Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 18.10.2006, Az.: L 5 VG 6/05
Feststellung von Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) und die Gewährung von Beschädigtengrundrente; Begriff ''Angriff '' nach dem Opferentschädigungsgesetz; Herauszerren aus dem Auto und Brechen des Widerstandes durch Beamte; Angriff zur Durchsetzung der Rechtsordnung ; Folgen einer Mitverursachung der Schädigung durch den Geschädigten; Auswirkungen des Erfolgens des Widerstands in Notwehr
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 18.10.2006
- Aktenzeichen
- L 5 VG 6/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 25274
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:1018.L5VG6.05.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 28.01.2005 - AZ: S 12 VG 60/99
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs. 1 S. 1 OEG
- § 1 Abs. 1 S. 1 OEG
Fundstelle
- Breith. 2007, 244-249
Redaktioneller Leitsatz
Ein Betroffener, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Polizeiangriff verletzt wurde, hat Anspruch auf Gewährung von Beschädigtengrundrente. Ein Irrtum der Polizeibeamten über die Identität des Opfers berührt nicht die Vorsätzlichkeit ihres Handelns im Sinne des OEG, auch wenn sie mangels Vorsatz strafrechtlich nicht verantwortlich sind.
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 28. Januar 2005 wird insoweit geändert, als der Beklagte zur Zahlung von Beschädigtengrundrente (anstatt von Beschädigtenversorgung) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. verurteilt wird. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen. Der Beklagte erstattet dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitbefangen sind die Feststellung von Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) und die Gewährung von Beschädigtengrundrente.
Der 1951 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er verfügt über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland. Er wurde am 19. Juli 1996 um ca. 21.27 Uhr von einem Mobilen Einsatzkommandos (MEK) der Polizei festgenommen. Die MEK-Beamten hatten zur Vorbereitung einer Festnahme des wegen Mordversuchs und schwerer Brandstiftung mittels Haftbefehl gesuchten H. (im Folgenden: P.) bereits seit längerem das Gebäude des "Deutsch-Kurdischen Freundschaftsverein I." in J. überwacht, in dem nach den Erkenntnissen der Polizei auch der zum Führungskreis der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zählende P. verkehren sollte. Bei dieser Observierung wurde der Kläger mehrfach beim Aufsuchen des Gebäudes beobachtet, wobei die Polizei ihn irrtümlich für den P. hielt. Als der Kläger am 19. Juli 1996 in seinem Auto vor dem Deutsch-Kurdischen Freundschaftsverein vorfuhr, griff das MEK zu. Einige der eingesetzten Polizeibeamten waren mittels Sturmhauben vermummt. Der Kläger, der sich heftig wehrte, wurde aus seinem Auto gezerrt und zu Boden geworfen / gedrückt. Ihm wurde ein Jutebeutel über den Kopf gezogen, damit er die unvermummten MEK-Beamten nicht erkennen konnte. Erst nachdem dem Kläger um ca. 21.40 Uhr im Polizeidienstgebäude der Beutel wieder abgenommen wurde, stellte sich die Verwechslung heraus. Der Kläger wurde wegen der erlittenen Verletzungen noch am selben Abend ins Krankenhaus eingeliefert. Über diesen insoweit unstreitigen Sachverhalt hinaus behauptet der Kläger, dass sich die MEK-Beamten nicht als solche zu erkennen gegeben hätten. Er sei ohne Vorwarnung aus dem Auto gezerrt worden und davon ausgegangen, Opfer eines gewalttätigen faschistischen Überfalls geworden zu sein. Er sei brutal misshandelt worden. Ihm sei außer dem Jutebeutel auch eine Nasenklammer aufgesetzt worden.
