Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 05.06.2002, Az.: L 4 KR 33/02 ER
Anspruch auf Gewährung einer Inhalationstherapie mit Proleukin (lnterleukin-2) wegen eines pulmonal metastasierenden Nierenzellkarzinoms bei Zustand nach linksseitigerTumornephrektomie
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 05.06.2002
- Aktenzeichen
- L 4 KR 33/02 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 33064
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2002:0605.L4KR33.02ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 31.01.2002 - AZ: S 62 KR 24/02 ER
Rechtsgrundlagen
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
- § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V
- § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V
- § 135 SGB V
Amtlicher Leitsatz
Zur Frage des Anspruches eines Versicherten gegen seine gesetzliche Krankenkasse auf Gewährung einer Inhalationstherapie mit Proleukin (lnterleukin-2) bei metastasierendem Nierenzellkarzinom im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.
In dem Rechtsstreit
...
hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
am 5. Juni 2002
in Celle
durch
die Richterin Schimmelpfeng-Schütte - Vorsitzende-,
den Richter Wolff und
den Richter Schreck
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten auch des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung einer Inhalationstherapie mit Proleukin (lnterleukin-2).
Proleukin ist ein im Bundesgebiet zugelassenes Fertigarzneimittel. Die Zulassung beschränkt sich auf intravenöse und subkutane Anwendung. Für Inhalationen ist es nicht zugelassen.
Der Antragsteller leidet an einem pulmonal metastasierenden Nierenzellkarzinom bei Zustand nach Tumornephrektomie links im September 1999. Der Tumor streut Metastasen in die Lunge. Seit November 1999 ist der Antragsteller in ambulanter Behandlung im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik und Poliklinik für Urologie. Ihm wurde eine Inhalationstherapie mit lnterleukin-2 verordnet. Die Therapie wird von ihm gut vertragen. Eine zugelassene Behandlungsalternative besteht laut Oberarzt D. nicht.
Die Antragsgegnerin lehnte die Übernahme der Therapiekosten mit Bescheid vom 2. Januar 2002 ab.
Das Sozialgericht Oldenburg (SG) hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 31. Januar 2002 stattgegeben und die Antragsgegnerin verpflichtet, das Arzneimittel Proleukin (lnterleukin-2) für die weitere Durchführung einer Inhalationstherapie zu finanzieren, soweit die behandelnden Ärzte des Antragstellers diese Behandlung verordnen.
Hiergegen hat die Antragsgegnerin am 4. März 2002 Beschwerde eingelegt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist jedoch unbegründet.
Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind gegeben. Danach sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Der erforderliche Anordnungsgrund liegt vor.
Der Antragsteller leidet an einer lebensbedrohlichen Krankheit. Nach seinem glaubhaften Vortrag scheidet bei ihm eine intravenöse und subkutane Anwendung von lnterleukin-2 aus medizinischen Gründen aus. Ein anderes Mittel steht nicht zur Verfügung. Er ist auf die Inhalationstherapie mit lnterleukin-2 zur Vermeidung weiterer Metastasierung und der damit einhergehenden massiven Verschlechterung seines Gesundheitszustandes angewiesen. Nach seinem glaubhaften Vortrag ist er wirtschaftlich nicht in der Lage, die Inhalationstherapie bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung eines Hauptsacheverfahrens zunächst selbst zu finanzieren (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 14. Mai 2002 - L 4 KR 74/02 ER -).
Bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung steht dem Antragsteller auch ein Anordnungsanspruch zu (wie hier Beschlüsse des SG Magdeburg vom 24. Januar 2001 - S 6 KR 6/02 ER -; LSG Sachsen-Anhalt vom 5. Juni 2001 - L 4 B 4/01 KR ER -; SG Hamburg vom 6. Februar 2002 - S 23 KR 76/02 ER -; SG Münster vom 6. Februar 2002 - S 9 KR 5/02 ER -; SG Kiel vom 8. Februar 2002 - S 7 KR 3/02 ER; SG Lüneburg vom 30. April 2002 - S 9 KR 47/02 ER -).
