Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 07.03.2011, Az.: L 4 KR 48/11 B ER
Umfang der Pflicht des Staates zur Bereitstellung von Leistungen außerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 07.03.2011
- Aktenzeichen
- L 4 KR 48/11 B ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 42378
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2011:0307.L4KR48.11B.ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - 29.12.2010 - AZ: S 3 KR 411/10 ER
Rechtsgrundlagen
- § 27 Abs. 1 Nr. 3 SGB V
- Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Es ist mit dem staatlichen Schutzauftrag für Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht vereinbar, die Pflicht des Staates zur Bereitstellung von Leistungen außerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung auf Situationen zu beschränken, in denen der Tod des Versicherten kurz bevorsteht, er sich also in einer notstandsähnlichen Situation befindet.
- 2.
Eine Leistungspflicht besteht nach grundrechtsorientierter Auslegung vielmehr auch in den Fällen, in denen eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, die ohne rechtzeitige Behandlung aller medizinischen Voraussicht nach die körperliche Unversehrtheit des Versicherten auf Dauer nachhaltig und gravierend beeinträchtigen würde.
In dem Beschwerdeverfahren
A...,
Antragstellerin und Beschwerdeführerin,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte B...,
gegen
Deutsche Angestellten Krankenkasse - Hauptverwaltung -,
Nagelsweg 27-31, 20097 Hamburg,
Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin,
hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
am 7. März 2011 in Celle
durch die Richterin Schimmelpfeng-Schütte - Vorsitzende -,
die Richter Kreschel und Dr. Blöcher
beschlossen:
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 29. Dezember 2010 wird aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin ab März 2011 bis zum 31. März 2015 vorläufig das Präparat Kiovig entsprechend den jeweiligen vertragsärztlichen Verordnungen als Sachleistung zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I.
Die im Jahre 1964 geborene Antragstellerin leidet an Multipler Sklerose mit schubförmigem Verlauf, die 1992 festgestellt wurde. Inzwischen wird eine Multiple Sklerose mit sekundär chronisch progredientem Verlauf diagnostiziert. Der damals behandelnde Arzt Prof. Dr. C. setzte zunächst das intravenöse Immunglobulin Octagam ein. Die Anwendung von Azathioprin erfolgte nicht. Die Behandlung wurde ab dem Jahr 2002 auf die Medikamente Rebif, Betaferon und Copaxone umgestellt. Das hatte zur Folge, dass die Antragstellerin an erheblichen Nebenwirkungen litt, u.a. an einem Fatigue-Syndrom, ständigem sehr starken Schwindel und Sprachstörungen. Sie erlitt häufige Schübe. Nachdem die Behandler eine Umstellung der Therapie auf Tysabri abgelehnt hatten, wurde die Behandlung mit intravenösen Immunglobulinen (Octagam) wieder aufgenommen mit vorzüglicher Wirkung für die Antragstellerin. Es stellte sich ein beruhigter Verlauf ohne Schübe dar.
Die Behandlungskosten wurden bis März 2002 von der Antragsgegnerin übernommen. Mit Bescheid vom 17. April 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2002 lehnte die Antragsgegnerin eine weitere Kostenübernahme ab. Daraufhin beantragte die Antragstellerin am 16. Oktober 2002 beim Sozialgericht (SG) Osnabrück den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Mit Beschluss vom 21. März 2003 verpflichtete das SG die Antragsgegnerin, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache die Kosten für das Präparat Octagam in dem Umfang zu übernehmen, in dem das Präparat vom behandelnden Arzt verschrieben werde.
Der gegen den vorgenannten Bescheid am 2. September 2002 erhobenen Klage gab das SG Osnabrück mit Gerichtsbescheid vom 3. Dezember 2007 statt (AZ.: S 3 KR 179/02). Hiergegen legte die Antragsgegnerin Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen ein (AZ.: L 4 KR 379/07 - L 4 KR 67/08), über die noch nicht entschieden wurde.