Die Staatsanwaltschaft K. stellte das gegen die MEK-Beamten wegen u.a. Freiheitsberaubung und Körperverletzung geführte Ermittlungsverfahren ein (Einstellungsverfügung vom 6. Juni 1997 - Az ...): Die vom Kläger geschilderten Vorkommnisse anlässlich der Festnahme könnten nicht als erwiesen angesehen werden. Die MEK-Beamten seien als Polizisten erkennbar gewesen und hätten dem Kläger auf türkisch mitgeteilt, dass es sich um einen Polizeieinsatz handele. Sie hätten das Maß der bei einer Festnahme erlaubten Gewaltanwendung nicht überschritten. Aufgrund des Irrtums über die Identität des Klägers hätten sich die MEK-Beamten in einem die Strafbarkeit ausschließenden sog. Erlaubnistatbestandsirrtum befunden. Die vom Kläger gegen die Einstellung eingelegte Beschwerde wurde zurückgewiesen (Beschwerdebescheid der Generalstaatsanwaltschaft K. vom 14. Januar 1998 -L.).
Der vom Kläger gegen das Land Niedersachsen (vertreten durch die Bezirksregierung K.) geführten Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld wurde erstinstanzlich insoweit stattgegeben, als das Land Niedersachsen u.a. zur Zahlung von Verdienstausfallschaden und Schmerzensgeld verurteilt wurde. Das Urteil wurde damit begründet, dass die Ermittlungen zur Identität des Klägers im Vorfeld der Festnahme unzureichend gewesen seien. Dagegen hätten die MEK-Beamten bei der eigentlichen Festnahmeaktion nicht gegen das Übermaßverbot verstoßen. Auch sei der Einsatz einer Nasenklammer oder eines Narkosepulvers nicht nachgewiesen. Durch den Polizeieinsatz sei es zu einem Schädel-Hirntrauma, Prellmarken an der Stirn und am rechten Jochbein, zu einer kleinen Platzwunde auf dem Nasenrücken, einer Schwellung am Hinterkopf links sowie an beiden Handgelenken, zu schmalen zirkulären Hautquetschmarken, Prellmarken mit Schürfungen, einem Hörverlust mit begleitenden Hörgeräuschen und zu einer posttraumatischen Belastungsstörung gekommen (Urteil des Landgerichts K. vom 21. Januar 2003 -M.). Dieses Urteil wurde nicht rechtskräftig; vielmehr endete das hiergegen geführte Berufungsverfahren mit folgendem Vergleich (vgl. Beschluss des Oberlandesgerichts K. vom 18. August 2004 - Az.: N.):
"1.
Das beklagte Land verpflichtet sich, an den Kläger sofort einen Schadensersatz- und Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 100.000,00 EUR zu zahlen. In diesem Betrag sind 12.500,00 EUR Schmerzensgeld und 22.500,00 EUR Verdienstausfall für den Zeitraum vom 19.07.1996 bis März 2004 enthalten, und zwar ohne die Ansprüche, die bereits gem. § 116 Abs. 1 SGB X auf die Sozialversicherungsträger und Träger der Sozialhilfe übergegangen sind. Bei dem restlichen Betrag in Höhe von 65.000,00 EUR handelt es sich um eine Kapitalabfindung für den gesamten Verdienstausfallschaden ab April 2004. 2. Damit sind sämtliche Ansprüche aus dem Vorfall vom 19.07.1996 abgegolten. 3. Die Kosten des Rechtsstreits und dieses Vergleichs trägt das beklagte Land zu 80%, der Kläger zu 20%."
