Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 26.10.2006, Az.: L 9 AS 529/06 ER
Gewährung eines Darlehens zur Begleichung von Mietschulden nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Gericht; Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit; Gefahr der Wohnungslosigkeit; Zulässigkeit einer Heranziehung der Tabelle zu § 8 Wohngeldgesetz zur Bestimmung des angemessenen Mietzins
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 26.10.2006
- Aktenzeichen
- L 9 AS 529/06 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 25440
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:1026.L9AS529.06ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 19.07.2006 - AZ: S 48 AS 833/06 ER
Rechtsgrundlagen
- § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
- § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II
Redaktioneller Leitsatz
Ein Hilfsbedürftiger, dem wegen Mietschulden bereits die Wohnung gekündigt wurde, hat gemäß § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II einen Anspruch auf ein Darlehen zur Sicherung seiner Unterkunft, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Nicht gerechtfertigt ist die Gewährung eines derartigen Darlehens nur in Fällen, in denen es dem Hilfesuchenden zuzumuten ist, sein Schonvermögen einzusetzen, oder in denen der Hilfebedürftige die Notlage gezielt zu Lasten des Leistungsträgers herbeigeführt hat.
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichtes Hannover vom 19. Juli 2006 wird aufgehoben.
Die Beschwerdegegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, einen Betrag in Höhe von Euro 3.206,63 für den Ausgleich der Mietschulden des Beschwerdeführers für die Wohnung D., 1. Obergeschoss rechts in E. als Darlehen zu gewähren.
Die Beschwerdegegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeführers in erster und zweiter Instanz zu tragen.
Dem Beschwerdeführer wird Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt F., G., gewährt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines Darlehens zur Begleichung von Mietschulden nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
Der 1969 geborene Beschwerdeführer lebt mit seinem 1999 geborenen Sohn H. und seinem 1997 geborenen Pflegesohn I. in einer 73 qm großen Wohnung in der D. in G ... Für diese Wohnung hat er ausweislich des Mietvertrages vom 30. März 2004 eine monatliche Miete in Höhe von 450,00 Euro zuzüglich eines Betriebskostenvorschusses von 70,00 Euro zu zahlen.
Der Beschwerdeführer war bis April 2006 bei der Firma J. in Hannover beschäftigt. Er hat dort einen Bruttoverdienst von 1.600,00 Euro monatlich erzielt.
Im April 2006 wandte er sich an die Beschwerdegegnerin und teilte mit, sein Arbeitsverhältnis sei noch während der Probezeit beendet worden. Er beantragte, ihm Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Dem entsprach die Beschwerdegegnerin mit Bescheid vom 19. April 2006 für den Zeitraum Mai bis September 2006. Hierbei erkannte sie die Kosten der Unterkunft (KdU) des Beschwerdeführers in voller Höhe an. Mit weiterem Bescheid vom 27. April 2006 gewährte die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer ein Darlehen zur Abdeckung von aufgelaufenen Energieschulden in Höhe von 902,68 Euro. Gleichzeitig wurde mit dem Beschwerdeführer vereinbart, von seiner laufenden Hilfe monatlich 50,00 Euro zur Begleichung dieses Darlehens einzubehalten.
Am 2. Mai 2006 wandte sich der Beschwerdeführer erneut an die Beschwerdegegnerin. Er teilte mit, es seien Mietrückstände in Höhe von 3.206,63 Euro aufgelaufen, und beantragte, ihm insoweit ein Darlehen aus Mitteln des SGB II zu gewähren. Weiter berichtete er unter Vorlage von Unterlagen, der Vermieter habe die Wohnung bereits fristlos gekündigt und betreibe nunmehr das zivilgerichtliche Räumungsverfahren.
Mit Bescheid vom 2. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2006 lehnte die Beschwerdegegnerin die Gewährung eines Darlehens zur Abdeckung der Mietrückstände ab. Zur Begründung wies sie im Wesentlichen darauf hin, die Wohnung sei grundsicherungsrechtlich gesehen zwar angemessen groß, jedoch nach ihren Maßstäben zu teuer. Es sei nicht gerechtfertigt, Mietschulden für eine grundsicherungsrechtlich unangemessen teuere Wohnung zu übernehmen.
Am 13. Juni 2006 hat der Beschwerdeführer bei dem Sozialgericht (SG) Hannover beantragt, die Beschwerdegegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ein Darlehen zur Begleichung der Mietschulden zu gewähren.
Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 19. Juli 2006 abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, eine Eilbedürftigkeit könne nicht erkannt werden, da der Beschwerdeführer auf Anfragen des Gerichts nicht reagiert habe.
Gegen den am 25. Juli 2006 zugestellten Beschluss ist am 25. August 2006 Beschwerde eingelegt worden.
Das SG hat am 29. August 2006 beschlossen, der Beschwerde nicht abzuhelfen und die Sache am 4. September 2006 dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.
Der Beschwerdeführer weist im Beschwerdeverfahren erneut darauf hin, er sei darauf angewiesen, ein Darlehen zu erhalten, um die Wohnung für sich und seine beiden Söhne zu erhalten. Die Erlangung einer billigeren Wohnung sei für ihn insbesondere schwierig, da sein Sohn H. an Asthma erkrankt sei und an die zu findende Wohnung daher erhöhte Anforderungen zu stellen seien.
Die Beschwerdegegnerin ist nach wie vor der Auffassung, die Gewährung des Darlehens sei grundsicherungsrechtlich nicht gerechtfertigt, da die Wohnung für die Verhältnisse in ihrem Zuständigkeitsbereich unangemessen teuer sei.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beschwerdegegnerin Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
II.
Die zulässige Beschwerde ist auch begründet.
Das SG hat zu Unrecht entschieden, dass der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht glaubhaft gemacht hat. Der Beschwerdeführer hat nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich einen Anspruch gegen die Beschwerdegegnerin auf Gewährung eines Darlehens zur Abdeckung der aufgelaufenen Mietrückstände. Der Bescheid der Beschwerdegegnerin vom 2. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2006 ist voraussichtlich rechtswidrig.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass das Vorliegen eines Anordnungsgrundes (Eilbedürftigkeit) und eines Anordnungsanspruchs (materieller Anspruch in der Sache) glaubhaft gemacht wird.
Vorliegend ergibt sich die Eilbedürftigkeit der Sache ohne weiteres daraus, dass der Beschwerdeführer durch Vorlage von einschlägigen Unterlagen glaubhaft gemacht hat, dass ihm die Wohnung wegen der aufgelaufenen Mietrückstände bereits fristlos gekündigt wurde und insoweit ein zivilgerichtliches Räumungsverfahren eingeleitet ist (Kündigungsschreiben, anwaltliches Schreiben unter Hinweis auf das eingeleitete Räumungsverfahren).
Der Anordnungsanspruch ergibt sich hier aus § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II (in der Fassung des Artikels 1 Nr. 6 c des Gesetzes vom 24. März 2006, BGBl. I Seite 558 - in Kraft getreten am 1. April 2006). Nach dieser Vorschrift sollen Schulden übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Insoweit ist zwischen den Beteiligten unumstritten, dass die Gefahr der Wohnungslosigkeit vorliegt. Die Beschwerdegegnerin macht voraussichtlich zu Unrecht geltend, die Übernahme der Mietschulden sei nicht "gerechtfertigt" im Sinne dieser Vorschrift.
§ 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II in der nunmehr geltenden Fassung übernimmt die Formulierung in § 34 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII). Diese Vorschrift wiederum hat inhaltsgleich den bisherigen § 15 a des Bundessozialhilfegesetzes übernommen (vgl. hierzu: Wenzel in Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 3. Aufl. 2005, § 34 Rdnr. 2 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Daher kann zur Auslegung von § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II ohne weiteres auf Literatur und Rechtsprechung zu § 34 SGB XII und § 15 a BSHG zurückgegriffen werden. Insoweit ergibt sich zunächst, dass durch die Formulierung in § 22 Abs. 5 Satz 2 das Ermessen der Beschwerdegegnerin eingeschränkt wird. Wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm vorliegen, so besteht im Regelfall ein Rechtsanspruch auf Hilfe. Diese gesetzgeberische Konstruktion geht zurück auf die Erkenntnis, dass die Sicherung der Wohnungsversorgung Voraussetzung für das Gelingen aller sozialen Hilfen ist und dass auch aus finanzwirtschaftlicher Sicht die Sicherung der Unterkunft wesentlich günstiger ist als die Beseitigung einmal eingetretener Obdachlosigkeit (vgl. Wenzel a.a.O. Rdnr. 4; Birk in LPK - SGB XII, 7. Aufl., § 34 Rdnr. 11).
Insoweit lässt der Senat ausdrücklich dahin stehen, ob die derzeitigen Unterkunftskosten des Beschwerdeführers und seiner Söhne in dem Maße "unangemessen" sind, wie dies von der Beschwerdegegnerin zu Grunde gelegt wird. Dies könnte schon deswegen zweifelhaft sein, weil die Beschwerdegegnerin zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenze nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II eigene Bemessungsgrenzen zu Grunde legt. Diese Bemessungsgrenzen knüpfen - entgegen der Rechtssprechung des erkennenden Gerichts - in Ermanglung eines Mietspiegels oder anderer objektivierbarer, empirischer Grundlagen nicht an die Tabelle zu § 8 Wohngeldgesetz an. Wird diese Tabelle - wie sie auch der erkennende Senat in aller Regel im einstweiligen Rechtsschutzverfahren anwendet, herangezogen, so ergibt sich für einen Dreipersonenhaushalt im Gebiet der Stadt Hannover unter Berücksichtigung der Mietenstufe V in der rechten Spalte ein Wert von 505,00 Euro monatlich. Der vom Beschwerdeführer monatlich zu entrichtende Mietzins von 520,00 Euro ist somit nur unwesentlich höher als dieser Wert. Es mag zwar darüber gestritten werden, ob es für das Gebiet der Stadt Hannover zutreffend ist, auf die Wohngeldtabelle abzustellen (vgl. hierzu: Senatsbeschluss vom 8. März 2006 in L 9 AS 69/06 ER; vgl. aber auch Beschluss vom 7. August 2006 L 9 AS 211/06 ER, in dem deutlich gemacht wird, dass es dafür auf eine gesteigerte Glaubhaftmachung seitens des Leistungsträgers ankommt). Hier war indessen zu berücksichtigten, dass der Beschwerdeführer zuvor nicht im Leistungsbezug gestanden hat und daher auch nicht darauf hingewiesen worden war, dass seine KdU möglicherweise unangemessen sind.
In der vorliegenden Konstellation kommt es für die Auslegung von § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II nach Auffassung des Senats aber hierauf letztlich nicht an. Die Vorschrift soll nämlich zur Vermeidung von Obdachlosigkeit sicher stellen, dass die Kosten zur Sicherung der Unterkunft so lange übernommen werden, bis ein Umzug in eine angemessenen Wohnung möglich ist (vgl. Wenzel a.a.O. Rdnr. 7; Falterbaum in Hauck/Noftz, SGB XII, § 34 Rdnr. 12). Allein eine derartige Auslegung wird dem Ziel der Norm gerecht. Alle Maßnahmen zur Sicherung der Unterkunft sind fiskalisch gesehen grundsätzlich günstiger als die Behebung eingetretener Obdachlosigkeit. Daher scheidet eine Versagung einer derartigen Hilfe mit dem Argument, der Anspruchsberechtigte habe die Notlage selbst verschuldet, aus (hierzu: Streichsbier in Gube/ Wahrendorf, SGB XII, § 34 Rdnr. 7). Nicht gerechtfertigt ist die Gewährung eines derartigen Darlehens danach nur in Fällen, in denen es dem Hilfesuchenden zuzumuten ist, etwa sein Schonvermögen in Anspruch zu nehmen, oder in denen etwa klar erkennbar ist, dass der Hilfebedürftige die Notlage gezielt zu Lasten des Leistungsträgers herbeigeführt hat.
Allein dies wird auch der Gesamtkonzeption des § 22 SGB II gerecht. Dieser geht grundsätzlich davon aus, dass bei neu in den Bezug von SGB II Leistungen Kommenden zunächst die Unterkunftskosten in voller Höhe zu übernehmen sind (§ 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Erst wenn es dem Hilfeberechtigten binnen sechs Monaten nach einem Hinweis des Leistungsträgers nicht gelingt, die KdU auf ein angemessenes Niveau zu senken, ist der Leistungsträger danach berechtigt, nur noch in angemessener Höhe zu zahlen. Diese gesetzgeberische Konzeption würde verfehlt, wenn der Leistungsträger der Übernahme von aufgelaufenen Mietschulden entgegenhalten könnte, die KdU sei nach seinen Maßstäben unangemessen. Damit würde die in § 22 Abs. 1 eingebaute Schutzfrist von sechs Monaten zur Absenkung des Niveaus der KdU möglicherweise erheblich verkürzt.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.
Dem Beschwerdeführer war in Anwendung von § 73 a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu gewähren.
Dieser Beschluss ist für die Beteiligten unanfechtbar, § 177 SGG.