Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 02.10.2006, Az.: L 8 AS 478/05 ER
Bestimmtheitserfordernis bei einer Aufforderung zur Ableistung von Arbeit im Sozialrecht; Heranziehung zur Ableistung gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit durch Verwaltungsakt ; Wirksamkeit einer Rechtsfolgenbelehrung ; Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 02.10.2006
- Aktenzeichen
- L 8 AS 478/05 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 26527
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:1002.L8AS478.05ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 17.11.2005 - AZ: S 17 AS 322/05 ER
Rechtsgrundlagen
- § 16 Abs. 3 S. 2 SGB II
- § 31 Abs. 1 SGB II
Tenor:
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 17. November 2005 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat auch die zweitinstanzlich angefallenen Kosten des Antragstellers zu erstatten.
Gründe
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Stade vom 17. November 2005 ist nicht begründet. Das SG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30. September 2005 anzuordnen war. Denn die Aufforderung nach § 16 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II), im öffentlichen Interesse liegende zusätzliche Arbeiten auszuführen, war mit der falschen Rechtsfolgenbelehrung versehen. Weiterhin war die Aufforderung vom 29. August 2005 nicht hinreichend bestimmt genug.
Der im November 1947 geborene Antragsteller stand im Leistungsbezug nach dem SGB II. Mit der Verfügung vom 29. August 2005 wurde der Antragsteller vom Antragsgegner darüber unterrichtet, dass ihm Gelegenheit zu einer im öffentlichen Interesse liegenden und zusätzlichen Arbeit gegeben werde; am 6. September 2005 um 13.30 Uhr möge er sich bei einer Beschäftigungsstelle zwecks Arbeitsaufnahme einfinden. Mitgeteilt war weiterhin der Name des Ansprechpartners mit Telefonnummer, die Hausanschrift und eine Tätigkeitsbezeichnung (Unterstützung behinderter Menschen bei Lagerarbeiten, der Instandhaltung des Werkgrundstücks sowie der Umsetzung einzelner Arbeitsschritte - z.B. Montage und Verpackung ). Der Verfügung war eine Rechtsfolgenbelehrung beigefügt, die dahin lautete, dass der Antragsteller mit einer Absenkung des Arbeitslosengeldes II (Alg II) rechnen müsse, sofern er das Angebot nicht wahrnehmen sollte. In diesem Falle werde die Hilfe auf der Grundlage des § 31 Abs. 1 Nr. 1b, Abs. 5 SGB II ab 1. Oktober 2005 auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach den Bestimmungen des § 22 SGB II beschränkt (neben sämtlichen Geldleistungen fällt somit u.a. gegebenenfalls auch der innerhalb von zwei Jahren nach dem Bezug von Arbeitslosengeld zu zahlende Zuschlag fort). Die Zahlung der für die Wohnung angemessenen Kosten erfolge direkt an den Empfangsberechtigten.
Die Beschäftigungsstelle - E. - teilte mit, dass der Antragsteller mit einer deutlich wahrnehmbaren Alkoholfahne in der Einrichtung erschienen sei. Er habe immer wieder darauf hingewiesen, dass er gezwungener Weise zu einem Gespräch gekommen sei. Falls ihm eine Arbeit zugeteilt würde, würde er sie nur mit sehr schlechter Laune ausführen. Der Antragsgegner kürzte daraufhin mit Änderungsbescheid vom 30. September 2005 die Leistungen nach dem SGB II ab dem Monat November 2005 für insgesamt drei Monate um 30%. Dagegen richtet sich der bislang nicht beschiedene Widerspruch des Antragstellers.
Bei dieser Sachlage hat das SG zu Recht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Änderungsbescheid vom 30. September 2005 angeordnet, weil die Kürzung durch den Änderungsbescheid rechtswidrig ist.
Der Antragsteller ist gemäß § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II zur Ableistung für im öffentlichen Interesse liegende zusätzliche Arbeiten herangezogen worden. Ob dies durch Verwaltungsakt zu geschehen hat, kann für diese Entscheidung dahinstehen. Für die vergleichbare Regelung in §§ 18 Abs. 2, 19 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden, dass die Heranziehung zur Ableistung gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit durch Verwaltungsakt zu regeln ist (vgl BVerwG, Urteil vom 13. Oktober 1983 - 5 C 66/82 - BVerwGE 68, Seite 97 = FEVS 33, Seite 45). Der Grund wird darin gesehen, dass die Nichtbefolgung der Heranziehung unmittelbar zum Verlust des Anspruchs auf Sozialhilfe - Hilfe zum Lebensunterhalt - nach § 25 Abs. 1 BSHG geführt hat. Die Heranziehung bewirkte mithin eine unmittelbare nachteilige Änderung eines dem Hilfebedürftigen zustehenden Rechts, so dass die nötige Regelung für die Verwaltungsaktqualität der Heranziehung zu bejahen war. Demgegenüber hat das Bundessozialgericht - BSG - (Urteil vom 19. Januar 2005 - B 11a/11 AL 39/04 R - SozR 4-1300 § 63 Nr. 2 = SGb 2005, Seite 594) entschieden, dass es sich bei Maßnahmeangeboten der Arbeitsämter zur Ableistung von Trainingsmaßnahmen um keine Verwaltungsakte handelt. Rechtsgrundlage für die Maßnahmeangebote war § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III), wonach Arbeitslose bei Tätigkeiten und bei Teilnahme an Maßnahmen, die zur Verbesserung ihrer Eingliederungsaussichten beitragen, durch Weiterleistung von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe und durch Übernahme von Maßnahmekosten gefördert werden konnten. Nach Ansicht des BSHG handelt es sich hierbei um eine behördliche Verfahrenshandlung, die der Vorbereitung der eigentlichen Sachentscheidung dient, nämlich einer Sperrzeitentscheidung nach § 144 SGB III.
