Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 16.09.2015, Az.: 7 A 3648/15
Afghanistan; Ausreiseverbot; Behördenzeugnis; Flüchtling; Flüchtlingsausweis; Reiseausweis; Salafist
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 16.09.2015
- Aktenzeichen
- 7 A 3648/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 45102
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 72 Abs 1 Nr 1 AsylVfG
- § 46 Abs 2 S 1 AufenthG
- Art 28 Abs 1 S 1 FlüAbk
- § 10 Abs 1 S 2 PaßG
- § 7 Abs 1 Nr 1 PaßG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
In der Ausreise eines anerkannten Flüchtlings in seinen Herkunftsstaat zum Zweck der Durchführung von Sprengstoffanschlägen auf eine dortige Militärmission liegt eine Gefährdung sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der 3. Variante des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PaßG.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
Der Kläger trägt vor, A. zu heißen und afghanischer Staatsangehöriger tadschikischen Volkstums moslemisch-sunnitischen Glaubens zu sein. Er sei am … 1992 in Kabul geboren. Am 29. November 2011 sei er auf dem Landweg in das Bundesgebiet eingereist. Am 12. Dezember 2011 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter. Hierzu legte er mehrere Urkunden vor, u.a. Schulzeugnisse, Lehrgangs- und Arbeitsbescheinigungen sowie -ausweise, die in unterschiedlicher Schreibweise auf seine beiden Vornamen lauten. Des Weiteren legte er Lichtbilder vor, die ihn im Gelände mit anderen Personen ersichtlich im Umgang mit Sprengfallen zeigen. Nachdem der 19. September 1994 als abweichendes Geburtsdatum genannt worden war, wurde von der Universitätsmedizin E. eine forensische Altersdiagnostik durchgeführt. Danach war der Kläger im Zeitpunkt der Gutachtenerstellung am 29. April 2012 ca. 21 Jahre alt.
Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - am 14. Dezember 2011 führte der Kläger aus, dass er bei den amerikanischen und britischen Streitkräften seit seinem 15. Lebensjahr als Dolmetscher, unter anderem im Rahmen von Instruktionen zum Thema Sprengfallenentschärfung (CIED - Counter Improvised Explosive Device), gearbeitet habe. Wegen seiner Arbeitsstellung sei sein Vater von der radikal-islamischen Miliz Hezb-e-Islami des Gulbuddin Hekmatyar - HIG - vorübergehend verschleppt und gefoltert worden. Die HIG habe seiner habhaft werden wollen. Deshalb sei er aus Afghanistan geflohen, nachdem er sich von den britischen Streitkräften seinen restlichen Lohn in Höhe von 700 US-$ habe auszahlen lassen.
Mit bestandskräftigem Bescheid des Bundesamtes vom 27. Juni 2012 wurde der Asylantrag des Klägers wegen seiner Einreise durch einen sicheren Drittstaat abgelehnt. Zugleich wurde jedoch festgestellt, dass in seinem Fall die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass aufgrund des von ihm geschilderten Sachverhalts und den vorliegenden Erkenntnissen davon auszugehen sei, dass die Furcht des Klägers, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zum Entscheidungszeitpunkt Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - ausgesetzt zu sein, begründet sei.
Hierauf erteilte der Landkreis F. dem Kläger am 23. Juli 2012 eine bis zum 22. Juli 2015 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG sowie einen bis zum 22. Juli 2015 gültigen Reiseausweis für Flüchtlinge gemäß Art. 28 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) - GK -. Der Kläger verzog in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten.
Am 9. Juni 2015 beantragte der Kläger bei der Beklagten (1.) die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und (2.) die Verlängerung der Geltungsdauer seines Reiseausweises für Flüchtlinge. Über den Antrag zu 1. ist - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden. Der Kläger erhielt eine Fiktionsbescheinigung ausgehändigt.
