Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 26.06.2007, Az.: 13 A 3270/06

Bedarf; Erziehung; Erziehungsbeitrag; Erziehungsfreibetrag; Großeltern; Hilfe; Jugendhilfe; KICK; Kinderhilfe; Kosten; Kürzung; Pauschalbetrag; Pauschale; Pflegeeltern; Pflegegeld; Pflegekind; Pflegeperson; Unterhalt; Unterhaltsbedarf; Unterhaltsverpflichtung; Verwandtschaft

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
26.06.2007
Aktenzeichen
13 A 3270/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 71994
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Der durch das Kinider- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) vom 8. September 2005 neu eingefügte § 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII gewährt der zuständigen Jugendhilfebehörde einen Ermessensspielraum bei der Entscheidung, ob und in welcher Höhe das Pflegegeld gekürzt wird. Dabei muss die Behörde die Besonderheiten des Einzelfalles berücksichtigen. Eine generalisierende Betrachtungsweise verbietet sich daher.

2. Bei der Prüfung, ob eine Kürzung des Pflegegeldes in Betracht kommt, muss das Jugendamt die wirtschaftlichen Verhältnisse der Pflegeperson berücksichtigen. Das gilt auch dann, wenn das Jugendamt beabsichtigt, das Pflegegeld lediglich um den Pauschalbetrag für die Kosten der Erziehung (sog. "Erziehungsfreibetrag") zu kürzen.

3. Von Bedeutung sind für die Ausübung des Ermessens weiterhin die Lebensumstände der Pflegeperson und des Pflegekindes sowie der Unterhaltsbedarf des Pflegekindes.

4. § 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII knüpft ausdrücklich an die Unterhaltsverpflichtung der Pflegeperson an. Daher ist bei der Entscheidung über die Kürzung des Pflegegeldes zu berücksichtigen, ob die Pflegeeltern aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage nach Abzug des angemessenen Selbstbehalts aus § 1603 Abs. 1 BGB tatsächlich zum Unterhalt verpflichtet sind.

Tenor:

Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin für den Zeitraum vom 1. Juni 2006 bis zum 31. Dezember 2007 weiteres Pflegegeld in Höhe von monatlich 207,00 Euro zu bewilligen; die Bescheide des Beklagten vom 11. Mai 2006 und 4. Januar 2007 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Beteiligten streiten über die Höhe des der Klägerin im Rahmen von Leistungen der Hilfe zur Erziehung zustehenden Pflegegeldes.

2

Die am 30. Oktober 19.. geborene Klägerin ist die Großmutter des am 15. Mai 19.. geborenen M. K.. Der Junge wuchs zunächst bei seinen damals miteinander verheirateten Eltern Frau K. K., spätere Frau K.-M., und Herrn R. K. auf. Frau K.-M. ist die Tochter der Klägerin. Die familiäre Atmosphäre war durch Eheprobleme, wiederholte Trennungen der Kindeseltern, völlige Desorientierung bei der Haushaltsführung und Probleme im Umgang mit Geld sowie bei der Betreuung und Verpflegung von M. gekennzeichnet und hatte gravierenden Entwicklungsretadierungen des Kindes zur Folge. Unterstützungsversuche durch das damals zuständige Jugendamt scheiterten. An Ostern 1994 trennten sich die Eltern von M.. Mit Zustimmung seiner Eltern, die sich nach ihrer Trennung mit der weiteren Erziehung überfordert sahen, lebte M. seit August 1995 endgültig bei der Klägerin und ihrem Ehemann; zunächst in Detmold, später in Bielefeld und seit November 1999 im Zuständigkeitsbezirk des Beklagten. Nach der Aufnahme ihres Enkelkindes gab die Klägerin ihre Berufstätigkeit als Verkäuferin auf, um sich dessen Erziehung zu widmen. M. K. bedurfte regelmäßiger ärztlicher, psychotherapeutischer und heilpädagogischer Behandlung. Über mehrere Jahre nahm er das Medikament Ritalin ein.

3

Seit dem 15. Mai 1998 gewährte die Stadt Detmold den Eltern von M. Hilfe zur Erziehung einschließlich der Leistungen nach §§ 39, 40 SGB VIII. Durch Urteil des Amtsgerichts D. vom 11. November 1999 (15 F 351/98) wurde den Eltern das Sorgerecht für M. entzogen und auf die Klägerin als Vormünderin übertragen. Daraufhin gewährte die Stadt D. der Klägerin ab dem 12. November 1999 Leistungen der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege.

4

Nachdem die Klägerin, ihr Ehemann und M. K. in den Zuständigkeitsbezirk des Beklagten verzogen waren, erkannte dieser seine örtliche Zuständigkeit an und gewährte der Klägerin Leistungen der Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege ab dem 1. September 2001. Durch den Bescheid vom 6. August 2001 wurde zunächst ein monatliches Pflegegeld in Höhe von 1.126,00 DM festgesetzt (890,00 DM materielle Aufwendungen zuzüglich 371,00 DM Kosten der Erziehung abzüglich 135,00 DM anzurechnendes Kindergeld). Auch für die Folgezeiträume wurde Pflegegeld einschließlich eines Erziehungsbeitrags bewilligt.