Nach § 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten und Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst auch die Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit sie in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähig sind (§ 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
Bei dem Arzneimittel Proleukin (lnterleukin-2) handelt es sich um ein zugelassenes Arzneimittel. Das wird auch von der Antragsgegnerin nicht bestritten. Sie mißt jedoch der Beschränkung der Zulassung auf die intravenöse und subkutane Anwendung entscheidende Bedeutung bei. Um Proleukin inhalativ anwenden zu können, sei eine besondere Zubereitung mit Humanserum-Albuin-Lösung erforderlich. Die Herstellung einer Lösung aus dem Proleukin-Fertigarzneimittel und der Humanserum-Albuin-Lösung sei ein Mischen zweier Fertigarzneimittel und damit selbst ein Rezepturarzneimittel und kein Fertigarzneimittel. Auf dieses Rezepturarzneimittel finde § 135 SGB V Anwendung. Da der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen dieses Rezepturarzneimittel noch nicht anerkannt habe, bestehe diesbezüglich auch keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen.
Der Senat vermag sich dieser Argumentation der Antragsgegnerin nicht anzuschließen. Im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung kommt vielmehr dem Umstand entscheidende Bedeutung zu, dass es sich bei Proleukin um ein zugelassenes Arzneimittel handelt. Nach dem Vortrag der Antragsgegnerin wird Proleukin in Pulverform in den Verkehr gebracht. Auch zur intravenösen und subkutanen Anwendung muss es also aufbereitet werden. Der Versetzung des Pulvers einerseits mit Wasser (zur intravenösen und subkutanen Anwendung - so der Vortrag der Antragsgegnerin -), andererseits mit Humanserum-Albuin-Lösung (bei inhalativer Anwendung) mißt der Senat keine entscheidungserhebliche Bedeutung bei.
Der Senat sieht sich in seiner Beurteilung bestärkt durch die neueste höchstrichterliche Rechtsprechung zum sog. Off-Label-Gebrauch eines Fertigarzneimittels (BSG, Urteil vom 19. März 2002 - B 1 KR 37/00 R -Presse-Mitteilung Nr. 16/2; das Urteil liegt im Volltext noch nicht vor). Danach besteht unter bestimmten Voraussetzungen eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen für Fertigarzneimittel, die für Anwendungsgebiete verordnet werden, auf die sich die Zulassung nicht erstreckt. Wenn aber schon der Einsatz von Fertigarzneimitteln für Krankheiten in Betracht kommt, für die sie nicht zugelassen sind, so muss Entsprechendes erst recht für Arzneimittel gelten, die zwar in einer anderen Form, aber doch in dem Anwendungsbereich eingesetzt werden, für den sie zugelassen sind. Proleukin ist zur Behandlung des metastasierenden Nierenzellkarzinoms zugelassen. Für diese Erkrankung wird es im vorliegenden Fall auch angewandt.
Schließlich wird die Entscheidung des Senats durch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt (vgl. Beschluss vom 4. Juli 2001 - 1 BvR 165/01 - mwN). Danach folgt aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, dass die Gerichte wegen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Verfügung stehenden kurzen Zeit die anstehenden Rechtsfragen nicht vertieft behandeln müssen und ihre Entscheidung maßgeblich auf der Grundlage einer Folgenabwägung treffen können. Im vorliegenden Fall wären die Folgen einer negativen Entscheidung für den Antragsteller massiv. Sie wären lebensbedrohend. Angesichts der guten Möglichkeit, dass er mit einer Klage im Hauptsacheverfahren durchaus obsiegen kann, sind sie ihm nicht zuzumuten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gerichtskosten sind nicht entstanden (§ 183 Satz 1 SGG).
Diese Entscheidung ist endgültig (§ 177 SGG).
Wolff
Schreck