Ebenfalls unter dem 9. Juni 2015 und gesiegelt unter dem 3. Juli 2015 erstellte das Bundesamt für Verfassungsschutz - BfV - folgendes Behördenzeugnis:
„Dem BfV liegen Informationen vor, nach den ein in Hannover wohnhafter A. plane, im Juni 2015 nach Kabul, Afghanistan, zu reisen, um dort Anschläge gegen die afghanischen Streitkräfte oder die der Resolute Support Mission (RSM) zu verüben. A. unterhalte Kontakte zu mehreren militanten Netzwerken.
A. konnte identifiziert werden als [der Kläger; es folgen Anschrift, Personendaten und Mobil-Rufnummer].“
Unter Verzicht auf eine Anhörung untersagte die Beklagte daraufhin dem Kläger mit dem streitbefangenen Bescheid vom 14. Juli 2015 (1.) die Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland für ein Jahr. Die Frist beginne mit der am 14. Juli 2015 erfolgten Bekanntmachung des Bescheides. Zugleich lehnte sie (2.) den Antrag auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Ausreise könne untersagt werden, weil der Kläger in erheblichem Maße die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland nicht nur zum Staat Afghanistan, welcher Ziel seiner Anschläge sei, sondern auch innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft gefährde. Denn durch eine vom Bundesgebiet als Vorbereitungs- und Rückzugsort ausgehende Beteiligung an internationalen terroristischen Handlungen, durch die allgemein anerkannte Schutzgüter wie Leib und Leben Dritter sowie die öffentliche Sicherheit bedroht seien, würden zentrale staatenübergreifende Sicherheitsinteressen berührt, zu deren Wahrung die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich, gemeinschaftsrechtlich und auch grundgesetzlich verpflichtet sei. Ferner habe der UN-Sicherheitsrat mit der am 24. September 2014 verabschiedeten Resolution 2178 (2014) die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, Personen, die im Ausland terroristische Taten begehen wollen, an der Einreise, dem Transit und der Ausreise zu hindern sowie die entsprechenden Taten unter Strafe zu stellen. Dabei würden sämtliche Vorbereitungs-, Unterstützungs- und Finanzierungshandlungen erfasst. Durch die geschilderten behördlichen Erkenntnisse werde die Annahme begründet, dass der Kläger die Voraussetzungen für das Ausreiseverbot erfülle. Das öffentliche Interesse an dem Ausreiseverbot überwiege wegen des Rangs der bedrohten Rechtsgüter das private Interesse des Klägers an der Ausreisefreiheit. Das Ausreiseverbot sei auch verhältnismäßig, da kein gleich wirksames Mittel zur Verfügung stehe. Die Maßnahme sei auch angemessen. (2.) Der erneuten Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge stünden aus der vorgeschilderten Sachlage zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entgegen. Von einer Anhörung des Klägers sei wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse abgesehen worden. Der zu diesem Zeitpunkt noch gültige Reiseausweis für Flüchtlinge wurde bei der Beklagten hinterlegt.
Nach Erkenntnissen der Polizeidirektion A-Stadt gehört der Kläger zu dem Personenkreis, der in A-Stadt gelegentlich mit einem Stand in der Innenstadt das Koranverteilungsprojekt „Lies“ durchführt. Er half am 13. Juni 2015 beim Aufbau dieses Standes und wurde am 15. August 2015 bei einem Angriff auf diesen Stand mittels einer Pistole als Geschädigter erfasst.
Der Kläger hat am 16. Juli 2015 Klage erhoben, mit der er sich gegen das Ausreiseverbot wendet und die Verpflichtung der Beklagten zur Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge begehrt. Zur Begründung führt er aus, dass die Vorwürfe gegen ihn nicht den Tatsachen entsprächen. Er habe nicht vor, Anschläge zu verüben. Die geplante Ausreise am 3. Juli 2015 habe er nicht angetreten. In Afghanistan seien seine Verwandten sowohl beim Militär als auch beim Geheimdienst. Dass er Anschläge plane oder gar vorhabe auszuüben, würde von seiner Familie nie toleriert werden. Der Vorwurf, dass er Kontakte zu militanten Netzwerken unterhalte, sei falsch. Er benutze das Internet nicht einmal für Facebook oder Skype.
