Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 27.02.2013, Az.: 2 K 266/12

Änderbarkeit eines Steuerbescheids bei einem auf unterschiedliche Rechtsgrundlagen gestützten Vorläufigkeitsvermerk

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
27.02.2013
Aktenzeichen
2 K 266/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 35082
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2013:0227.2K266.12.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 14.07.2015 - AZ: VIII R 21/13

Fundstellen

  • AO-StB 2013, 216-217
  • DStR 2013, 11-12
  • DStRE 2014, 239-242
  • EFG 2013, 902-904

Amtlicher Leitsatz

Änderbarkeit eines Steuerbescheids bei einem zunächst ausdrücklich auf § 165 Abs. 1 Satz 2 und Satz 2 AO gestützten, später nur noch auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO gestützten Vorläufigkeitsvermerks

Unterscheidet das FA im Einkommensteuerbescheid ausdrücklich zwischen einer auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO und einer auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO gestützen Vorläufigkeit, bleibt der auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO gestütze Vorläufigkeitsvermerk und die darauf beruhende Änderungsmöglichkeit auch dann bestehen, wenn in einem danach ergangenen Änderungsbescheid lediglich eine auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO gestütze Vorläufigkeit enthalten ist.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Änderbarkeit der angefochtenen Einkommensteuerbescheide.

2

Die Kläger sind zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Eheleute, die in den Streitjahren beide ausländische Kapitalerträge erzielten. Diese Kapitalerträge erklärten die Kläger zunächst nicht im Rahmen ihrer Einkommensteuererklärung für die Streitjahre (2001 bis 2003). Nachdem die Kläger die ausländischen Kapitalerträge gegenüber dem Beklagten mit geschätzten Werten nacherklärt hatten, änderte der Beklagte die bis dahin ergangenen Einkommensteuerbescheide unter dem 10. März 2010 auf Grundlage von § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO).

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Die Änderungsbescheide führten dabei unter dem Punkt "Art der Festsetzung" aus: "Der Bescheid ist nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert. Er ist nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO vorläufig, soweit dies im Erläuterungsteil ausgeführt ist. Er ist nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig." Unter Ziffer 1 der Erläuterungen der jeweiligen Einkommensteuerbescheide war der Vorläufigkeitskatalog nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO unter Hinweis auf die genannte Vorschrift ersichtlich. Unter den weiteren Erläuterungen führte das Finanzamt aus: "Die Festsetzung der Einkommensteuer ist vorläufig hinsichtlich der Einkünfte aus Kapitalvermögen - Kapitalerträge aus den Anlagen bei der ... in der Schweiz und der ... in Österreich -, soweit die endgültigen Werte noch nicht vorliegen".

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Gegen diese Bescheide legten die Kläger jeweils Einspruch ein. Das FA wies die Kläger darauf hin, dass im Hinblick auf die vorläufig gestellten Punkte die Einkommensteuer aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks weiter offen sei. Aus diesem Grunde seien die Einsprüche in diesem Punkt nicht nötig und sogar unzulässig. Dementsprechend nahmen die Kläger diese Einsprüche zurück.

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Aufgrund einer Mitteilung über geänderte Beteiligungseinkünfte erließ das FA unter dem 9. August 2010 Änderungsbescheide für die Streitjahre, welche es auf § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO stützte. Unter "Art der Festsetzung" führte der Bescheid jeweils an: "Der Bescheid ist nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert. Er ist nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO vorläufig, soweit dies im Erläuterungsteil ausgeführt ist." Dementsprechend befanden sich im Erläuterungsteil nur die Hinweise zum Vorläufigkeitskatalog des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO, welcher jeweils mit demjenigen der Bescheide vom 10. März 2010 übereinstimmte. Ein Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO oder ein Hinweis auf die Aufhebung desselben enthielten die Änderungsbescheide nicht. Das Computerprogramm des FA hatte vor der Freigabe der Änderungen einen Prüfhinweis ausgegeben, wonach die vorangegangene Festsetzung aus einem anderen Grund als der angeblichen Verfassungswidrigkeit steuerlicher Vorschriften vorläufig sei. Falls diese Vorläufigkeit beibehalten werden solle, sei der Grund im Bescheid zu erläutern und eine bestimmte Kennzahl einzugeben. Der zuständige Bearbeiter vermerkte im Jahr 2001 insoweit "keine weitere vorl." und in den zeitgleich bearbeiteten Jahren 2002 und 2003 den Standardtext "wurde erledigt", jeweils ohne die entsprechende Kennzahl einzugeben.