Bei beiden rechtlich denkbaren Möglichkeiten - Aufforderung zur Ableistung von Arbeit gemäß § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II ein Verwaltungsakt oder eine bloße Vorbereitungshandlung - muss in jedem Fall die Heranziehung bestimmt genug sein. Die Rechtsprechung des BVerwG zum Bestimmtheitserfordernis nach §§ 18, 19 BSHG ist auf die Heranziehung des § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II zu übertragen. Danach musste das Angebot zu gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit die Arbeitsgelegenheit genau bezeichnen; der Sozialhilfeträger hatte die Art der Arbeit, ihren zeitlichen Umfang und ihre zeitliche Verteilung sowie die Höhe der angemessenen Entschädigung für Mehraufwendungen im Einzelnen zu bestimmen. Dieses wurde für nötig erachtet, damit der Hilfesuchende aus Gründen des Rechtsschutzes erkennen kann, ob die für ihn als Maßnahme der Hilfe geschaffene Arbeitsgelegenheit angemessen sowie erforderlich und geeignet ist, um den mit ihr verfolgten Zweck erfüllen zu können. Die Heranziehung zur "vollschichtigen" Arbeit durfte weiterhin nach Sinn und Zweck der gemeinnützigen und zusätzlichen Arbeit nicht verlangt werden (vgl BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1992 - 5 C 35/88 - FEVS 43, Seite 89; Urteil vom 13. Oktober 1983 - 5 C 67/82 - BVerwGE 68, Seite 91 = FEVS 33, Seite 89). Diese Anforderungen an die Bestimmtheit sind auf die Heranziehung nach § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II zu übertragen, weil es sich hierbei um eine vergleichbare Heranziehung wie nach dem BSHG handelt (vgl Niewald in Lehr- und Praxiskommentar SGB II, § 16 Rdnr 25). Diesem Bestimmtheitsgebot genügt die Verfügung vom 29. August 2005 nicht. Denn es fehlen Angaben zum zeitlichen Umfang der Arbeit und zur Höhe der Mehraufwandsentschädigung.
Der Verfügung war weiterhin die falsche Rechtsfolgenbelehrung beigefügt, nämlich die Belehrung nach § 31 Abs. 5 SGB II, die für erwerbsfähige Hilfebedürftige gilt, die das 15. Lebensjahr, jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben. Für diesen Personenkreis entfällt das Alg II in vollem Umfang, lediglich die Kosten für Unterkunft und Heizung werden an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt. Für den Antragsteller hätte die Rechtsfolgenbelehrung nach § 31 Abs. 1 SGB II verwandt werden müssen. Danach wird das Alg II unter Wegfalls des Zuschlags nach § 24 SGB II in einer ersten Stufe um 30 v.H. der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, eine zumutbare Arbeit nach § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II auszuführen. Diese Rechtsfolgenbelehrung war nicht beigefügt. Der Antragsteller hat vielmehr eine falsche Rechtsfolgenbelehrung nach § 31 Abs. 5 SGB II erhalten. Die Erwägung des Antragsgegners, bei der Kürzung nach § 31 Abs. 1 SGB II handele es sich um eine geringere Kürzung als nach § 31 Abs. 5 SGB II, so dass die Rechtsfolgenbelehrung nach § 31 Abs. 1 SGB II gleichsam in der falschen Rechtsfolgenbelehrung mit enthalten sei, ist nicht tragfähig. Die Wirksamkeit einer Rechtsfolgenbelehrung setzt voraus, dass sie konkret, richtig und vollständig ist und dem Leistungsbezieher in verständlicher Form zutreffend erläutert, welche unmittelbaren und konkreten Auswirkungen sich aus einer Weigerung für ihn ergeben, die angebotene Arbeit aufzunehmen. Diesem Erfordernis entsprach die der Verfügung beigefügte Rechtsfolgenbelehrung nicht, weil sie eine für die Fallgestaltung des Antragstellers falsche Rechtsfolge erläuterte. Es war daher nicht mehr erkennbar, welche Rechtsfolge tatsächlich eintreten würde, wenn der Antragsteller der Aufforderung zur Ableistung der Arbeit nicht nachkommen würde. Bei einer anderen Betrachtungsweise könnte der Sozialleistungsträger im abgestuften Sanktionssystem des § 31 SGB II immer nur die schärfste Rechtsfolge androhen mit dem Hinweis, die milderen Sanktionen seien bereits in dieser schärfsten Sanktion mit enthalten. Das widerspräche dem Gebot, dass die Rechtsfolgenbelehrung richtig und vollständig sein muss.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung des § 193 SGG. Da der Antragsteller obsiegt, trägt der Antragsgegner seine notwendigen außergerichtlichen Kosten.
Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.