Während des Klageverfahrens wurde dem Kläger von der afghanischen Botschaft in Berlin auf seinen Antrag hin am 21. Juli 2015 ein afghanischer Reisepass ausgestellt. In seinem Antrag vom selben Tage gab er den Reisezweck („Purpose of Travel“) mit „other“ an. Dieser bis zum 21. Juli 2017 gültige afghanische Reisepass wurde am 3. August 2015 anlässlich einer Vorsprache des Klägers bei der Beklagten einbehalten.
In der mündlichen Verhandlung ergänzte der Kläger seinen Vortrag dahingehend, dass er seinem Bruder ein Handy nach Afghanistan geschickt habe. Dort sei sein Facebook-Account gehackt worden. Über Facebook habe er Kontakt zu Mitgliedern seiner Verwandtschaft in Afghanistan gehalten. Diese Personen gehörten extremistischen Gruppierungen an und würden ihn verschiedentlich auffordern, nach Afghanistan zurückzukehren, um sich dem Kampf anzuschließen, was er jedoch ablehne. Auch über Twitter, Viber und Skype habe er Kontakt in sein Heimatland gehalten. Später gab er an, er habe viele seiner Accounts unterdessen geblockt. Bei ihm lebe sein als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereister Bruder, den er versuche zu schützen, indem er seine Verwandten in Afghanistan „bei Laune“ halte. Beispielsweise seien ihm aus Afghanistan drei Landsleute avisiert worden, denen er Unterkunft gewähren sollte. Diesem Wunsch habe er sich gebeugt, um seine Familie zu schützen. Den Besuchern habe er bereitwillig auch seinen Internetzugang sowie ein Lichtbild von sich zur Verfügung gestellt. Der Kläger bekannte sich sowohl zu der Koranverteilungsaktion „Lies“ als auch zur Scharia. Schließlich führte er aus, er habe den afghanischen Reisepass beantragt, um seine in Indien am Herzen operierte Mutter zu besuchen, die ihm bis nach Pakistan, Tadschikistan oder Dubai entgegenreisen würde. Er habe auf dem Reisepassantragsformular unter „Purpose of travel“ „other“ angekreuzt, weil er für einen Familienbesuch möglicherweise keinen Pass erhalten hätte.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 14. Juli 2015 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, ihm einen Reiseausweis für Flüchtlinge auszustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt den streitbefangenen Bescheid.
Nach einer Auskunft des BfV an das Gericht vom 31. August 2015 gründe sich die Identifizierung des Klägers auf der festgestellten Identität der zu „A.“ bekannt gewordenen Telefonnummer und Adresse mit den entsprechenden Daten des Klägers. Auch das WhatsApp-Profilfoto des „A.“ könne dem Kläger zugeordnet werden.
Nach Anhörung verpflichtete die Beklagte den Kläger mit dem hier nicht streitbefangenen Bescheid vom 10. August 2015 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung und Zwangsgeldandrohung dreimal wöchentlich, und zwar montags, donnerstags und samstags jeweils gegen 10.00 Uhr beim Polizeikommissariat I. persönlich vorzusprechen. Der Kläger kam dieser Meldeauflage zunächst nicht nach und hat beim Verwaltungsgericht Hannover gesondert Klage erhoben (- 10 A 4077/15 -). Außerdem hat er gegen die Meldeauflage um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (- 10 B 4078/15 -). Mit Beschluss vom 08. September 2015 hat das Verwaltungsgericht Hannover im vorläufigen Rechtsschutzverfahren entschieden, dass, soweit in der dort streitgegenständlichen Verfügung die Meldeauflage über Montag, den 11. Juli 2016 hinaus ausgesprochen worden ist und dem Kläger aufgegeben wird, sich zu einer festen Uhrzeit und nur bei dem Polizeikommissariat I. zu melden, die aufschiebende Wirkung der Klage mit der Maßgabe wiederhergestellt wird, dass dem Kläger nachgelassen wird, bei dem Polizeikommissariat I. eine oder mehrere weitere Dienststellen der Bundes- oder Landespolizei im Gebiet der A-Stadt oder der B-Stadt als Meldestellen zu bezeichnen und sich zwischen 8.00 und 21.00 Uhr jeden Montag, Donnerstag und Sonnabend in einer dieser Dienststellen zu melden.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den zu den zitierten Verfahren der 10. Kammer gereichten Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen. Ebenso hat der Kammer die Asylverfahrensakte des Klägers vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet. Denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
Die Ausreiseuntersagung ist in rechtsfehlerfreier Anwendung der Rechtsgrundlage des § 46 Abs. 2 S. 1 AufenthG in Verbindung mit §§ 10 Abs. 1 S. 2 und 7 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 des Passgesetzes - PassG - ergangen. Danach kann einem Ausländer die Ausreise untersagt werden, wenn Tatsachen die Annahme begründen, dass er sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.