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Einen nach endgültiger Ermittlung der Kapitalerträge gestellten Antrag auf Änderung der Bescheide zu Gunsten der Kläger vom 29. Februar 2012 lehnte das FA mit Ablehnungsbescheid vom 4. Juni 2012 ab. Die Bescheide seien in diesem Punkt nicht mehr vorläufig und könnten daher nicht geändert werden. Das dagegen angestrengte Einspruchsverfahren verlief erfolglos. In der Einspruchsentscheidung vom 1. Oktober 2012 führte das FA aus, es entspreche nach wie vor der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), dass der Vorläufigkeitsvermerk nur in dem Umfang Wirkung entfalte, der sich aus dem zuletzt gültigen Steuerbescheid ergebe. Dies sei auch aus aktuellen Urteilen dementsprechend ersichtlich. Demgegenüber treffe es nicht zu, dass eine Nebenbestimmung so lange wirksam bleibe, bis sie ausdrücklich durch Bescheid aufgehoben werde. Zwar sei den Klägern zuzugeben, dass sich aus dem Urteil des Finanzgerichts Münster vom 25. Mai 2012 4 K 511/11, EFG 2012, 1616[FG Münster 25.05.2012 - 4 K 511/11 E] eine andere Rechtsauffassung ergebe. Dem könne sich das FA allerdings nicht anschließen, da selbst nach Auffassung des FG Münster die Rechtsprechung des BFH entgegenstehe.

7

Hiergegen richtet sich nunmehr die Klage. Die Kläger vertreten die Auffassung, der Beklagte sei zu einer Änderung nach § 165 Abs. 2 AO verpflichtet. Aus der fehlenden Wiederholung des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO könne nicht auf dessen Wegfall geschlossen werden, vielmehr wirke die Vorläufigkeit fort. Denn eine Nebenbestimmung im Sinne von § 120 AO bleibe auch in den nachfolgenden Änderungsbescheiden wirksam, bis sie ausdrücklich durch eine selbständige Verfügung aufgehoben werde. Diese Aufhebung könne nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO nur dann erfolgen, wenn die Ungewissheit über die Voraussetzungen für die Entstehung des Steueranspruchs beseitigt sei. Dieses Erfordernis schließe die Möglichkeit einer stillschweigenden Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks im Rahmen einer ausdrücklich auf eine andere Korrekturvorschrift gestützten Änderungsveranlagung aus.

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Nur wenn ein neuer Vorläufigkeitsvermerk an die Stelle des bisherigen Vorläufigkeitsvermerks trete, könne die Finanzbehörde den Umfang der Vorläufigkeit neu bestimmen. Eine solche Neuregelung im vollen Umfang habe es aber nicht gegeben. Denn sowohl der ursprüngliche als auch der Änderungsbescheid hätten jeweils den Vorläufigkeitskatalog nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO aufgewiesen. Dabei habe das FA ausdrücklich zwischen § 165 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AO unterschieden. Aus der bloßen Nichterwähnung der Vorläufigkeit nach Satz 1 der Vorschrift in dem Änderungsbescheid könne daher nicht darauf geschlossen werden, dass darin eine Aufhebung dieses Vermerks zu sehen sei. Die inhaltliche und aufbautechnische Differenzierung zwischen den beiden Vorschriften stehe der Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks vielmehr entgegen. Hinzu trete der Umstand, dass der Beklagte rechtlich auch gar nicht in der Lage gewesen sei, die Vorläufigkeit aufzuheben, da die Ungewissheit über die Höhe der ausländischen Kapitalerträge im August 2010 noch fortbestanden habe. Dies gelte umso mehr, als dass man sich im vorangegangenen Einspruchsverfahren quasi darüber verständigt habe, dass der Beklagte die Einkommensteuer für 2001 bis 2003 soweit vorläufig festsetze.

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Der Prüfvermerk hinsichtlich des Wegfalls der Vorläufigkeit aus dem maschinellen Festsetzungsverfahren führe nicht zu einem anderen Ergebnis, da dieser naturgemäß weder den Klägern noch den Bevollmächtigten bekannt gewesen sei. Es komme insoweit nicht darauf an, was die Finanzbehörde habe erklären wollen, sondern wie der Steuerpflichtige dies nach Treu und Glauben habe verstehen können.