Den am 4. Dezember 1997 gestellten, auf Leistungen nach dem OEG gerichteten Antrag lehnte der Beklagte zunächst mit der Begründung ab, dass die Einwirkungen der Polizeibeamten auf den Kläger das zulässige Maß nicht überschritten hätten. Damit sei eine Rechtswidrigkeit der Festnahme nicht nachgewiesen (Bescheid vom 16. Juli 1999). Den am 19. August 1999 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte dagegen mit der Begründung zurück, der Kläger habe erkennen können, dass es sich um einen Polizeieinsatz gehandelt habe. Die weitere Gewaltanwendung sei nur wegen des von ihm geleisteten Widerstandes erforderlich gewesen. Eine strafbare Freiheitsberaubung bzw. Körperverletzung liege nicht vor, weil sich die MEK-Beamten in einem sog. Erlaubnistatbestandsirrtum befunden hätten. Eine Rechtfertigung für die Festnahme ergebe sich zudem aus §§ 127, 163b Strafprozessordnung (StPO). Der vom Kläger im Widerspruchsverfahren geltend gemachte § 1 Satz 2 OEG sei nicht einschlägig, weil die MEK-Beamten nicht im Rahmen eines nur irrtümlich angenommenen, sondern eines tatsächlich vorliegenden Rechtfertigungsgrundes gehandelt hätten (Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 1999).
Der Kläger hat am 15. November 1999 beim Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben. Er hat sein Vorbringen hinsichtlich des Geschehensablaufs und der aus seiner Sicht auf die Festnahme zurückzuführenden Gesundheitsstörungen vertieft. Die Verwechslung hätte bei sorgfältiger Ermittlung vermieden werden können. Die Festnahmeaktion sei ihm gegenüber rechtswidrig gewesen. Im Laufe des Klageverfahrens hat sich der Beklagte der Rechtsauffassung des Klägers angeschlossen, wonach die Festnahmehandlung als rechtswidrig anzusehen ist (Schriftsatz vom 8. Oktober 2004). Es fehle jedoch an einem tätlichen Angriff. Die Polizisten hätten weder in feindseliger Willensrichtung gehandelt noch seien die gesetzlichen Vorschriften für eine Festnahme verletzt worden. Es sei nicht zu einem kriminellen Unrecht gekommen, sondern nur zu einer fahrlässigen Personenverwechslung. Für die erlittenen Nachteile sei der Kläger bereits zivilrechtlich entschädigt worden. Unabhängig davon könnten wegen des vor dem OLG K. geschlossenen Vergleichs allenfalls einkommensunabhängige OEG-Leistungen gewährt werden; einkommensabhängige OEG-Leistungen seien wegen der Abgeltungsklausel ausgeschlossen. Der Kläger hat im erstinstanzlichen Klageverfahren die vom Landgericht K. eingeholten Gutachten des Prof. Dr. O. (P.) vom 29. Mai 2001 (nebst ergänzender Stellungnahme vom 15. November 2001) und des HNO-Arztes Prof. Dr. Q. vom 25. September 2002 zur Gerichtsakte gereicht.
Das SG hat den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zur Feststellung der Gesundheitsstörungen "Posttraumatische Belastungsstörung und einseitige Innenohrschwerhörigkeit links mit begleitenden Ohrgeräuschen" als Schädigungsfolgen nach dem OEG sowie zur Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. verurteilt. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass es sich - was mittlerweile zwischen den Beteiligten auch unstreitig sei - bei der Festnahme um eine rechtswidrige Handlung der MEK-Beamten gehandelt habe. Die Anwendung körperlicher Gewalt gegen den Klägers sei auch vorsätzlich erfolgt. Dass sich die MEK-Beamten infolge der Verwechslung in einem sog. error in persona befunden hätten, ändere wegen der Gleichwertigkeit des vorgestellten (P.) und des verletzten Objekts (Kläger) nichts an der Vorsätzlichkeit der Handlung. Der Angriff sei tätlich erfolgt, da die MEK-Beamten willentlich körperlich wirkenden Zwang auf den Kläger ausgeübt hätten. Eine feindselige Willensrichtung sei entbehrlich, da auch polizeiliche Handlungen nicht von der Tendenz geprägt sein dürften, das Opfer zum bloßen Objekt herabzuwürdigen. Die auf die rechtswidrige Festnahmeaktion zurückzuführende posttraumatische Belastungsstörung bedinge als ausgeprägte depressive Störung eine MdE von 30 v.H ... Aus der Innenohrschwerhörigkeit resultiere keine messbare MdE; die sich aus den Ohrgeräuschen ergebende MdE von maximal 10 v.H. wirke sich nicht erhöhend auf die Gesamt-MdE aus. Versagungsgründe nach § 2 OEG seinen nicht erkennbar, zumal sich der Beklagte ausdrücklich nicht auf Nr. 2 des zivilgerichtlichen Vergleichs berufen habe (Urteil vom 28. Januar 2005).
