Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 17.10.2006, Az.: L 6 AS 556/06 ER

Antrag auf Übernahme der Kosten einer größeren Wohnung wegen Familienzuwachses; Beurteilung der Notwendigkeit eines eigenen Zimmers für das neugeborene Kind anhand des soziokulturellen Existenzminimums

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
17.10.2006
Aktenzeichen
L 6 AS 556/06 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 26168
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2006:1017.L6AS556.06ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 06.09.2006 - AZ: S 19 AS 977/06 ER

Fundstellen

  • NZS 2007, 557-558 (Volltext mit amtl. LS)
  • info also 2007, 185-187 (Volltext mit red. LS)
  • info also 2008, 43 (Kurzinformation)
  • info also 2007, 192

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 6. September 2006 aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen von 495 EUR monatlich für die neue Unterkunft in der D., 1. Obergeschoss rechts, in E. zuzusichern. Des Weiteren wird die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, der Antragsgegnerin bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Übernahme von Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten sowie Mietkaution vorläufig zuzusichern.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Gründe

1

I.

Die 1985 geborene Antragstellerin begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Zusicherung zu Aufwendungen für eine neue Unterkunft. Seit Februar 2005 wohnt sie mit ihrem Lebensgefährten in einer ungefähr 46 qm großen Wohnung mit Küche, Bad und 2 Zimmern. Beide erhalten laufend Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Im August 2006 legte die Antragstellerin der Antragsgegnerin das Angebot für eine ungefähr 66 qm große Wohnung mit 3 Zimmern, Küche, Diele, Bad, Balkon, Keller und Dachbodenanteil mit der Bitte um Zusicherung zu den Aufwendungen in Höhe von insgesamt 495 EUR (Grundmiete: 335 EUR, Betriebskostenvorauszahlung: 110 EUR, Heizkostenvorauszahlung: 50 EUR) monatlich vor, da sie schwanger sei und das Kind voraussichtlich im Oktober 2006 geboren werde. In dem Wohnungsangebot vom 1. August 2006 ist u.a. vermerkt, dass vor Abschluss des Mietvertrages die Übernahme der Mietzahlung durch die Antragsgegnerin erklärt werden muss. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 16. August 2006). Dagegen hat die Antragstellerin am 30. August 2006 Widerspruch eingelegt und beim Sozialgericht (SG) Braunschweig den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, den das SG nach Inaugenscheinnahme der zur Zeit bewohnten Wohnung mit Beschluss vom 6. September 2006 mit der Begründung abgelehnt hat, die Möbelstücke, die ein Säugling in den ersten Monaten benötige (Kinderbett und Wickeltisch), könnten ohne größeren Aufwand in der derzeitigen Wohnung untergebracht werden. In den ersten Lebensmonaten sei es durchaus üblich, dass Säuglinge mit ihren Eltern in einem Zimmer schliefen. Deshalb sei ein Umzug in eine 3-Zimmer-Wohnung noch nicht notwendig.

2

Dagegen wendet sich die Antragstellerin mit der am 8. September 2006 eingelegten Beschwerde. Sie ist der Ansicht, dass allein aufgrund des bevorstehenden Familienzuwachses ein Umzug in eine größere Wohnung erforderlich sei und rügt die Beurteilung des SG, die jetzige kleine Wohnung mit lediglich 46 qm bei einem Wohnzimmer, Schlafzimmer, Balkon, Flur, Küche und Badezimmer erlaube es, ein Kinderbett und eine Wickelkommode aufzustellen. Darüber hinaus werde für Kindersachen, Windelkartons und -eimer sowie Kinderwagen weiterer Platz benötigt. Schließlich erlaube es ihr Gesundheitszustand nicht, in beengten Verhältnissen zu wohnen. Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt. Zur Glaubhaftmachung ihres Vortrages über die Erforderlichkeit des Umzuges in eine größere Wohnung hat die Antragstellerin das nervenärztliche Gutachten der Dres F. und G. vom 2. September 2004 sowie die Bescheinigung des Fachbereichs Kinder, Jugend und Familie der Stadt E. vom 19. September 2006 vorgelegt. Die Antragsgegnerin hält an ihrer Auffassung fest, dass eine 3-Zimmer-Wohnung erst bei Schulpflichtigkeit eines Kindes erforderlich sei.

3

II.

Die Beschwerde ist begründet. Denn der Umzug ist erforderlich und die Aufwendungen für die neue Wohnung sind angemessen, und es entstünden schwere und unzumutbare, durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigende Nachteile, würde die Antragstellerin auf dieses verwiesen.

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Der Antrag, die Antragsgegnerin im Rahmen einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Zustimmung zum Umzug zu erteilen, enthält zum einen die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Leistungen zu den Aufwendungen für die neue Unterkunft zuzusichern (§ 22 Abs. 2 Sozialgesetzbuch [SGB] Zweites Buch [II] - Grundsicherung für Arbeitsuchende -). Zum anderen begehrt die Antragstellerin die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Übernahme von Wohnungsbeschaffungskosten sowie Mietkaution und Umzugskosten zuzusichern (§ 22 Abs. 3 SGB II).

5

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung, und Anordnungsanspruch, d.h. die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren begehrt wird, sind geltend und die zur Begründung erforderlichen Tatsachen sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Somit ist kennzeichnend für den vorläufigen Rechtsschutz die prinzipielle Reversibilität der Entscheidung für einen Interimszeitraum vor der endgültigen Gestaltung durch die (potentielle) Hauptsacheentscheidung. Dabei folgt der Senat dem in Rechtsprechung und Literatur verbreiteten dogmatisch nicht begründeten weiten Grundsatz des Verbots der Vorwegnahme in der Hauptsache mit einer Vielzahl von Ausnahmen (s nur Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 123 Rn 13 ff) nicht (s zur Kritik an der hM im Einzelnen fundiert und überzeugend Schoch in: ders/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 123 Rn 146 ff und ihm folgend Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren, 4. Aufl. 1998, § 16 sowie Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2005, Rn 308 ff; s auch Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 86b Rn 31, wonach von einer Vorwegnahme der Hauptsache bei der Verurteilung zur vorläufigen Gewährung von Sozialleistungen nur gesprochen werden könne, wenn eine Rückforderung ausgeschlossen sei.). Die dahinter stehende Problematik stellt sich rechtlich als Frage der Anspruchsvoraussetzungen und des Entscheidungsinhalts dar. Wie vorläufiger Rechtsschutz bei Vorliegen der Voraussetzungen effektiv zu gewähren ist, steht in der Verantwortung des Gerichts (vgl Schoch, a.a.O., Rn 150 f). Dabei bildet eine Grenze der richterlichen Gestaltungsbefugnis im vorläufigen Rechtsschutz allein die Herbeiführung für die Zukunft irreversibler Zustände (s auch Hk-VerwR/VwGO/Kröninger/Wahrendorf, § 123 VwGO Rn 44). Diese darf nur überschritten werden und ist allerdings dann zu überschreiten, wenn es verfassungsrechtlich (Art 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz) geboten ist (BVerfGE 79, 69 [BVerfG 25.10.1988 - 2 BvR 745/88]/74 ff). Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte ist die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Erbringung von Leistungen für die neue Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen auch für die Zukunft zuzusichern und zu verpflichten, die Übernahme von Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten sowie Mietkaution vorläufig zuzusichern.

6

Die Antragsgegnerin ist nach § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II zur Zusicherung zu den Aufwendungen für die neue Unterkunft verpflichtet. Denn der Umzug ist erforderlich und die Aufwendungen für die neue Unterkunft sind angemessen.

7

Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende sollen das sog soziokulturelle Existenzminimum gewährleisten. Maßgebend sind somit die Verhältnisse in den unteren Einkommensgruppen (vgl § 28 Abs. 3 Satz 3 SGB Zwölftes Buch - Sozialhilfe -). Die berücksichtigungsfähige Wohnfläche kann deshalb - wie schon nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum früheren Sozialhilferecht (BVerwGE 97, 110/112; 92, 1/3) - nach den Verwaltungsvorschriften zur Förderungswürdigkeit im sozialen Wohnungsbau bestimmt werden. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist somit nicht entscheidend, ob für (nichtschulpflichtige) Kinder ein eigenes Zimmer erforderlich ist. Entscheidend ist - wie ausgeführt - vielmehr, dass dieses in der Bundesrepublik zum sog soziokulturellen Existenzminimum zählt. Denn die o.g. Verwaltungsvorschriften differenzieren für die zuzubilligende Wohnfläche und anzuerkennende Raumzahl nach der Zahl der zum Familienhaushalt rechnenden Personen. Danach haben Hilfebedürftige regelmäßig einen Anspruch auf ein Zimmer für Kinder (s nur Lang in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 22 Rn 42 ff). Im Übrigen hat die Antragsgegnerin nicht - auch nicht ansatzweise - ihre Behauptung der fehlenden Erforderlichkeit eines eigenen Zimmers für (nichtschulpflichtige) Kinder begründet. Schließlich ist auch künftiger Wohnflächenbedarf zu berücksichtigen, wenn er - wie hier bei der Schwangerschaft der Antragstellerin - in einem überschaubaren Zeitraum entstehen wird (vgl OVG Lüneburg vom 21. April 1995 - 12 L 6590/93 - zum früheren Sozialhilferecht, zit nach Berlit in: LPK - SGB II § 22 Rn 27). Schon deshalb ist ein Umzug erforderlich.

8

Dessen ungeachtet liegt ein nach der Geburt bestehender höherer und durch die jetzige Wohnung der Antragstellerin nicht gedeckter Wohnungsbedarf auf der Hand und ist im Übrigen durch die im Beschwerdeverfahren vorgelegte Bescheinigung des Fachbereichs Kinder, Jugend und Familie der Stadt Braunschweig vom 19. September 2006 dokumentiert. Denn unter Berücksichtigung der Flächenanteile von Küche, Bad und Flur bei insgesamt 46 qm liegt die Wohnung am unteren Rand der von der Antragsgegnerin für einen 2-Personenhaushalt für erforderlich gehaltenen Größe von mindestens 30 qm bei 2 Wohnräumen. Dass dieser Wohnraum nach der Geburt des Kindes nicht ausreicht, leuchtet unmittelbar ein. Dem steht das Ergebnis der Augenscheinnahme durch das SG nicht entgegen. Denn danach genügt der vorhandene Wohnraum allenfalls für die ersten Lebensmonate des Säuglings.

9

Da sich die Aufwendungen für die neue Unterkunft schon in dem von der Antragsgegnerin gesetzten Kostenrahmen halten, ist diese auch angemessen. Damit sind die in § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II genannten Voraussetzungen für eine Zusicherung insgesamt erfüllt. - Dieses trifft auch für die in Abs. 3 Satz 2 dieser Regelung genannten Voraussetzungen für eine Zusicherung der Übernahme von Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten sowie Mietkaution zu. Im Regelfall besteht dann ein Anspruch auf Zusicherung (s im Einzelnen Rothkegel in: Gagel, SGB III, § 22 SGB II Rn 66 ff).

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Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Unter Berücksichtigung der Dauer eines Widerspruchsverfahrens und eines Klageverfahrens würde eine Entscheidung in der Hauptsache weit mehr als ein Jahr dauern (s zum Geschäftsanfall bei den Sozialgerichten des Landes Niedersachsen NdsRpfl 2006, 142/149). Damit würde der vom SG genannte Zeitraum - die ersten Lebensmonate des Säuglings -, für den die jetzige Wohnung noch ausreichend sei, deutlich überschritten werden. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde i.V.m. dem Sozialstaatsgebot folgt (BVerfGE 82, 60/80). Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (BVerfG NJW 2003, 1236/1237). Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG Breith 2006, 803/806 f).

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Somit sind die Anspruchsvoraussetzungen einer einstweiligen Anordnung insgesamt erfüllt.

12

Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes für die Antragstellerin ist die Antragsgegnerin schon in diesem Verfahren ohne Vorbehalt zu verpflichten, Leistungen in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen für die neue Unterkunft zuzusichern. Denn der Mietvertrag kommt ausweislich des Wohnungsangebots der Immobilien-Management GmbH vom 1. August 2006 nur zustande, wenn die Antragsgegnerin vor Abschluss die Übernahme der Mietzahlungen garantiert. Deshalb ist ausnahmsweise verfassungsrechtlich eine über § 86b Satz 2 Satz 2 SGG hinausgehende Regelung geboten, die die Bedeutung einer Entscheidung in der Hauptsache in vollem Umfang übernimmt. Denn die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Zusicherung zu den Aufwendungen für die neue Unterkunft und würde diese Verpflichtung nicht schon im Eilverfahren ausgesprochen, würde die grundgesetzliche Gewährleistung der Würde des Menschen zeitweilig verletzt. Dass die Antragstellerin in nächster Zeit von einem anderen Vermieter ein Angebot über eine angemessene Unterkunft ohne Kostenzusicherung der Antragsgegnerin erhalten könnte, hat die Antragsgegnerin schon nicht behauptet. Im Übrigen erscheint dieses angesichts der Lebensumstände der Antragstellerin und ihres Partners bei eingerichteter Betreuung mit dem Aufgabenkreis u.a. der Vermögenssorge, Wohnungs- sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten (Betreuerausweis vom 9. November 2004) unwahrscheinlich.

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Demgegenüber wird dem Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin hinreichend Rechnung getragen, wenn die Übernahme von Wohnungsbeschaffungskosten sowie Mietkaution und Umzugskosten vorläufig bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zugesichert wird. Denn damit ist ein Umzug in die neue Unterkunft gesichert. Durch die rechtliche Möglichkeit der Kostenerstattung bei Unterliegen im Hauptsacheverfahren (§ 50 Abs. 2 SGB Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz -) hält sich dieser Anordnungsinhalt im Rahmen des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG.

14

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

15

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).