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Insgesamt hätten die Kläger aufgrund der inhaltlichen Trennung der beiden Vorläufigkeitsvermerke als auch aufgrund des vorangegangenen Einspruchsverfahrens nach ihrem Verständnis von einer Fortführung des Vorläufigkeitsvermerks ausgehen dürfen.

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Die Kläger beantragen,

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den Beklagten nach Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 4. Juni 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 1. Oktober 2012 zu verpflichten, die Einkommensteuerbescheide 2001 bis 2003 vom 9. August 2010 dahingehend abzuändern, dass nur Einkünfte aus Kapitalvermögen beim Kläger in Höhe von 121.808 DM und bei der Klägerin in Höhe von 121.023 DM im Jahr 2001, 55.750 EUR beim Kläger und 55.516 EUR bei der Klägerin im Jahr 2002 und 53.829 EUR beim Kläger sowie 53.661 EUR bei der Klägerin im Jahr 2003 berücksichtigt werden.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen

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und verweist auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung. Zwar sei die Höhe der nunmehr mitgeteilten Kapitaleinkünfte unstreitig, die Voraussetzungen für eine Änderbarkeit der Einkommensteuerbescheide lägen aber nicht vor.

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Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Entscheidungsgründe

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I. Die zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnung der Änderung seitens des FA war rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung - FGO-).

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1. Zwar waren - worüber zwischen den Beteiligten kein Streit mehr zu bestehen scheint - die Einkommensteuerbescheide vom 10. März 2010 nicht aufgrund von § 129 Satz 1 AO dergestalt zu berichtigten, dass der Vorläufigkeitsvermerk in seinem bisherigen Umfang erhalten bleibt. Denn es kann angesichts des vom zuständigen Bearbeiter für das Jahr 2001 vorgenommenen Eintrags zur Abarbeitung der programmgesteuerten Hinweise nicht in Zweifel gezogen werden, dass die Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO bewusst nicht weiter in den Bescheid aufgenommen werden sollte. Dies mag zwar falsch gewesen sein, gleichwohl liegt kein mechanischer Fehler, sondern eine bewusste Steuerung durch den Bearbeiter vor, welche eine Berichtigung ausschließt. Dies gilt gleichsam für die Jahre 2002 und 2003. Denn die drei Jahre sind zusammen bearbeitet worden, so dass für den Bearbeiter keine Veranlassung bestand, an der schon für das erste Jahr vorgenommen Beurteilung etwas zu ändern bzw. diese - nochmals - zu überdenken.

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Zudem wäre - anderweitige Verlängerungen der Festsetzungsfrist für die Streitjahre sind nicht erkennbar - die Berichtigung ohnehin nur innerhalb eines Jahres möglich gewesen (§ 171 Abs. 2 AO), welches bereits abgelaufen war, als die Kläger die endgültigen Kapitaleinkünfte gegenüber dem FA erklärten. Nur vorsorglich weist der Senat in diesem Zusammenhang darauf hin, dass den Klägern auch keine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist hinsichtlich der geänderten Bescheide - etwa aufgrund fehlender Begründung zum Wegfall der Vorläufigkeit (§ 126 Abs. 3 AO) - gewährt werden kann. Denn die insoweit maßgebliche Jahresfrist (§ 110 Abs. 3 AO) wäre ebenso abgelaufen gewesen.

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2. Gleichwohl war das FA zur Durchführung der beantragten Änderung verpflichtet, die Voraussetzungen des § 165 Abs. 2 Satz 2 AO liegen vor.

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Nach dieser Vorschrift ist die vorläufige Steuerfestsetzung aufzuheben, zu ändern oder für endgültig zu erklären, wenn die Ungewissheit beseitigt ist. Dies ist hier der Fall. Die Ungewissheit, namentlich die Höhe der anzusetzenden Kapitaleinkünfte, ist nach Ermittlung der Kapitaleinkünfte und Übermittlung des Ergebnisses an das FA weggefallen. Auch das FA geht davon aus, dass die ausgewiesenen Kapitaleinkünfte der Höhe nach zutreffend ermittelt wurden.

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Die einzig zwischen den Beteiligten in Streit stehende Frage, ob die Steuerfestsetzung insoweit noch vorläufig war, ist zu bejahen. Das FA hat den auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO gestützten Vorläufigkeitsvermerk weder aufgehoben, noch ist dieser durch den allein auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO gestützten Vorläufigkeitsvermerk in den Bescheiden vom 10. August 2012 ersetzt worden. Im Einzelnen:

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a) Zu einer ausdrücklichen Aufhebung des auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO gestützten Vorläufigkeitsvermerks ist es nicht gekommen. Es kann insoweit dahinstehen, ob - worauf der der Bearbeitungsvermerk "keine weitere vorl." schließen lässt - das FA von einem Wegfall der Ungewissheit ausgegangen ist. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, hätte das FA jedenfalls entgegen § 165 Abs. 2 Satz 2 AO nicht die Endgültigkeit des Bescheids erklärt.