Bei dem Begriff der „sonstigen erheblichen Belange“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Vorliegen das Gericht in vollem Umfang nachzuprüfen hat. Erfasst sind Tatbestände, die in ihrer Erheblichkeit den beiden anderen Tatbestandsvarianten des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG, namentlich der Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, nahekommen. Die sonstigen erheblichen Belange der Bundesrepublik sind insbesondere dann gefährdet, wenn bestimmte Tatsachen die Prognose rechtfertigen, dass der Passinhaber sich im Ausland an Gewalttätigkeiten beteiligen wird, die geeignet sind, die auswärtigen Beziehungen oder unter besonderen Umständen auch das internationale Ansehen der Bundesrepublik zu schädigen (BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2007 - 6 C 39/06 -; OVG NRW, Urteil vom 04. Mai 2015 - 19 A 2097/14 - und Beschluss vom 16. April 2014 - 19 B 59/14 -). Die Ausreise zur Begehung von Anschlägen auf die afghanischen Streitkräfte oder die der Resolute Support Mission - RSM - in Afghanistan ist geeignet, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik nachhaltig zu beeinträchtigen. Dies ergibt sich schon aus der Resolution 2178 (2014) des UN-Sicherheitsrates vom 24. September 2014. Nach der dortigen Ziff. 4 sind alle Mitgliedstaaten der UN aufgefordert, „ausländische terroristische Kämpfer daran [zu] hindern, ihre Grenzen zu überschreiten“ (OVG NRW, Urteil vom 04. Mai 2015 - 19 A 2097/14 -, m.w.N.).
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die Gefahreneinschätzung im Rahmen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG ist herabgesetzt („die Annahme begründen“). Eindeutige Beweise sind nicht erforderlich. Es reicht aus, wenn der begründete Verdacht einer Gefährdung der Belange der Bundesrepublik besteht. Die Herabstufung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes gilt jedoch nicht für die einzelnen „bestimmten Tatsachen“, die die Annahme begründen. Diese Anknüpfungstatsachen für die Gefahrenprognose müssen nach Zeit, Ort und Inhalt so konkret gefasst sein, dass sie einer Überprüfung im gerichtlichen Verfahren zugänglich sind. Für sie verbleibt es bei dem Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung gemäß § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO (OVG NRW, Beschluss vom 16. April 2014 - 19 B 59/14 -).
1. Es sind Tatsachen bekannt geworden, die die Annahme begründen, dass der Kläger beabsichtigt, nach Afghanistan auszureisen, um dort Anschläge gegen die afghanischen Streitkräfte oder diejenigen der RSM zu verüben.
Zunächst erstellte das BfV unter dem 03. Juli 2015 ein Behördenzeugnis dahingehend, dass Informationen vorliegen würden, nach denen ein in Hannover wohnhafter A. plane, zeitnah nach Kabul auszureisen, um dort Anschläge auf die afghanischen Streitkräfte oder die der RSM zu verüben. Die Person A. sei als der Kläger identifiziert worden. Bei einem solchen Behördenzeugnis handelt es sich um ein sekundäres Beweismittel, welches die unmittelbaren Quellen der dort wiedergegebenen Erkenntnisse und Bewertungen nicht bzw. nicht vollständig offen legt und daher einer vorsichtigen Beweiswürdigung unter Heranziehung der weiteren zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten bedarf (BGH, Beschluss vom 12. August 2015 - StB 8/15 - und Beschluss vom 26. März 2009 - StB 20/08 -; BVerwG, Urteil vom 03. Dezember 2004 - 6 A 10/02 -). Das Gericht hat zu dem Behördenzeugnis des BfV weitere Anknüpfungstatsachen festgestellt, sodass es zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Kläger plant auszureisen, um die vorgenannten Anschläge zu verüben.