Gegen das dem Beklagten am 8. März 2005 zugestellte Urteil richtet sich seine am 29. März 2005 eingelegte Berufung. Der Beklagte trägt vor, dass der Polizeieinsatz unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze erfolgt sei. Lediglich bei der Vorbereitung (Identitätsüberprüfung) sei es zu Versäumnissen gekommen. Mangels Feindseligkeit der handelnden MEK-Beamten liege kein tätlicher Angriff vor. Das SG habe auch nicht zur Gewährung von Beschädigtenversorgung verurteilen dürfen, weil Nr. 2 des zivilgerichtlichen Vergleichs der Gewährung einkommensabhängiger Leistungen entgegenstehe. Hierauf habe sich der Beklagte auch bereits erstinstanzlich ausdrücklich berufen. Lediglich einkommensunabhängige OEG-Leistungen (also insbesondere Beschädigtengrundrente) würden durch Nr. 2 des Vergleichs nicht ausgeschlossen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des SG Braunschweig vom 28. Januar 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen, soweit sie über eine Abänderung des Urteils dahingehend, dass anstelle zur Gewährung von Beschädigtenversorgung zur Gewährung von Beschädigtengrundrente nach einer MdE von 30 v.H. gemäß § 30 Abs. 1 BVG verurteilt wird, hinausgeht.
Der Kläger trägt vor, dass die Festnahmeaktion im Hinblick auf seine Person mangels Rechtfertigungsgrund rechtswidrig und auch feindselig gewesen sei. Er beschränkt sein Rechtsschutzbegehren ausdrücklich auf die Gewährung einer Beschädigtengrundrente (anstatt Beschädigtenversorgung) nach einer MdE von 30 v.H. (Schriftsätze vom 1. Februar und 26. September 2006).
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 25. und 26. September 2006 einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakten, die den Kläger betreffende Beschädigtenakte (Antragsl.-Nr.: R.), die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft K. (S.) und die aus der Akte des Landgerichts K. ( ...) beigezogenen Unterlagen verwiesen. Sie haben der Entscheidung zugrunde gelegen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist nur insoweit begründet, als dass infolge der Beschränkung des Klagebegehrens (Beschädigtengrundrente anstatt Beschädigtenversorgung) das erstinstanzliche Urteil entsprechend abzuändern ist. Im Übrigen ist die Berufung unbegründet.
I.
Das SG hat zutreffend einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff auf den Kläger bejaht.
1.
Ein Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper des Opfers gerichtete gewaltsame Einwirkung (BSG, Urteil vom 3. Februar 1999 - B 9 VG 7/97 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 14 m.w.N. aus der Rechtsprechung). Sowohl beim Herauszerren aus dem Auto als auch beim Brechen des Widerstandes des Klägers wirkten die MEK-Beamten körperlich, somit gewaltsam auf den Kläger ein. Diese Einwirkung erfolgte - entgegen der Auffassung des Beklagten (vgl. etwa Schriftsatz vom 8. Oktober 2004 und Berufungsbegründung vom 18. März 2005) - auch in feindseliger Willensrichtung. Insoweit kommt es lediglich auf den natürlichen Willen des Handelnden an, nicht dagegen auf die rechtliche Bewertung dieses Handelns. Bei natürlicher Betrachtungsweise erfolgte die Festnahme nicht etwa in freundschaftlicher oder in neutraler Willensrichtung, sondern war bewusst gegen den Kläger gerichtet. Denn die handelnden MEK-Beamten sahen in dem Kläger einen mit Haftbefehl gesuchten, gewaltbereiten und wahrscheinlich bewaffneten Straftäter, dessen Widerstand ggf. zu brechen war. Entsprechend massiver Widerstand des Festzunehmenden wurde von den MEK-Beamten erwartet; infolge der vermuteten Bewaffnung des Festzunehmenden befanden sich die MEK-Beamten nach ihrer Vorstellung selbst in erheblicher eigener Gefahr. Dass eine solche staatliche Gewaltanwendung bei rechtmäßigen Festnahmehandlungen keinen Rechtsbruch darstellt, sondern gerade der Durchsetzung der Rechtsordnung dient, stellt das Vorliegen eines Angriffs i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht in Frage. Schließlich enthält das Tatbestandsmerkmal "Angriff" keine rechtliche Würdigung, sondern dient der Abgrenzung von gezielt gegen Personen gerichteten gewaltsamen Einwirkungen einerseits von nicht entschädigungspflichtigen Handlungen andererseits (wie z.B. Neckereien, unbewusst ausgeführten Handlungen, sozialadäquaten körperlichen Kontakte auf Volksfesten [BSG, Urteil vom 23. Oktober 1995 - 9a RVg 9/85, SozR 3800 § 1 Nr. 6] oder Rangeleien unter spielenden Kindern im Vorschulalter [Urteil des erkennenden Senats vom 19. Juli 2006 - L 5 VG 9/04]). Wie bei allen anderen Angriffen i.S.d. OEG scheidet auch bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs durch staatliche Organe eine Entschädigungspflicht nach dem OEG allenfalls dann aus, wenn es an anderen materiellen Anspruchsvoraussetzungen fehlt.
2.
Bereits die Festnahme als solche (also auch unter Außerachtlassung der weiteren Gewaltanwendung infolge des Widerstands des Klägers) war rechtswidrig. Soweit der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 1999 eine Rechtfertigung der Festnahme nach § 127 bzw. § 163b StPO angenommen hat, kann dieser Rechtsauffassung nicht gefolgt werden. Denn die Festnahme erfolgte weder als vorläufige Festnahme (Festnahme auf frischer Tat, § 127 Abs. 1 StPO) oder als Festnahme wegen Gefahr im Verzug (§ 127 Abs. 2 StPO) noch zum Zwecke der Identitätsfeststellung (§ 163b StPO). Vielmehr war die Festnahme auf den gegenüber P. erlassenen Haftbefehl gestützt (§ 114 StPO), wobei dieser durch die zuständige Staatsanwaltschaft (§ 36 Abs. 2 Satz 1 StPO) mittels der Polizei vollstreckt werden sollte. Zwar kann eine solche Festnahme erforderlichenfalls auch unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchgesetzt werden (vgl. Boujong in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Auflage 2003, § 114 Rn. 21), allerdings lag hinsichtlich des Klägers überhaupt kein Haftbefehl vor. Seine aufgrund eines Irrtums erfolgende Festnahme stellt sich somit als rechtswidrig dar. Dies ist zwischen den Beteiligten mittlerweile auch unstreitig (vgl. Schriftsatz des Beklagten vom 8. Oktober 2004). Dass die beteiligten MEK-Beamten infolge des Identitätsirrtums von einer rechtmäßigen Anwendung des unmittelbaren Zwangs ausgingen, wirkt sich nach strafrechtlichen Grundsätzen nicht auf die Rechtswidrigkeit des Angriffs, sondern allenfalls auf den Vorsatz aus (s.u. 3.).
3.
Entschädigungsansprüche nach dem OEG kommen grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn der rechtswidrige tätliche Angriff vorsätzlich erfolgt. Allerdings verzichtet das OEG in dem Fall, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt hat, auf einen Vorsatz im strafrechtlichen Sinn (§ 1 Abs. 1 S. 2 OEG). Damit hat der Kläger trotz des Irrtums der MEK-Beamten Anspruch auf Leistungen nach dem OEG.