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b) Die Möglichkeit einer konkludenten Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks besteht nach der Rechtsprechung nicht. Vielmehr ist wie folgt zu unterscheiden:

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Wird in einem - nicht auf § 165 Abs. 2 AO gestützten - Änderungsbescheid der Vorläufigkeitsvermerk nicht wiederholt, bleibt die Vorläufigkeit in dem bisherigen Umfang erhalten (BFH-Urteile vom 9. September 1988 III R 181/84, BFHE 154, 430, [BFH 09.09.1988 - III R 191/84] BStBl II 1989, 9 [BFH 09.09.1988 - III R 191/84]; vom 7. Dezember 1988 X R 16/87, BFH/NV 1989, 663 zum Vorbehalt der Nachprüfung; vom 24. April 1990 IX R 58/85, BFH/NV 1991, 139). Demgemäß bedarf es einer ausdrücklichen Endgültigkeitserklärung zur Beseitigung der Vorläufigkeit (BFH-Urteil vom 19. Oktober 1999 IX R 23/98, BFHE 190, 44, BStBl II 2000, 282 [BFH 19.10.1999 - IX R 23/98]).

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Wird hingegen im Rahmen eines Änderungsbescheids der bisherige Vorläufigkeitsvermerk geändert, tritt dieser an die Stelle des bisherigen Vorläufigkeitsvermerks, bestimmt den Umfang der Vorläufigkeit neu und regelt abschließend, inwieweit die Steuer nunmehr vorläufig festgesetzt ist (BFH-Urteil vom 19. Oktober 1999 IX R 23/98, BFHE 190, 44, BStBl II 2000, 282 [BFH 19.10.1999 - IX R 23/98]). Im zugrundeliegenden Fall des BFH war im Tenor der Bescheide - im Gegensatz zum Streitfall - keine Unterscheidung zwischen den beiden Sätzen des § 165 Abs. 1 AO getroffen worden (vgl. hierzu FG Münster, Urteil vom 25. Mai 2012 4 K 511/11 E, EFG 2012, 1616 sowie Graw in EFG 2012, 1618, 1619).

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c) Auf Grundlage dieser Rechtsprechung kommt es im Streitfall maßgeblich darauf an, ob im Falle der sowohl auf Satz 1 als auch Satz 2 des § 165 Abs. 1 AO gestützten Vorläufigkeit ein einheitlicher Vorläufigkeitsvermerk besteht oder zwei getrennt voneinander zu behandelnde Vorläufigkeitsvermerke vorliegen.

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Wäre der Vorläufigkeitsvermerk einheitlich zu verstehen, hätte das FA diesen im Rahmen der auf § 175 AO gestützten Änderungsbescheide dergestalt eingeschränkt, dass lediglich der neue Vorläufigkeitsvermerk Bestand hätte und der Bescheid im Hinblick auf die Höhe der Kapitaleinkünfte nicht mehr von der Vorläufigkeit erfasst gewesen wäre. Bei zwei voneinander getrennten Vorläufigkeitsvermerken hätte das FA den auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO gestützten Vorläufigkeitsvermerk lediglich nicht wiederholt, was aber keine Auswirkung auf die Wirksamkeit desselben gehabt hätte.

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d) Nach Auffassung des Senats sind - jedenfalls in den Fällen, in denen der Steuerbescheid bereits im Tenor ausdrücklich danach unterscheidet - die Vorläufigkeitsvermerke nach Satz 1 und Satz 2 des § 165 Abs. 1 AO getrennt voneinander zu beurteilen (im Ergebnis ebenso FG Münster, Urteil vom 25. Mai 2012 4 K 511/11 E, EFG 2012, 1616). In der Folge ersetzte bzw. bestätigte im Streitfall der Vorläufigkeitsvermerk in den Bescheiden vom 9. August 2010 nur den bisherigen auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO gestützten Vorläufigkeitsvermerk, nicht hingegen denjenigen aufgrund von Satz 1 der genannten Vorschrift.