a) Der Kläger ist der im Behördenzeugnis des BfV bezeichnete A.. Das BfV stellte auf Nachfrage des Gerichts Erläuterungen zur Verfügung, aus denen sich die Identifizierung nachvollziehbar ergibt. Namentlich ist der Kläger Inhaber der unter dem Namen A. genutzten Rufnummer. Diese gab er auch in seinem Antrag auf Ausstellung seines Heimatpasses bei der afghanischen Botschaft als seine Telefonnummer an. Auch die zu der Rufnummer gehörende Adresse ist ausweislich der Klageschrift diejenige des Klägers. Mithin spricht vieles dafür, dass der Kläger einen Aliasnamen führt.
b) Der Kläger hat tatsächlich die Absicht auszureisen. Zu diesem Zweck beantragte er am 21. Juli 2015, nur eine Woche nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheids, einen afghanischen Reisepass in der afghanischen Botschaft in Berlin, der ihm noch am selben Tage ausgestellt wurde. In der mündlichen Verhandlung gab er an, er wolle ausreisen, um seine kranke Mutter zu besuchen, die in Indien am Herzen operiert worden sei. Sie würde ihm bis Pakistan, Tadschikistan oder Dubai entgegenreisen.
Die Ausreiseabsicht des Klägers lässt sich aus der Beantragung und Annahme des Heimatpasses ableiten. Der Kläger hat auch nicht vorgetragen, seinen Heimatpass zu anderen Zwecken als zur Ausreise nutzen zu wollen. Seine Ausführungen, er wolle seine kranke Mutter besuchen, überzeugen dabei nicht. Die Angaben des Klägers sind unglaubhaft. Widersprüchlich und nicht nachvollziehbar ist, dass seine herzkranke Mutter ihm bis Dubai oder Tadschikistan entgegenreisen würde. Ebenso widersprüchlich und nicht nachvollziehbar ist, dass der Kläger in seinem Antrag unter Reisezweck „other“ ankreuzte. Der Kläger meint, bei Angabe des Zwecks „Familienbesuch“ hätte er möglicherweise keinen Reisepass erhalten. Gleichzeitig gibt er aber an, dass er die Absicht, seine kranke Mutter zu besuchen, gegenüber dem Mitarbeiter der Botschaft offengelegt habe. Diese Ausführungen erfolgten in der mündlichen Verhandlung jeweils nach Vorhalt und intensiver Nachfrage, sodass der Eindruck der Widersprüchlichkeit stetig vertieft wurde. Detaillierte Schilderungen erfolgten jeweils nur zum Randgeschehen. Den Fragen des Gerichts zum Kern der Sache wich der Kläger dagegen beharrlich aus. Es stechen weitere Widersprüche aus dem klägerischen Vortrag hervor. Mit der Klage behauptete er, das Internet nicht einmal für Facebook oder Skype zu nutzen und auch keine Kontakte zu militanten Netzwerken zu unterhalten. In der mündlichen Verhandlung behauptete er zu allen drei Punkten zunächst schlicht das Gegenteil. Auf Vorhalt der Klageschrift änderte er seinen Vortrag erneut dahingehend, er habe nunmehr viele seiner Accounts geblockt. Auch der Meldeauflage der Beklagten kam er nicht nach; stattdessen hielt er sich am Samstag, den 15. August 2015 am Koranverteilungsstand der Aktion „Lies“ auf, obwohl er sich aufgrund sofort vollziehbarer behördlicher Anordnung auch an diesem Samstag um 10.00 Uhr bei der Polizei hätte melden müssen.
