerin ist der unzweifelhaft seit Sommer 2009 wegen Schimmelbildung gesperrte Werkraum der Schule inzwischen durch einen neuen Werkraum ersetzt worden. Dass auch andere Räume, insbesondere Klassenräume, von der Schimmelbildung aktuell betroffen wären oder der "Schimmel und die Ausdünstungen noch im Raum und im Mauerwerk vorhanden wären", ist nicht glaubhaft gemacht worden. Auch wenn sich die Antragstellerin aufgrund ihrer Erkrankung viel an der frischen Luft bewegen und mit dem Fahrrad zur Schule fahren soll, kann dies keine andere Entscheidung rechtfertigen. Es ist weder glaubhaft gemacht worden, dass der Weg zur H. -Schule tatsächlich gefährlicher ist als der entfernungsmäßig weitere, durch freies Gelände führende Weg nach F., noch dass Busfahrten aus gesundheitlichen Gründen nicht durchgeführt werden dürfen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Besuch der H. -Schule aufgrund von Äußerungen der Schulleiterin für die Antragstellerin auf Dauer unzumutbar sein könnte. Allein der Hinweis auf eine bedauernswerte Belastung des Schulstarts durch einen Rechtsstreit kann diese Beurteilung nicht rechtfertigen. Die Antragstellerin hat auch nicht dargelegt, dass es sich bei den in der Vergangenheit erteilten Ausnahmegenehmigungen für Schüler aus ihrem Wohnbereich um in allen wesentlichen Punkten vergleichbare Fälle handelt.

11

Der Antrag ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO zurückzuweisen.