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aa) Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten der Vorläufigkeit folgt schon unmittelbar aus § 165 Abs. 1 AO. Denn während sich Satz 1 der Vorschrift auf eine Ungewissheit im verwirklichten Lebenssachverhalt bezieht (vgl. dazu Cöster in Pahlke, AO, 2. Aufl. 2009, § 165 Rn. 12f), bezieht sich der Vorläufigkeitsvermerk nach Satz 2 der Vorschrift auf eine Ungewissheit über das anzuwendende Recht. Dementsprechend ist auch nur der Vorläufigkeitsvermerk aufgrund von § 165 Abs. 1 Satz 1 AO individuell auf den jeweiligen Steuerfall zugeschnitten, während die Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO maschinell auf Grundlage eines BMF-Schreibens in der jeweils gültigen Fassung dem Grunde nach alle Einkommensteuerbescheide betrifft. Die Unterscheidung im Gesetz setzt sich fort in unterschiedlichen Rechtsfolgen betreffend die Beseitigung des Ungewissheit sowie der Pflicht zur Erklärung des Bescheids für endgültig (vgl. § 165 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 AO).

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bb) Vor dem Hintergrund der bereits im Gesetz angelegten Unterscheidung sieht der Senat keine Bedenken, jedenfalls dann von zwei getrennten Vorläufigkeitsvermerken auszugehen, wenn damit einer schon in den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegten Differenzierung gefolgt wird.

32

Es entsprach lange Zeit der Praxis der niedersächsischen Finanzämter, in den Steuerbescheiden unter dem Punkt "Art des Festsetzung" lediglich anzugeben, der Steuerbescheid sei "nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig, soweit dies im Erläuterungsteil ausgeführt" sei. Soweit eine "maschinelle" Vorläufigkeit im Erläuterungsteil aufgeführt worden war, beinhaltete diese ebenso keinen ausdrücklichen Hinweis auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO (vgl. dazu etwa den Einkommensteuerbescheid 2003 für die Kläger vom 10. März 2005, Bl. 111 Einkommensteuerakte 2003). Zwischenzeitlich unterscheidet die Finanzverwaltung unter "Art der Festsetzung" zwischen den beiden Sätzen des § 165 Abs. 1 AO, ebenso wie nunmehr die Erläuterungstexte zur maschinellen Vorläufigkeit auf bestimmte Nummern des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO Bezug nehmen. In den Fällen einer nicht vorgegebenen Erläuterung der Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO hängt es naturgemäß vom jeweiligen Bearbeiter ab, ob in den Erläuterungen ausdrücklich auf die Vorschrift Bezug genommen wird. In den Bescheiden vom 11. März 2010 etwa war dies nicht der Fall.

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Wird eine solche vom Gesetz jedenfalls angelegte Unterscheidung vom FA getroffen, muss sich das FA auch im Folgenden an diese Unterscheidung halten und sich am eigenen Bescheid festhalten lassen. Denn aufgrund der einmal vorgenommenen Unterscheidung dürfen die Steuerpflichtigen darauf vertrauen, dass Änderungen im Hinblick auf den Umfang der Vorläufigkeit nur eines Satzes des § 165 Abs. 1 AO auch ausdrücklich als solche hervorgehoben werden.

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Gemäß § 124 Abs. 1 Satz AO wird ein Vorläufigkeitsvermerk als Nebenbestimmung zu einem Verwaltungsakt in gleicher Weise wie der Verwaltungsakt selbst mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird. Für den Regelungsinhalt der Nebenbestimmung ist danach entscheidend, wie der Adressat ihren materiellen Gehalt nach den ihm bekannten Umständen - seinem "objektiven Verständnishorizont" - unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (vgl. § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches -BGB-) verstehen konnte (BFH-Urteile vom 27. November 1996 X R 20/95, BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791 [BFH 27.11.1996 - X R 20/95] und vom 19. Oktober 1999 IX R 23/98, BFHE 190, 44, BStBl II 2000, 282 [BFH 19.10.1999 - IX R 23/98]).

