Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 04.09.2002, Az.: L 7 AL 283/02 ER
Aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen einen Abzweigungsbescheid nach § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I)
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 04.09.2002
- Aktenzeichen
- L 7 AL 283/02 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 33112
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2002:0904.L7AL283.02ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 48 Abs. 1 SGB I
- § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 18. Juni 2002 wird geändert.
Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 21. Mai 2002 gegen den Abzweigungsbescheid der Antragsgegnerin vom 13. Mai 2002 aufschiebende Wirkung hat. Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene haben die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers als Gesamtschuldner zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Abzweigungsbescheid der Antragsgegnerin vom 13. Mai 2002, der zugunsten der Beigeladenen, die der ehemaligen Ehefrau des Antragstellers sowie seinen drei Kindern Sozialhilfe leistet, ergangen ist.
Der Antragsteller war zuletzt bis zum 30. September 2001 erwerbstätig. Durch Bescheid vom 12. November 2001 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller antragsgemäß Arbeitslosengeld (Alg) mit Wirkung vom 1. Oktober 2001 für eine Anspruchsdauer von 240 Tagen nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 1.800,00 DM in Höhe von 629,30 DM wöchentlich, 89,90 DM täglich, Leistungsgruppe A, Kindermerkmal 1, erhöhter Leistungssatz. Der Anspruch war am 28. Mai 2002 erschöpft. Seitdem bezieht der Antragsteller Arbeitslosenhilfe. Die elterliche Sorge für seine 1986, 1989 und 1991 geborenen Kinder steht dem Antragsteller und seiner geschiedenen Ehefrau gemeinsam zu (OLG G., Beschluss vom 05.09.2001 - 11 UF 72/01).
Mit Schreiben vom 3. Januar 2002 teilte die Beigeladene der Antragsgegnerin mit, dass sie der ehemaligen Ehefrau des Antragstellers und seinen drei Kindern seit dem 6. September 1999 Sozialhilfe nach den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) in Höhe von derzeit monatlich 833,47 € gewähre, da der Antragsteller seinen Unterhaltsverpflichtungen seiner ehemaligen Ehefrau und seinen Kindern gegenüber nicht nachkomme. Daher beantrage sie, die Beigeladene, die Abzweigung nach § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) I aus den dem Antragsteller von der Antragsgegnerin gewährten Leistungen.
Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag zunächst nach Anhörung des Antragstellers durch Bescheid vom 21. Februar 2002 ab, da der Antragsteller die laufende Geldleistung zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts benötige. Hiergegen legte die Beigeladene unter dem 19. März 2002 Widerspruch mit der Begründung ein, dass sich die Kinder des Antragstellers nur besuchsweise bei ihm aufhielten. Der Antragsteller könne nicht mit Erfolg geltend machen, dass er alleinerziehender Vater sei, weil ihm ebenso wie seiner ehemaligen Ehefrau die elterliche Sorge für die Kinder zustehe. Der laufende Lebensunterhalt sowie die einmaligen Beihilfen für die Kinder würden im Rahmen der Hilfegewährung im Haushalt der Mutter erbracht. Kosten der Unterkunft für die Kinder seien nicht anzuerkennen, da der Unterkunftsbedarf bei der Mutter sichergestellt werde.
Durch Bescheid vom 13. Mai 2002 entschied die Antragsgegnerin, dass von der dem Antragsteller bewilligten laufenden Leistung mit Wirkung vom 1. Mai 2002 täglich 21,90 € einbehalten und regelmäßig monatlich nachträglich an die Beigeladene gezahlt würden. Der Antragsteller komme seiner Unterhaltspflicht ganz oder teilweise nicht nach. Die Auszahlung der Leistung in der genannten Höhe bewirke, dass sich die Situation der Unterhaltsberechtigten verbessere. Die persönlichen Verhältnisse und die wirtschaftliche Lage des Antragstellers werde hierdurch nicht unzumutbar beeinträchtigt. Ihm verbleibe trotz Auszahlung des genannten Betrages noch eine ausreichende Summe zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts. Im Hinblick auf die Dauer und das Ausmaß der unterbliebenen Unterhaltsleistung müsse das Interesse des Antragstellers an ungeschmälerter Auszahlung der laufenden Geldleistung zurücktreten.
Hiergegen legte der Antragsteller am 24. Mai 2002 Widerspruch mit der Begründung ein, dass der Bescheid vom 13. Mai 2002 materiell und formell fehlerhaft sei. Eine Begründung hinsichtlich des öffentlichen Interesses bzw. überwiegenden Interesses an der sofortigen Vollziehung fehle. Er verstoße gegen das Grundgesetz, die EU-Charta und die Kinderrechtskonvention. Über den Widerspruch hat die Antragsgegnerin noch nicht befunden.
Der Antragsteller hat am 21. Mai 2002 beim Sozialgericht (SG) Osnabrück um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit dem Ziel der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gebeten. Durch die Abzweigungsentscheidung werde ihm die Grundlage dafür entzogen, für seine Kinder die elterliche Sorge auszuüben. Seine Kinder hielten sich zur Hälfte der Zeit bei ihm und zur anderen Hälfte bei der Mutter auf. Diese beziehe Sozialhilfe für sich und für die Kinder. Er selbst hingegen erhalte insoweit keine Leistungen.
Das SG Osnabrück hat durch Beschluss vom 18. Juni 2002 den Antrag mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass festgestellt werde, dass dem Widerspruch des Antragstellers gegen den Abzweigungsbescheid vom 13. Mai 2002 kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zukomme. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, ein Ausnahmetatbestand nach § 86a Abs. 2 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), wonach die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage u.a. in Angelegenheiten der Bundesanstalt für Arbeit bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung entziehen oder herabsetzen, entfalle, liege nicht vor. Eine Entziehung bzw. Herabsetzung einer laufenden Leistung in diesem Sinn könne nur dann angenommen werden, wenn in die Substanz der laufenden Leistung selbst eingegriffen werde. Im Falle einer Abzweigung bleibe indes die laufende Leistung ungeschmälert erhalten, wenn auch der Berechtigte im Ergebnis geringere Leistungen erhalte. Eine entsprechende Anwendung der Regelung des § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG auf den Fall einer Abzweigung nach § 48 SGB I sei unzulässig, da dies dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 86a SGG widerspreche.
Gegen den am 24. bzw. 28. Juni 2002 zugestellten Beschluss führen die Beigeladene am 15. Juli 2002 und die Antragsgegnerin am 18. Juli 2002 Beschwerde. Zur Begründung beziehen sich die Beschwerdeführerinnen auf den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 3. Mai 1982 (L 1 Sb 10/82), das darin u.a. festgestellt hat, dass eine laufende Geldleistung im Sinne von § 97 Abs. 2 Satz 1 SGG herabgesetzt werde, wenn der Leistungsträger davon nach § 48 Abs. 1 SGB I Teilbeträge an Dritte abzweige. Im Übrigen halten die Beschwerdeführerinnen die Abzweigungsentscheidung vom 13. Mai 2002 auch materiell für rechtmäßig.
Der Antragsteller tritt dem entgegen und hält an seiner bisher geäußerten Rechtsauffassung fest.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Prozessakte Bezug genommen. Die den Antragsteller betreffenden Leistungsakten (Stamm-Nr. 264 A 09 4965) liegen vor und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
II.
Die gemäß §§ 172, 173 SGG statthaften und zulässigen Beschwerden sind nicht begründet. Das SG Osnabrück hat in dem angefochtenen Beschluss vom 18. Juni 2002 zu Recht festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 21. Mai 2002 gegen den Abzweigungsbescheid der Antragsgegnerin vom 13. Mai 2002 aufschiebende Wirkung hat.
Der Senat entnimmt dem Vorbringen des Antragstellers (vgl. § 123 SGG), dass dieser in erster Linie die Feststellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 21. Mai 2002 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. Mai 2002 und hilfsweise die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs verlangt hat. Dem entspricht der Inhalt des Ausspruchs des SG Osnabrück in seinem Beschluss vom 18. Juni 2002.
Rechtsgrundlage für das Antragsbegehren ist eine entsprechende Anwendung des § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG. In Fällen, in denen, wie hier, durch die Auszahlung eines Teils der Leistungen an die Beigeladene und nicht an den Antragsteller die behördliche Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts unter Missachtung der bestehenden aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs erfolgt (faktische Vollziehung) oder eine solche faktische Vollziehung droht, ist vorläufiger Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 - und nicht nach § 86b Abs. 2 SGG - statthaft. Dies folgt aus der Regelung des § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG, wonach eine einstweilige Anordnung nur statthaft ist, soweit es sich nicht um ein Aussetzungsverfahren nach § 86b Abs. 1 SGG handelt. Hier handelt es sich um einen Fall des § 86b Abs. 1 SGG, denn die Beteiligten streiten über den Eintritt oder Nichteintritt der aufschiebenden Wirkung im Sinne dieser Regelung. Ein solcher Streit ist dem System des § 86b Abs. 1 SGG und nicht dem des § 86b Abs. 2 SGG zuzuordnen (vgl. Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 80 Rdnrn. 238 ff. zu der gleichgelagerten Problematik nach §§ 80 und 123 VwGO; ebenso Kopp/Schenke, VwGO, 12. Auflage, § 80 Rdnr. 181 m.w.N.).
Voraussetzung für die Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 21. Mai 2002 ist, dass dieser gemäß § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung hat; das bedeutet, dass keine der unter § 86a Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 SGG genannten Alternativen vorliegt. So liegt es hier. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 21. Mai 2002 entfällt nicht nach § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG (oder nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 336a Satz 2 SGB III). Danach entfällt die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen in Angelegenheiten der Bundesanstalt für Arbeit bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung entziehen oder herabsetzen.
Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. Mai 2002 hat keine laufende Leistung (teilweise) entzogen oder herabgesetzt. Bei dem an den Antragsteller gezahlten Alg handelt es sich um laufende Leistungen in diesem Sinn. Zu Recht hat das SG in seinem angefochtenen Beschluss vom 18. Juni 2002, auf den insoweit gemäß § 153 Abs. 2 SGG entsprechend Bezug genommen wird, festgestellt, dass durch die Abzweigungsentscheidung vom 13. Mai 2002 das dem Antragsteller bewilligte Alg nicht herabgesetzt und auch nicht (teilweise) entzogen worden ist; anspruchsberechtigt ist weiterhin der Antragsteller (so auch Zeihe, SGG, § 86a Anm. 4 K cc, 18). Für den Fall der Aufhebung der Alg-Bewilligung ist dieser auch gegebenenfalls erstattungspflichtig im Sinne des § 50 SGB X für den gesamten Betrag und nicht nur für den an ihn selbst ausgezahlten Teil der Leistungen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Januar 1991 - 7 RAr 72/90 -SozR 3-1300 § 50 SGB X).
Der Senat teilt auch die Auffassung des SG, dass eine entsprechende Anwendung der Regelung des § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG ausscheidet. Nach dem in § 86a SGG geregelten System des vorläufigen Rechtsschutzes bei Anfechtungsklagen haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 SGG). Nur ausnahmsweise entfällt die aufschiebende Wirkung bei Vorliegen der in § 86a Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 SGG im Einzelnen genannten Alternativen. Der Ausnahmecharakter der Regelung des § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG verbietet zumal unter dem Gesichtspunkt der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz eine erweiternde Auslegung.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).