c) Der Kläger unterhält - obwohl er in Deutschland um Flüchtlingsschutz vor der HIG nachgesucht und diesen auch erhalten hatte - laufende Kontakte zu extremistischen Gruppierungen in Afghanistan, die ihn zu rekrutieren suchen. Diesen Umstand führte der Kläger in der mündlichen Verhandlung aus. Es gelang ihm dabei nicht, sich von diesen Gruppierungen zu distanzieren. Im Gegenteil zeigte er sich von diesen erpressbar. Zwar gab er an, er wolle lediglich seine Verwandten in Afghanistan bei Laune halten, um seine Familie zu schützen, er zeigte aber auch, inwieweit er sich den Wünschen dieser Gruppierungen unterwirft. So nahm er nach eigenen Angaben drei fremde Landsleute in seine Wohnung auf, weil ihm dies aus Afghanistan so aufgetragen worden sei. Mindestens zwei dieser Personen nutzten seinen Internetanschluss sowie ein Lichtbild von ihm zu Propagandazwecken. Sowohl den Internetanschluss als auch das Lichtbild überließ er diesen Personen nach eigenen Angaben bereitwillig und in vollem Bewusstsein des Nutzungswecks. Entweder ist der Kläger naiv oder er hat bewusst gehandelt. Jedenfalls wollte er nach eigenem Vortrag in der mündlichen Verhandlung den Kontakt zu Personen einer extremistischen Bewegung in Afghanistan nicht abreißen lassen, weil es sich um Schulkameraden und Verwandte handelt.
d) Der Kläger ist Salafist. Er beteiligt sich nach eigenen Angaben sowie nach den Feststellungen der Polizei A-Stadt aktiv an der Koranverteilungsaktion „Lies! Im Namen Deines Herrn, der Dich erschaffen hat.“ Ausweislich des Verfassungsschutzberichts des Landes Niedersachsen 2014 (vorläufige Fassung, Ziff. 4.3) handelt es sich bei dem Salafismus um eine besonders radikale islamistische Bewegung, die einen idealisierten Ur-Islam des 7./8. Jahrhunderts glorifiziert und sich an der Lebensweise der ersten Muslime in der islamischen Frühzeit orientiert. Das Koranverteilungsprojekt „Lies“ dient dabei der offensiven Verbreitung salafistischer Propaganda sowie der Rekrutierung von Salafisten. Personen aus dem Umfeld dieser Aktion reisten im Verlauf des Jahres 2014 nach Syrien aus. Nach dem Verfassungsschutzbericht 2014 des Bundesministeriums des Innern standen fast ausnahmslos alle Personen mit Deutschlandbezug, die sich dem „Jihad“ angeschlossen haben, zuvor mit salafistischen Strukturen in Kontakt (S. 90).
e) Der Kläger bekannte sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung zur Scharia. Die Scharia wird von Salafisten als von Gott gegebene verbindliche Rechtsordnung verstanden, die jeder weltlichen Gesetzgebung übergeordnet ist (Verfassungsschutzberichts des Landes Niedersachsen 2014, vorläufige Fassung, Ziff. 4.3). Die Scharia ist mit den grundlegenden Prinzipien der Demokratie, wie sie sich aus der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 22. Oktober 2010 ergeben, nicht vereinbar (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 13. Februar 2003 - 41340/98, 41342/98, 41343/98, 41344/98 -, NVwZ 2003, 1489, 1495).
f) Der Kläger ist nach eigenen Angaben, die er im Rahmen seines Asylverfahrens auch durch Dokumente nachgewiesen hat, in Afghanistan im Rahmen von Instruktionen zur Sprengfallenentschärfung zumindest als Dolmetscher tätig gewesen, sodass entsprechendes Wissen im Umgang mit Sprengfallen vorausgesetzt werden kann.
Das Behördenzeugnis des BfV vom 03. Juli 2015 wird nach alledem in seiner Aussage durch zahlreiche weitere Anknüpfungstatsachen gestützt. Die Kammer ist der Überzeugung, dass das BfV vorliegend nicht ohne konkreten Anlass das entsprechende Behördenzeugnis ausgestellt hat.