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Dementsprechend ist es zwar nicht entscheidend, ob das FA überhaupt zur Aufhebung der auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO gestützten Vorläufigkeit befugt war. Denn selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, besteht die Möglichkeit einer rechtswidrigen Aufhebung. Jedoch hat nach dem Verständnis des Adressaten der Steuerbescheide vom 11. März 2010 das FA eine ausdrückliche Unterscheidung zwischen zwei Arten der vorläufigen Steuerfestsetzung sowohl im Tenor als auch in den Erläuterungen zum Bescheid vorgenommen. Der selbe Adressat der Bescheide vom 9. August 2010 hatte keine Veranlassung davon auszugehen, dass die Finanzverwaltung diese selbst geschaffene Unterscheidung nunmehr wieder beseitigen wollte. Aus den Bescheiden geht dies auch nicht hinreichend hervor, da wie ausgeführt eine Endgültigkeitserklärung gerade nicht abgegeben wurde. Auch die Begleitumstände vor Erlass der Bescheide vom 9. August 2010 boten den Klägern keinen Anlass, von einem teilweisen Wegfall der Vorläufigkeit ausgehen zu müssen. Vielmehr haben die Kläger auf den Hinweis des FA, die Bescheide seien im Hinblick auf die Kapitaleinkünfte vorläufig ergangen, sogar die eingelegten Einsprüche zurückgenommen. Das FA hat hiermit jedenfalls sinngemäß zu verstehen gegeben, eine Änderung der Bescheide aufgrund der abschließenden Ermittlung der Höhe der Kapitaleinkünfte sei gerade aufgrund dieser Vorläufigkeit auch außerhalb eines Rechtsbehelfsverfahrens möglich. Es darf zudem nicht unberücksichtigt bleiben, dass ein Zusammenhang zwischen der auf § 175 AO gestützten Änderung und dem Vorläufigkeitsvermerk aufgrund von § 165 Abs. 1 Satz 1 AO nicht bestand und auch insoweit die Kläger keinen Anlass hatten, von einem Wegfall der Vorläufigkeit ausgehen zu müssen. Es sei insoweit noch einmal klargestellt, dass - anders als das FA behauptet - die Änderungsbescheide allein an die Kläger adressiert waren.

36

Für die Ansicht des FA spricht aus Sicht des Senats allenfalls der Umstand, dass sich der Umfang des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO in den Bescheiden vom 11. März 2010 und vom 9. August 2010 nicht geändert hat. Es wäre denkbar gerade hieraus den Schluss zu ziehen, es müsse von einem geänderten (einheitlichen) Vorläufigkeitsvermerk ausgegangen werden, welcher eben nur die Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO nicht mehr erfasst. Dies erscheint dem Senat aufgrund der obigen Erwägungen aber nicht zwingend. Zudem darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass es an sich zur Klarstellung geboten ist, in jedem Änderungsbescheid den Vorläufigkeitsvermerk vollständig zu wiederholen (vgl. BFH-Urteil vom 24. April 1990 IX R 58/85, BFH/NV 1991, 131 [BFH 31.05.1990 - V R 21/86]). Aus der Tatsache, dass sich das FA teilweise (für § 165 Abs. 1 Satz 2 AO) daran hält, teilweise (für § 165 Abs. 1 Satz 1 AO) hingegen nicht, kann angesichts der vom FA vorgenommenen Trennung nicht auf einen einheitlichen Willen zur vollständigen Neuregelung der Vorläufigkeit geschlossen werden, zumal diese ohnehin aus dem Bescheid nicht hinreichend deutlich hervorging.

37

e) Da wie dargelegt der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO durch die Änderungsbescheide nicht wegfiel, war das FA auch verpflichtet, die von den Klägern beantragte Änderung gemäß § 165 Abs. 2 Satz 2 AO durchzuführen, nachdem die Höhe der Kapitaleinkünfte unstreitig ist. Es kommt insoweit auch nicht auf die Rechtmäßigkeit des Vorläufigkeitsvermerks an, da der Bescheid, mit welchem die Vorläufigkeit angeordnet worden ist, bestandskräftig geworden und nicht Gegenstand des Verfahrens ist (vgl. BFH-Urteil vom 9. September 1988 III R 191/84, BFHE 154, 430, BStBl II 1989, 9 [BFH 09.09.1988 - III R 191/84]).

38

II. Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1, 2 FGO zuzulassen. Die Frage, ob zwischen den auf Satz 1 bzw. Satz 2 des § 165 Abs. 1 AO gestützten Vorläufigkeitsvermerken unterschieden werden kann, hat grundsätzliche Bedeutung und dient im Hinblick auf das BFH-Urteil vom 19. Oktober 1999 (IX R 23/98, BFHE 190, 44, BStBl II 2000, 282 [BFH 19.10.1999 - IX R 23/98]) auch der Fortbildung des Rechts.

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Die übrigen Nebenentscheidungen beruhen auf § 135 Abs. 1 FGO, § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung und § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO.