Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.03.2006, Az.: 10 K 226/02

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
30.03.2006
Aktenzeichen
10 K 226/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 40287
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2006:0330.10K226.02.0A

Fundstellen

  • DStR 2007, VIII Heft 11 (Kurzinformation)
  • DStRE 2007, 694-695 (Volltext mit amtl. LS)
  • NWB direkt 2007, 5
  • Jurion-Abstract 2006, 228610 (Zusammenfassung)

Tatbestand

1

Gegenstand des Verfahrens sind der Bescheid des Arbeitsamts X vom & sowie der Einspruchsbescheid vom &. Die Beteiligten streiten um die Gewähr von Kindergeld für drei minderjährige Kinder des Klägers von März bis einschließlich August 2001. Der Kläger ist Ausländer. Er verfügte im Streitzeitraum weder über eine Aufenthaltsberechtigung noch über eine Aufenthaltserlaubnis. Sein Aufenthalt galt aber im Streitzeitraum nach § 69 Abs. 3 Satz 1 des Ausländergesetzes in der Fassung vom 2. August 2000 (AuslG) als erlaubt.

2

Der Kläger ist jugoslawischer Staatsangehöriger. Er ist unter anderem Vater der Kinder A, B und C. Der Aufenthalt der Mutter dieser Kinder ist nicht bekannt.

3

Am & wurde dem Kläger eine bis zum 15. Juli 1999 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Über den Antrag des Klägers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entschied die Ausländerbehörde bis zum Ablauf des Streitzeitraums nicht. Der Kläger erhielt aber für die Zeit bis über den Streitzeitraum hinaus Bescheinigungen über die Antragstellung, in denen die Ausländerbehörde darauf hinwies, dass der Aufenthalt des Klägers gemäß § 69 Abs. 3 AuslG Satz 1 als erlaubt gelte.

4

Der Kläger bezog während des Streitraums, aber auch davor und danach, Hilfe zum Lebensunterhalt von der Samtgemeinde Y. Seit Mai 2000 bezog er außerdem Arbeitslosenhilfe.

5

Der Kläger hatte 1998 Kindergeld bei der Familienkasse des Arbeitsamts X beantragt. Die Samtgemeinde Y hatte dort unter Hinweis auf die von ihr gewährten Sozialleistungen im Mai 2000 die Erstattung des für den Kläger festzusetzenden Kindergelds beantragt.

6

Mit Bescheid vom & setzte die Familienkasse Kindergeld ab Dezember 1998 für die drei Kinder fest. Zugleich stellte die Familienkasse fest, dass der Anspruch für die Zeit bis zur Festsetzung nach § 74 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes -EStG- in Verbindung mit § 107 des Zehnten Sozialgesetzbuchs - SGB X - als erfüllt galt. Wegen der laufenden Kindergeldzahlungen ab März 2001 forderte die Familienkasse den Kläger auf, seine Aufenthaltserlaubnis ab dem März 2001 vorzulegen.

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Die Samtgemeinde Y übersandte der Familienkasse daraufhin eine Ablichtung der von der Ausländerbehörde bis zum 31. August 2001 verlängerten Bescheinigung über die Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis, nach der der Aufenthalt des Klägers unverändert nach § 69 Abs. 3 AuslG Satz 1 als erlaubt galt.

8

Die Familienkasse ging nunmehr davon aus, dass diese Bescheinigung die Aufenthaltserlaubnis nicht ersetzen könne, und erließ unter dem & gegenüber dem Kläger den im Streit stehenden Aufhebungsbescheid für den Zeitraum ab März 2001.

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Hiergegen legte die Samtgemeinde Y unter Hinweis auf eine ihr vom Kläger erteilte Vertretungsvollmacht für den Kläger Einspruch ein. Sie vertrat den Standpunkt, dass die Kindergeldvoraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG erfüllt seien, weil der Kläger ursprünglich im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen sei und weil er wegen der Fiktion der Aufenthaltserlaubnis nach § 69 Abs. 3 Satz 1 AuslG diese kindergeldrechtliche Rechtsposition auch nach dem 15. Juli 1999 nicht verloren habe.

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Die Familienkasse beim Arbeitsamt X wies den Einspruch mit Bescheid vom & als unbegründet zurück. Sie war weiter der Auffassung, die Fiktion der Aufenthaltserlaubnis nach § 69 Abs. 3 Satz 1 AuslG sei kindergeldrechtlich den in § 62 Abs. 2 EStG genannten Aufenthaltstiteln nicht gleichzusetzen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der jugoslawischen Staatsangehörigkeit des Klägers, da er im Streitzeitraum lediglich Arbeitslosenhilfe erhalten habe.

11

Mit weiterem Bescheid vom & setzte die Familienkasse beim Arbeitsamt X Kindergeld ab September 2001 für die drei Kinder fest. Der Kläger hatte in jenem Monat eine Erwerbstätigkeit aufgenommen.

12

Am & ging die Klage bei Gericht ein. Nachdem der Kläger den Bescheid vom & erhalten hatte, erklärte er den Rechtsstreit wegen der Kindergeldzahlungen ab September 2001 in der Hautsache für erledigt. Der Beklagte gab eine entsprechende Erklärung ab, so dass das Gericht das Verfahren insoweit abtrennte und mit Beschluss vom & unter dem Az. 10 K 701/02 einstellte.

13

Der Kläger vertritt weiter seinen Standpunkt aus dem Einspruchsverfahren. Daneben weist er auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 62 Abs. 2 EStG hin.

14

Der Kläger beantragt sinngemäß,

15

wie erkannt zu entscheiden.

16

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

17

Sie verweist auf ihre bereits im Einspruchsverfahren vertretene Auffassung.

18

Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Entscheidungsgründe

19

1) Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten übereinstimmend auf deren Durchführung verzichtet haben, § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -FGO-.

20

2) Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig. Zwar hat der Kläger mit Schriftsatz vom & beantragt, das Gericht möge - über die Aufhebung der angefochtenen Bescheide hinaus - den Beklagten verpflichten, für den Streitzeitraum Kindergeld festzusetzen. Für eine solche Verpflichtung ist jedoch kein Raum, weil bereits durch die Kassation der angefochtenen Bescheide die ursprüngliche Kindergeldfestsetzung des Beklagten vom & mit Wirkung für den Streitzeitraum wieder auflebt.

21

3) Die Klage ist auch begründet. Dem Kläger steht für den Zeitraum von März bis einschließlich August 2001 monatlich Kindergeld in Höhe von 459,49 € für seine zu jener Zeit minderjährigen Kinder A, B und C zu.

22

a) Der Kläger ist als Vater dreier zu berücksichtigender Kinder nach § 62 Abs. 1 EStG in Verbindung mit § 63 EStG grundsätzlich zum Bezug von Kindergeld berechtigt.

23

b) Der Kläger, der nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, erfüllt auch die zusätzlichen Voraussetzungen für den Bezug von Kindergeld durch ausländische Berechtigte nach § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG. Nach dieser Vorschrift hat ein Ausländer Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist.

24

Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt, weil der Kläger sich im Streitzeitraum nach § 69 Abs. 3 Satz 1 AuslG erlaubt im Inland aufgehalten hat. Dem steht nicht entgegen, dass die Ausländerbehörde bis zum Ende des Streitzeitraums nicht über den Antrag des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis entschieden hatte. Die gesetzliche Fiktion der Aufenthaltserlaubnis nach § 69 Abs. 3 Satz 1 AuslG begründet nach Auffassung des Senats die für den Bezug von Kindergeld durch einen Ausländer erforderliche rechtliche Befugnis zum Aufenthalt in Deutschland im Sinne des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG (so auch Nds. FG, Urteil vom 8. September 2004 Az. 2 K 55/03, EFG 2005, S. 307; FG Münster, Urteil vom 14. Januar 2005 Az. 11 K 3588/04; EFG 2005, S. 626; a.A. zu dem früheren § 1 Abs. 1 Satz 2 BErzGG Bundessozialgericht, Urteil vom 6. September 1995 Az. 14 REg 4/95, nicht veröffentlicht).

25

aa) Hierfür spricht zunächst der Wortlaut des § 69 Abs. 3 Satz 1 AuslG. Das Ausländerrecht verwendet im § 69 Abs. 3 Satz 1 AuslG ebenso wie § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG den Begriff der "Erlaubnis". Daneben besteht im Ausländerrecht das im Wortlaut des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht genannte Rechtsinstitut der Aufenthaltsbefugnis i.S.d. § 30 AuslG. Auch § 69 AuslG unterscheidet in seinen Absätzen 2 und 3 danach, ob ein Aufenthalt nur als "geduldet" oder als "erlaubt" fingiert wird. Diese Unterscheidung schlägt nach Ansicht des erkennenden Senats auf die für die Kindergeldberechtigung maßgeblichen Rechtsfolgen durch, weil § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG an eben diese ausländerrechtliche Unterscheidung anknüpft.

26

bb) Eine solche Auslegung steht darüber hinaus auch im Einklang mit den Grundrechten der Kläger aus Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Das Bundesverfassungsgericht hat zu der dem § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG vorhergehenden Vorschrift, dem § 1 Abs. 3 Satz 1 des Bundeskindergeldgesetzes, entschieden, dass die Vorschrift mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, weil die Unterscheidung zwischen verschiedenen Aufenthaltstiteln für die Kindergeldberechtigung sachlich nicht geboten ist (BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2004, Az. 1 BvL 4-6/97, BVerfGE 111, S. 160). Es spricht viel dafür, dass sich diese Rechtsprechung auf § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG übertragen lässt. Eine Auslegung der Vorschrift dahin, dass die fingierte Aufenthaltserlaubnis nach § 69 Abs. 3 Satz 1 AuslG den Tatbestand des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG erfüllt, führt aber jedenfalls im Streitfall zu einem verfassungskonformen Anwendungsergebnis.

27

Der Klage war daher stattzugeben.

28

4) Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 FGO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 151 Abs. 3 FGO in Verbindung mit § 708 Nr.10, § 711 der Zivilprozessordnung, Die Zulassung der Revision erfolgt nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Streitfrage, ob die Fiktion der Aufenthaltserlaubnis nach § 69 Abs. 3 AuslG die Voraussetzung für den Bezug von Kindergeld im Hinblick auf den Aufenthaltsstatus eines ausländischen Klägers erfüllt.