2. In formeller Hinsicht durfte die Beklagte von der grundsätzlich erforderlichen Anhörung gemäß § 1 Abs. 1 des Niedersächsischen Verwaltungsverfahrensgesetzes - NVwVfG - in Verbindung mit § 28 Abs. 2 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes - VwVfG - absehen, weil nach den Umständen des Einzelfalls eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug notwendig erschien. Dabei genügt es, dass die Behörde eine sofortige Entscheidung für notwendig halten durfte (OVG NRW, Urteil vom 16. April 2015 - 24K 427/14 -). So liegt es hier. Denn es bestanden Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger eine Anhörung zum Anlass der sofortigen Ausreise nehmen könnte. Zum einen hatte er erst am 09. Juni 2015 bei der Beklagten die Verlängerung seines Reiseausweises für Flüchtlinge beantragt. Zum anderen durfte der Inhalt des Behördenzeugnisses die Beklagte veranlassen, zumindest von der Gefahr einer sofortigen Ausreise auszugehen. Dass er sich in Kenntnis des Bescheides einen afghanischen Nationalpass ausstellen ließ, belegt die Gefahr im Verzug.
3. Das der Beklagten gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 AufenthG zustehende Ermessen wurde ausgeübt. Die Ausreisefreiheit des Klägers wurde ausweislich des streitgegenständlichen Bescheids gegen das öffentliche Interesse an der Wahrung der Sicherheit und Ordnung abgewogen. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Die Maßnahme ist geeignet, erforderlich und auch angemessen, den Grad der Gefährdung sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik zumindest zu verringern. Mildere Mittel mit gleicher Eignung sind nicht ersichtlich. Insbesondere wurde das Ausreiseverbot auf ein Jahr befristet.
II.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 1 GK.
Gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 1 GK stellen die Vertragsstaaten der GK Flüchtlingen, die sich regelmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, Reiseausweise aus, die ihnen Reisen außerhalb dieses Gebietes gestatten, es sei denn, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen. Letzteres ist hier der Fall.
Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger überhaupt noch Flüchtling im Sinne der GK ist. Gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - erlischt nämlich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes, wenn der Ausländer sich freiwillig durch Annahme eines Nationalpasses erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Vorliegend hat der Kläger sich einen Heimatpass ausstellen lassen. Dies spricht zunächst für das Erlöschen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1991 zu § 15 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG a.F. führt die Annahme des Heimatpasses jedoch nicht in jedem Fall ohne weiteres zum Erlöschen des Asylrechts. Ein Erlöschen ist nach dieser Rechtsprechung unter anderem dann nicht anzunehmen, wenn der Ausländer den Pass beantragt, um zur Erfüllung einer sittlichen Pflicht oder um Verwandten oder Freunden bei deren Flucht zu helfen, kurzfristig in das Verfolgerland zurückzukehren (BVerwG, Urteil vom 02. Dezember 1991 - 9 C 126/90 -, NVwZ 1992, 679). Das Bundesamt kann deshalb aus berechtigtem Anlass von Amts wegen feststellen, ob die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes erloschen ist (Bergmann, in: Renner, AuslR, 10. Aufl., § 73 Rn. 33).
Jedenfalls stehen der Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit entgegen. Zur öffentlichen Sicherheit gehören neben der objektiven Rechtsordnung auch die Rechtsgüter Leib und Leben. Die Bundesrepublik ist gemäß der UN-Resolution 2178/2014 aufgefordert, die Ausreise von terroristischen Kämpfern zu verhindern. Würde die Bundesrepublik den Reiseausweis des Klägers verlängern, würde sie gegen diese Aufforderung verstoßen. Der Kläger könnte in tatsächlicher Hinsicht beliebig aus- und wiedereinreisen. Zudem würden durch die Ausreise zur Begehung der beschriebenen Anschläge Leib und Leben von Soldaten deutscher, afghanischer und anderer Nationalität gefährdet, die sich in Afghanistan im Einsatz befinden.
III.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.
Gründe, die Berufung durch das Verwaltungsgericht zuzulassen, liegen nicht vor.