Im Jahre 2010 wurde das Präparat Octagam von der Herstellerfirma komplett vom Markt genommen. Aufgrund dieses Umstandes stellte der behandelnde Facharzt für Neurologie und Spezielle neurologische Intensivmedizin Dr. D., Chefarzt der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses Ludmillenstift, die Therapie auf das Präparat Kiovig um. Nach seinen Angaben ist das Präparat Kiovig, ebenfalls ein Immunglobulinpräparat, mit Octagam austauschbar.
Am 17. September 2010 beantragte die Antragstellerin durch ihren behandelnden Arzt Dr. D. die Gewährung von Kiovig. Die Antragsgegnerin holte das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN), Dr. E., vom 30. September 2010 ein und zog das Gutachten des MDKN (Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin Dr. F. vom 18. März 2003) bei. Nachdem der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und Sozialmedizin Dr. G. im Hauptsacheverfahren, AZ.: L 4 KR 67/08, das Gutachten vom 27. Januar 2010 erstattet hatte, holte die Antragsgegnerin das weitere Gutachten des Dr. E. vom 8. Oktober 2010 ein. Sodann lehnte sie mit Bescheid vom 11. Oktober 2010 eine Kostenübernahme für das Präparat Kiovig ab. Hiergegen legte die Antragstellerin am 25. Oktober 2010 Widerspruch ein.
Am 10. November 2010 hat sie beim SG Osnabrück die Anträge gestellt, der Antragsgegnerin ein Zwangsgeld bis zu 1.000 Euro durch Beschluss anzudrohen und nach vergeblichem Fristablauf festzusetzen. Sie hat außerdem beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache die Kosten für das Präparat Kiovig in dem Umfang zu übernehmen, in dem das Präparat vom behandelnden Arzt verschrieben wird.
Mit Beschluss vom 29. Dezember 2010 hat das SG den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zurückgewiesen: Es läge kein Anordnungsanspruch vor. Denn ein Anordnungsanspruch sei nur zu bejahen, wenn für die Verordnung des Präparats Kiovig die vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Kriterien zum Off-Label-Use erfüllt seien. Das sei hier nicht der Fall. Denn es bestehe aufgrund der Datenlage nicht die begründete Aussicht, dass mit dem Präparat Kiovig ein Behandlungserfolg zu erzielen sei. Für das Präparat Octagam ruhe die Zulassung zurzeit, so dass das Präparat nicht verordnet werden könne. Da das Präparat Kiovig ein wirkstoffgleiches Ersatzpräparat für Octagam sei, dürfe es nach Auffassung der Kammer demzufolge ebenfalls nicht verordnet werden. Im Übrigen könne auch nach Ansicht des Paul-Ehrlich-Instituts immer noch keine klare Aussage zur Wirksamkeit der Immunglobuline bei Behandlung einer schubförmigen Multiplen Sklerose getroffen werden.
Gegen den ihr am 6. Januar 2011 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 7. Februar 2011 Beschwerde eingelegt.
Die Prozessakten des ersten und zweiten Rechtszuges, die Verwaltungsakten der Antragsgegnerin sowie die Akten im Verfahren vor dem LSG Niedersachsen-Bremen, AZ.: L 4 KR 67/08 nebst Beiakten, haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen. Auf sie wird wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vortrages der Beteiligten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig.
Die Beschwerde ist unbegründet, soweit sie sich gegen die Nichtfestsetzung eines Zwangsgeldes gegen die Antragsgegnerin wendet. Die Voraussetzungen des § 201 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.
Nach § 201 Abs. 1 Satz 1 SGG kann das Gericht des ersten Rechtszuges auf Antrag unter Fristsetzung ein Zwangsgeld bis zu 1.000 Euro durch Beschluss androhen und nach vergeblichem Fristablauf festsetzen, wenn eine Krankenkasse in Fällen des § 131 SGG der im Urteil auferlegten Verpflichtung nicht nachkommt. § 201 SGG findet grundsätzlich entsprechende Anwendung auch auf einstweiligen Anordnungen (vgl. hierzu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 201 Rz. 2a mwN). Ein Fall des § 201 Abs. 1 SGG liegt jedoch nicht vor.
Richtig ist, dass sich das SG in seinem Beschluss vom 29. Dezember 2010 nicht ausdrücklich mit dem Antrag der Antragstellerin auseinander gesetzt hat, der Antragsgegnerin ein Zwangsgeld bis zu 1.000 Euro anzudrohen und nach vergeblichem Fristablauf festzusetzen. Der Senat versteht den angefochtenen Beschluss jedoch dahin, dass das SG mit der Ablehnung des einstweiligen Rechtsschutzes inzidenter zugleich die Androhung und Festsetzung eines Zwangsgeldes abgelehnt hat. Das ist zu Recht erfolgt. Denn mit Beschluss vom 21. März 2003 hat das SG die Antragsgegnerin lediglich zur vorläufigen Kostenübernahme für das Präparat Octagam verpflichtet, nicht aber zur Kostenübernahme für das Präparat Kiovig. Auch wenn beide Präparate wirkstoffgleich sind, handelt es sich doch verschiedene Streitgegenstände, wie der Umstand belegt, dass zwar für Octagam die arzneimittelrechtliche Zulassung zurückgenommen wurde, nicht aber für Kiovig.
Die Beschwerde ist jedoch überwiegend begründet, soweit sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus. Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen Rechtschutzverfahren nur einer summarischen Prüfung zu unterziehen. Dabei muss die Antragstellerin glaubhaft machen, dass ihr aus dem Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen. Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, d.h. es müssen erhebliche belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden.
Ein Anordnungsgrund liegt vor. Die Antragstellerin ist nicht in der Lage, sich auf eigene Kosten das Präparat Kiovig zu verschaffen. Sie leidet an Multipler Sklerose und benötigt das Präparat Kiovig regelmäßig, um erhebliche Gesundheitsstörungen zu vermeiden.
Entgegen der Ansicht des SG hält der Senat auch einen Anordnungsanspruch für gegeben. Bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung hat die Antragstellerin einen vorläufigen Anspruch auf die Versorgung mit dem Präparat Kiovig.
Nach § 27 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln, wenn sie notwendig sind, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Allerdings besteht grundsätzlich nur Anspruch auf ein Arzneimittel, das für ein Indikationsgebiet angewandt werden soll, für das es arzneimittelrechtlich zugelassen ist. Wird ein zugelassenes Arzneimittel für ein anderes Indikationsgebiet angewandt als für das Gebiet, für das es zugelassen ist, liegt eine sog. zulassungsüberschreitende Verordnung - ein sog. Off-Label-Use - vor. Nach gefestigter allgemeiner Rechtsprechung haben Versicherte nur im Ausnahmefall Anspruch auf Versorgung mit einem für das einschlägige Indikationsgebiet nicht zugelassenen Arzneimittel.
Der Senat pflichtet der Antragsgegnerin darin bei, dass die Voraussetzungen der BSG-Rechtsprechung zum Off-Label-Use hier nicht vorliegen.
Bei dem Präparat Kiovig handelt es sich um ein für Deutschland zugelassenes Arzneimittel. Die Zulassung bezieht sich jedoch auf die Anwendungsgebiete: Substitionstherapie bei primären Immunmangelkrankheiten, Myelom, chronische lympathische Leukämie mit schwerer sekundärer Hypogammaglobulinämie und auf weitere Indikationsgebiete (vgl. im Einzelnen: MDKN-Gutachten, Dr. E., vom 8. Oktober 2010), nicht aber auf die Behandlung der Multiplen Sklerose. Für das Indikationsgebiet der Multiplen Sklerose könnte das hierfür nicht zugelassene Präparat Kiovig nach der BSG-Rechtsprechung auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung nur angewandt werden, wenn u.a. nach der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit Kiovig ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Hiervon kann nach der BSG-Rechtsprechung nur ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für das betreffende Indikationsgebiet zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Dabei muss die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg, die für ein zulassungsüberschreitendes Arzneimittel auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nachgewiesen sein muss, der Zulassungsreife des Arzneimittels im betroffenen Indikationsbereich entsprechen. Das ist in Bezug auf Kiovig nicht der Fall. Nach dem Vortrag der Beteiligten liegt weder ein Antrag auf Erweiterung der Zulassung vor noch besitzt Kiovig in Bezug auf die Erkrankung der Antragstellerin die Zulassungsreife.
Auch auf die Rechtsprechung zum sog. Seltenheitsfall kann die Antragstellerin ihren Anspruch nicht stützen. Denn ein sog. Seltenheitsfall im Sinne der BSG-Rechtsprechung liegt nur vor, wenn eine Versicherte an einer sehr seltenen (einzigartigen) Erkrankung leidet, für die keine Therapiemöglichkeit zur Verfügung steht und deren Therapiemöglichkeit keiner systematischen Erforschung zugänglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 8. September 2009, AZ: B 1 KR 1/09 B, mwN). Diese Voraussetzungen erfüllt die Multiple Sklerose nicht. Sie ist keine sehr seltene Erkrankung im vorgenannten Sinn.
Der Antragstellerin steht jedoch ein Anspruch auf vorläufige Versorgung mit Kiovig im Wege der grundrechtsorientierten Auslegung zu.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) der Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechts der GKV, weil sich die Gestaltung des Leistungsrechts der GKV an der objektiv-rechtlichen Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit zu orientieren hat. Der Staat hat sich schützend und fördernd vor diese Rechtsgüter zu stellen. Daher ist ein Versicherter nicht auf Leistungen des Leistungskatalogs der GKV beschränkt, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung leidet (Voraussetzung 1), für deren Behandlung keine allgemein anerkannte, dem medizinischem Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht (Voraussetzung 2), und wenn bezüglich der angewandten neuen, nicht allgemein anerkannten Behandlungsmethode eine "auf Indizien gestützte", nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (Voraussetzung 3; so BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005, AZ: 1 BvR 347/98).
Das BSG hat diese Entscheidung des BVerfG in Bezug auf die Voraussetzung 1 "lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung" in ständiger Rechtsprechung eng ausgelegt und für die grundrechtorientierte Auslegung eine "notstandsähnliche" Situation verlangt (vgl. BSG, Urteile vom 5. Mai 2009, AZ: B 1 KR 15/08 R und vom 4. April 2006, AZ: B 1 KR 7/05 R). Dem vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen.
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stellt nicht nur das Leben, sondern ausdrücklich auch die körperliche Unversehrtheit unter den besonderen Schutz des Staates. Der Staat hat mit dem System der GKV also nicht nur Verantwortung für das Leben, sondern auch für die körperliche Unversehrtheit der Versicherten übernommen (so auch BVerfG, aaO, Rz. 65). Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG enthält weder nach seinem Wortlaut, seinem Sinn und Zweck noch nach der Verfassungssystematik einen Anhalt dafür, dass die Schutzpflicht des Staates in Bezug auf die körperliche Unversehrtheit ein geringeres Gewicht hat als seine Pflicht zum Schutz des Lebens. Nach Ansicht des erkennenden Senats kann daher die Pflicht des Staates zur Bereitstellung von Leistungen außerhalb des Leistungskataloges der GKV nicht auf Situationen beschränkt sein, in denen der Tod kurz bevorsteht, sondern erfasst auch Fälle, in denen die körperliche Unversehrtheit eines Versicherten gefährdet ist. In Ansehung der Funktionsfähigkeit der GKV, der Qualität, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit ihrer Leistungen (§ 2 Abs 1 SGB V) muss sich diese Einstandspflicht aber auf Ausnahmefälle beschränken, die besonders gravierend sind. Nach Auffassung des erkennenden Senats ist ein solcher Ausnahmefall gegeben, in denen eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, die ohne rechtzeitige Behandlung aller medizinischen Voraussicht nach die körperliche Unversehrtheit des Versicherten auf Dauer nachhaltig und gravierend beeinträchtigen würde. Es ist mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, in derartigen Fällen, in denen nachhaltige und gravierende Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit drohen, erfolgversprechende rechtzeitige Behandlungen zu verweigern und Beeinträchtigungen in Kauf zu nehmen, wohl wissend, dass sie später nicht mehr zu beheben sind. In diesen Fällen nützt es dem Versicherten nichts, wenn er später - in einer notstandsähnlichen Situation, also kurz vor dem Tod - behandelt wird. Dann ist er bereits in ein Stadium getreten, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Einem Versicherten, der an schubförmiger Multipler Sklerose erkrankt ist, nützt vor allem eine Behandlung, die ihn vor weiteren Schüben schützt. Sind bei ihm Schübe mit ihren oft gravierenden Gesundheitsfolgen erst einmal aufgetreten, nützt im Nachhinein keine Behandlung, auch nicht die notstandsähnliche Behandlung vor dem unmittelbaren Tod des Versicherten.
Die Antragstellerin leidet an einer schwerwiegenden Erkrankung, die ohne Behandlung aller medizinischen Voraussicht nach ihre körperliche Unversehrtheit auf Dauer nachhaltig und gravierend beeinträchtigt hätte. Die Gutachter des MDKN Dr. F. (Gutachten vom 18. März 2003) und Dr. E. (Gutachten vom 8. Oktober 2010) haben übereinstimmend bestätigt, dass die Multiple Sklerose der Antragstellerin eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung ist. Der gerichtliche Sachverständige Dr. G. hat in seinem Gutachten vom 27. Januar 2010 unwidersprochen ausgeführt, dass sich bei der Antragstellerin ohne rechtzeitige Behandlung mit Immunglobulin mit hoher Wahrscheinlichkeit ein schweres Defektbild der Erkrankung, unter anderem mit Rollstuhlpflichtigkeit, entwickelt hätte.
Für die Antragstellerin gibt es nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung keine allgemein anerkannte, dem medizinischem Standard entsprechende und ihr zumutbare Behandlung (Voraussetzung 2).
Die Antragstellerin hat jahrelang das Immunglobulin Octagam erhalten und wird nach Rücknahme dieses Präparats vom Markt nun mit dem wirkstoffgleichen Immunglobulin Kiovig behandelt. Kiovig ist nach wie vor arzneimittelrechtlich zugelassen, wenn auch für andere Indikationsgebiete als für die Behandlung der Multiplen Sklerose. Angesichts der nach wie vor bestehenden Zulassung für Kiovig vermag sich der Senat nicht der Ansicht des SG anzuschließen, dass wegen der Rücknahme von Octagam vom Markt auch die Gewährung von Kiovig ausgeschlossen wäre.
Der Gutachter Dr. E. führt in seinem Gutachten vom 8. Oktober 2010 als Behandlungsalternativen zu Kiovig folgende zugelassene medikamentöse Therapien auf: Inferferon beta 1b (Betaferon), Interferon beta 1a (Avonex), Glatirameracetat (Copaxone), Natalizumab (Tysabri), Azathioprin (z.B. Imurek) und Mitoxantron. Auf diese Alternativen muss sich die Antragstellerin jedoch nicht verweisen lassen. Der Sachverständige Dr. G. hat im Gutachten vom 27. Januar 2010 überzeugend ausgeführt, dass unter Anwendung der Medikamente Copaxone, Rebif und Betaferon schwere Nebenwirkungen bei der Antragstellerin aufgetreten sind. Die Anwendung von Azathioprin - so der Sachverständige - ist bei der Antragstellerin abzulehnen, weil sie noch zu jung ist. Nach seiner Beurteilung verursacht Azathioprin bösartige Nebenwirkungen, so dass es nur bei älteren Patienten eingesetzt werden soll. Mitxantron spielt - so der Sachverständige überzeugend - nur für einen begrenzten Zeitraum eine Rolle, weil seine Wirkungen durch die dann auftretenden Nebenwirkungen eingegrenzt sind. Auch auf Tysabri muss sich die Antragstellerin nicht verweisen lassen. Zwar könnte dieses Medikament nach Beurteilung des Sachverständigen Dr. G. eine Option für die Antragstellerin sein. Abgesehen von den erheblich höheren Kosten für das Medikament Tysabri als für ein Immunglobulinpräparat (Kostenrahmen pro Monat: 2.408 Euro für Tysabri zu 993 Euro für Octagam) ist Tysabri von der behandelnden Universitätsklinik aber abgelehnt worden, weil das intravenöse Immunglobulin bei der Antragstellerin so vorzüglich wirkt. Die lange Behandlung der Antragstellerin mit Immunglobulin hat gezeigt, dass dieses Präparat für sie ideal ist. Sie hat, wie der Sachverständige Dr. G. im Einzelnen dargestellt hat, wiederholt andere zugelassene Medikamente ohne Erfolg ausprobiert und ist damit ein erhebliches gesundheitliches Risiko eingegangen. Es ist ihr nicht zuzumuten, sich jetzt noch einmal auf ein anderes Medikament, auf Tysabri, umzustellen und damit zu riskieren, dass sich ihr Zustand erneut verschlechtert. Bei lang andauernden Behandlungen, wie es die Multiple Sklerose ist, kommt im konkreten Einzelfall im Übrigen der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit einer Methode durch die behandelnden Ärzte eine wesentliche Bedeutung zu (vgl. zur Bedeutung der Beurteilung der behandelnden Ärzte: BVerfG, aaO, Rz 66). Der die Antragstellerin behandelnde Facharzt für Neurologie und Spezielle neurologische Intensivmedizin Dr. D., Chefarzt der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses Ludmillenstift, befürwortet die Therapie mit Kiovig und hält eine Unterbrechung der Behandlung mit Immunglobulinen ärztlicherseits für nicht wünschenswert.
Schließlich liegt in Bezug auf Kiovig auch eine "auf Indizien gestützte", nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf vor (Voraussetzung 3). Das belegt die nahezu 20jährige Anwendung des Präparats Octagam. Wie der Sachverständige Dr. G. ausführt, hatte die Octagam-Therapie eine sehr positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf der Antragstellerin. Seit 2002 hat sie keinerlei Verschlimmerung erfahren. Schübe sind überhaupt nicht mehr aufgetreten. Sie ist körperlich und psychisch noch in der Lage, in ihrer eigenen Wohnung zu verbleiben. Das wäre - so Dr. G. - ohne Octagam nicht möglich gewesen. Kiovig ist wirkstoffgleich mit Octagam, so dass die positive Beurteilung der Wirkung von Octagam im Falle der Antragstellerin auch für Kiovig gilt.
Die Beschwerde hat daher hinsichtlich der Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Gewährung von Kiovig Erfolg.
Es liegt kein Anhaltspunkt dafür vor, dass die Antragstellerin die Möglichkeit der Kostenerstattung nach § 13 Abs. 2 SGB V gewählt hat. Daher gilt für sie das Sachleistungsgebot mit der Folge, dass die Antragsgegnerin zur vorläufigen Gewährung des Präparats Kiovig als Sachleistung verpflichtet ist. Die Gewährung einer Sachleistung für vergangene Zeiten ist nicht möglich. Daher ist die Antragsgegnerin zur vorläufigen Gewährung von Kiovig ab dem Zeitpunkt der Entscheidung des Senats verpflichtet. In Bezug auf die Gewährung von Kiovig ist noch kein Klageverfahren anhängig, so dass eine Befristung der vorläufigen Leistungspflicht bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache ausscheidet. Angesichts dessen wird die vorläufige Leistungspflicht auf vier Jahre - bis zum 31. März 2015 - befristet in der Erwartung, dass bis dahin in der Hauptsache eine rechtskräftige Entscheidung getroffen ist.
Soweit die Antragstellerin eine Kostenerstattung für das Präparat Kiovig für die Zeit von der Antragstellung am 27. September 2010 bis zur Senatsentscheidung begehrt, kann ihr Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz keinen Erfolg haben. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist das Vorliegen der Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruches nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V zweifelhaft. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin bislang selbst Kosten für das Präparat Kiovig tragen musste. Die Entscheidung hierüber bleibt daher einem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass die Antragstellerin nur in unwesentlichem Maß unterlegen ist.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).