Das SG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, dass der Irrtum der MEK-Beamten über die Identität des Klägers die Vorsätzlichkeit ihres Handelns nicht berührt. Sollte es sich hierbei um einen sog. error in persona gehandelt haben (Irrtum über das Tatobjekt, vgl. hierzu: Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Auflage 2006, § 15 Rn. 59f.), würde wegen der Gleichwertigkeit der Tatobjekte (P. bzw. der Kläger) auch die Festnahmehandlung zu Lasten des Klägers als vorsätzlich anzusehen sein (vgl. zur Unbeachtlichkeit eines solchen Irrtums: BGH, Urteil vom 25. Oktober 1990, BGHSt 37, 216 [BGH 25.10.1990 - 4 StR 371/90] m.w.N.). Möglicherweise liegt jedoch nicht einmal ein error in persona vor. Hierfür spricht, dass die MEK-Beamten im Vorfeld der Festnahme den Kläger bereits mehrfach observiert und dessen Festnahme geplant hatten. Damit richtete sich die Festnahmehandlung am 19. Juli 1996 aus Sicht der MEK-Beamten gegen die "richtige" (nämlich die vorab observierte) Person. Letztlich kann der erkennende Senat allerdings offen lassen, ob es sich bei einem Irrtum nur über die Identität, nicht dagegen über die Person des Opfers um einen error in persona oder (bzw. auch) um einen sog. Erlaubnistatbestandsirrtum handelt. Denn auch ein sog. Erlaubnistatbestandsirrtum der MEK-Beamten führt nicht zu einem Ausschluss der Ansprüche des Klägers nach dem OEG. Da die MEK-Beamten den Kläger für den mit Haftbefehl gesuchten P. hielten, stellten sie sich irrtümlich einen Sachverhalt vor, in dem ihre Festnahmehandlung durch den gem. § 114 StPO erlassenen Haftbefehl gerechtfertigt gewesen wäre. Sie befanden sich somit in einem sog. Erlaubnistatbestandsirrtum. Ein solcher Erlaubnistatbestandsirrtum führt nach der im Strafrecht herrschenden sog. eingeschränkten Schuldtheorie dazu, dass in direkter oder analoger Anwendung des § 16 Strafgesetzbuch (StGB) der Vorsatz entfällt und stattdessen eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung in Betracht kommt (vgl. im Einzelnen: Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 27. Auflage 2006, § 16 Rn. 15 ff.). Allerdings löst sich - wie bereits ausgeführt - das Opferentschädigungsrecht insoweit von der strafrechtlichen Dogmatik und verzichtet im Falle des Erlaubnistatbestandsirrtums auf einen Vorsatz im strafrechtlichen Sinn (§ 1 Abs. 1 S. 2 OEG, vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 25. März 1999 - B 9 VG 1/98 R, BSGE 84, 54). Hierdurch werden Opfer einer sog. Putativnotwehr - wie im vorliegenden Fall der Kläger - in den Kreis der entschädigungsberechtigten Personen einbezogen, obwohl der Täter u.U. strafrechtlich nicht verantwortlich ist (vgl. im Einzelnen: Kunz/Zellner, OEG, 4. Auflage 1999, § 1 Rn. 23 m.w.N.; Louven, SozSich 2000, 199, 205). Die Frage, ob - wie vom Kläger behauptet - die MEK-Beamten sich nicht nur über das Vorliegen einer Rechtfertigungslage, sondern zusätzlich auch über die Reichweite des (irrtümlich angenommenen) Rechtfertigungsgrundes geirrt haben (Überschreitung des notwendigen Maßes der Gewaltanwendung, vgl. zu den strafrechtlichen Folgen: Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, a.a.O., § 16 Rn. 19 m.w.N.), ist im vorliegenden Fall nicht mehr entscheidungserheblich. Denn bereits die Sonderregelung des § 1 Abs. 1 S. 2 OEG führt dazu, dass trotz des Erlaubnistatbestandsirrtums und einer daraus resultierenden fehlenden strafrechtlichen Verantwortlichkeit der MEK-Beamten eine Entschädigung des Klägers nach dem OEG zu erfolgen hat.
II.
Dem Klägers können Leistungen nach dem OEG auch nicht mit der Begründung versagt werden, dass er die streitbefangene Schädigung mit verursacht habe (§ 2 Abs. 1 Satz 1 OEG). Zwar hat der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 1999 ausgeführt, dass die weitergehende Gewaltanwendung durch die MEK-Beamten nur wegen des Widerstands des Klägers gegen seine Festnahme erforderlich gewesen sei. Da dieser Widerstand jedoch in Notwehr erfolgte, kann er dem Kläger nicht als Mitverursachung vorgeworfen werden. Schließlich führt auch ein Erlaubnistatbestandsirrtum des Angreifers (hier: der MEK-Beamten) nicht zum Wegfall der zugunsten des Angegriffenen (hier: des Klägers) bestehenden Notwehrlage. Vielmehr setzt eine Notwehrlage weder eine Vorsätzlichkeit noch eine Schuldhaftigkeit des Angriffs voraus (vgl. § 32 Abs. 2 StGB). Zudem hat der Kläger die MEK-Beamten auch nicht gezielt angegriffen, sondern sich lediglich seiner Fixierung / Festnahme widersetzt.
III.
Das SG hat die Gesundheitsstörungen "Posttraumatische Belastungsstörung und einseitige Innenohrschwerhörigkeit links mit begleitenden Ohrgeräuschen" rechtsfehlerfrei als Schädigungsfolgen nach dem OEG festgestellt. Die Feststellung stützt sich auf die im Wege des Urkundsbeweises beigezogenen Gutachten des Prof. Dr. O. vom 29. Mai 2001 (nebst ergänzender Stellungnahme vom 15. November 2001) und des Prof. Dr. Q. vom 25. September 2002. Auch nach Auffassung des ärztlichen Beraters des Beklagten, Dr. T., liegt beim Kläger eine posttraumatische Belastungsreaktion vor (beratungsärztliche Stellungnahme vom 21. Mai 1999). Die Feststellung von Schädigungsfolgen durch das SG wird vom Beklagten zudem ausdrücklich nicht angegriffen (vgl. Schriftsatz vom 6. Juni 2005).
IV.
Die vom SG vorgenommene Bewertung der schädigungsbedingten MdE mit 30 v.H. erfolgte ebenfalls rechtsfehlerfrei. Bei der Bestimmung der schädigungsbedingten MdE orientiert sich der Senat - wie auch das das SG - an den vom (damaligen) Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebenen "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", Ausgabe 2004 (AHP 2004). Diese rechtsnormähnlichen (BSG, Urteil vom 11. Oktober 1994 - 9 RVs 1/93, BSGE 75, 176) AHP bilden das Ergebnis langer medizinischer Erfahrungen und stellen ein geschlossenen Beurteilungsgefüge zur MdE dar (BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 - 9/9a RVs 1/91, BSGE 72, 285). Damit dient ihre Anwendung vor allem auch der Gleichbehandlung aller Beschädigten (BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 - 9 RVs 3/98, SozR 3870 § 4 Nr. 3).
In Übereinstimmung mit dem SG und unter Berücksichtigung des Gutachtens des Prof. Dr. O. vom 29. Mai 2001 (nebst ergänzender Stellungnahme vom 15. Mai 2001) bewertet auch der erkennende Senat die beim Kläger bestehende posttraumatische Belastungsstörung als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die nach den Vorgaben der AHP 2004, S. 48 eine MdE von 30 v.H. bedingt. Aus den im Gutachten des Prof. Dr. Q. vom 25. September 2002 angegebenen Hörverlusten (rechts: 0%; links: 10 - 15%) ergibt sich nach der maßgeblichen MdE-Tabelle (Tabelle D, AHP 2004, S. 59) noch keine messbare MdE. Die begleitenden Ohrgeräusche ohne nennenswerte psychische Begleiterscheinungen können allenfalls mit einer MdE von 10 v.H. bewertet werden (AHP 2004, S. 61). Dieser Einzel-MdE-Wert von allenfalls 10 v.H. verstärkt das Ausmaß der Funktionsbehinderungen beim Kläger insgesamt nicht so stark, dass eine höhere Gesamt-MdE als 30 v.H. in Betracht kommt. Vielmehr bleiben die Ohrgeräusche (wie im Regelfall alle Einzel-MdE-Werte von nur 10 v.H.) bei der Bildung der Gesamt-MdE unberücksichtigt (vgl. zu diesem Grundsatz: AHP 2004, S. 24 ff.). Die Bewertung der Gesamt-MdE wurde im Übrigen vom Beklagten auch nicht angegriffen (vgl. Schriftsatz vom 6. Juni 2005).
V.
Die Berufung ist lediglich insoweit erfolgreich, als infolge der Antragsbeschränkung des Klägers das Urteil des SG dahingehend zu ändern ist, dass der Beklagte anstatt zur Gewährung von Beschädigtenversorgung zur Gewährung von Beschädigtengrundrente zu verurteilen ist. Denn der Kläger hat im Berufungsverfahren klar gestellt, dass sein Leistungsbegehren ausschließlich auf die (einkommensunabhängige) Beschädigtengrundrente gerichtet ist und er weitergehende Ansprüche (insbesondere auf einkommensabhängige Versorgungsleistungen) nicht (mehr) geltend macht (Schriftsätze vom 1. Februar 2006 und 26. September 2006).
Dem Anspruch auf Beschädigtengrundrente steht auch keine Unbilligkeit i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG entgegen. Der Beklagte beruft sich hinsichtlich der allein noch streitbefangenen Beschädigtengrundrente (§ 1 Abs. 1 OEG i.V.m. § 31 Bundesversorgungsgesetz - BVG -) - anders als für einkommensabhängige Versorgungsleistungen - ausdrücklich nicht auf die Abgeltungsklausel des vom Kläger vor dem OLG K. geschlossenen Vergleichs. Damit liegt eine die Gewährung von Beschädigtengrundrente ausschließende Einrede des Beklagten nicht vor.
Die Abgeltungsklausel in dem Vergleich stellt auch nicht gleichzeitig einen Verzicht i.S.d. § 46 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) dar. Zwar kann ein solcher Verzicht grundsätzlich auch in Form eines gerichtlichen Vergleiches erklärt werden (vgl. BSG, Urteil vom 15. Oktober 1985 - 11a RA 58/84, SozR 2200 § 1251 Nr. 115). Allerdings beinhaltet der Vergleich keine Verzichtserklärung gegenüber dem zuständigen Leistungsträger. Vielmehr wurde der gerichtliche Vergleich mit dem Land Niedersachsen, vertreten durch die Bezirksregierung Braunschweig, abgeschlossen, während für Leistungen nach dem OEG die Versorgungsverwaltung zuständiger Leistungsträger ist (§ 24 Abs. 2 SGB I). Ob von dem Vergleich inhaltlich überhaupt (und bejahendenfalls: welche) Entschädigungsleistungen nach dem OEG erfasst sind, kann der Senat somit offen lassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Eine Kostenquotelung wegen des Teilerfolgs des Beklagten im Berufungsverfahren ist nicht geboten, da die erstinstanzliche Verurteilung zur Gewährung von Beschädigtenversorgung auf einem vom SG unterstellten Antrag beruhte. Insoweit hat der Kläger im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 1. Februar 2006 sein Rechtsschutzbegehren lediglich konkretisiert.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.