5

Seit dem Tode ihres Ehemannes im Juni 2002 bezieht die Klägerin eine Witwenrente. Die Höhe der ausgezahlten Rente beträgt bis einschließlich Juni 2007 703,57 Euro monatlich und ab Juli 2007 707,84 Euro. Weiterhin erhält die Klägerin Kindergeld für ihr Pflegekind in Höhe von 154,00 Euro, von dem die Hälfte auf das bewilligte Pflegegeld angerechnet wird. Nach ihren Angaben verfügt sie weder über weitere Einkünfte noch über Vermögen. Sie wohnt zusammen mit ihrem Enkelkind in einer Mietwohnung und zahlt eine monatliche Miete von 400,00 Euro. Weder die Eltern von M. noch seine Großeltern väterlicherseits leisten für ihn Unterhalt. Seit dem Tode des Ehemannes der Klägerin erhält M. eine Halbwaisenrente mit einem monatlichen Zahlbetrag in Höhe von 206,56 Euro, der vollständig vom Jugendamt des Beklagten vereinnahmt wird.

6

Mit Bescheid vom 4. Mai 2006 setzte der Beklagte das monatliche Pflegegeld ab Mai 2006 auf 731,00 Euro fest (601,00 Euro materielle Aufwendungen zuzüglich 207,00 Euro Kosten der Erziehung abzüglich 77,00 Euro anzurechnendes Kindergeld). Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt der Bescheid nicht.

7

Mit Datum vom 11. Mai 2006 erließ der Beklagte einen weiteren, mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid, in dem es hieß:

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„... in Abänderung meines Bescheides vom 06.08.2001 (Bewilligung des Pflegegeldes) in Verbindung mit der Neufestsetzung des Pflegegeldes ab 01.01.2006 gewähre ich Ihnen folgendes Pflegegeld:

9
Materielle Aufwendungen601,00 Euro
Abzüglich anzurechnendes Kindergeld 77,00 Euro
Monatliches Pflegegeld524,00 Euro
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Zur Begründung führte der Beklagte aus: Nach § 39 SGB VIII könne der monatliche Pauschalbetrag angemessen gekürzt werden, wenn die Pflegeperson unterhaltsverpflichtet sei. Grund für diese Regelung sei, dass auch Großeltern die Aufgabe von Pflegeeltern im Rahmen von Hilfe zur Erziehung übernehmen könnten. Großeltern könnten aufgrund ihrer engen verwandtschaftlichen Beziehung zu dem Kind oder Jugendlichen und der daraus resultierenden Unterhaltspflicht nicht ohne weiteres dieselbe finanzielle Honorierung für ihre Betreuungs- und Erziehungsleistungen erwarten wie andere Pflegepersonen. Das Kreisjugendamt habe im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens entschieden, eine angemessene Kürzung vorzunehmen. Aus Gründen der Gleichbehandlung von Neu- und Altfällen erfolge in allen Fällen eine Kürzung um den Anteil des Erziehungsbeitrags.

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Nachdem die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten den Beklagten zunächst erfolglos zu einer Überprüfung dieser Entscheidung aufgefordert hatte, hat sie am 12. Juni 2006 Klage erhoben. Sie meint, dass der Beklagte § 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII bei der Kürzung des Pflegegeldes um den Erziehungsbeitrag fehlerhaft angewendet habe. Eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne dieser Regelung bestehe nur dann, wenn die Pflegeperson unter Berücksichtigung ihrer finanziellen Verhältnisse sowie der Familienverhältnisse unterhaltspflichtig sei. Ihre Unterhaltspflicht sei nachrangig gegenüber derjenigen der Eltern von M.. Zudem sei sie allein aufgrund ihrer geringen Einkünfte nicht zur Leistung von Unterhalt verpflichtet. Außerdem seien im Rahmen der Ermessensentscheidung ihre Lebensumstände zu berücksichtigen. Sie - die Klägerin - pflege ihren Enkel schon seit 10 Jahren und habe aus diesem Grunde ihre Berufstätigkeit aufgegeben. Nur ihrem dauerhaften Einsatz sei es zu verdanken, dass M. sich günstig entwickelt habe.

12

Die Klägerin hat mit ihrer Klage zunächst nur die Kürzung des Pflegegeldes durch den Bescheid vom 11. Mai 2006 angegriffen. Nach Klageerhebung hat der Beklagte mit Bescheid vom 4. Januar 2007 das Pflegegeld ab dem 1. Januar 2007 auf 530,00 Euro festgesetzt und dabei wiederum keine Kosten der Erziehung berücksichtigt. Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt dieser Bescheid nicht.

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Die Klägerin beantragt nunmehr,

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den Beklagten zu verpflichten, ihr bis einschließlich Dezember 2007 ein monatliches Pflegegeld für die Zeit von Juni bis einschließlich Dezember 2006 von 731,00 Euro und für die Zeit von Januar bis einschließlich Dezember 2007 von 737,00 Euro zu gewähren und die Bescheide des Beklagten vom 11. Mai 2006 und 4. Januar 2007 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er verteidigt die Bescheide vom 11. Mai 2006 und 4. Januar 2007 wie folgt: Die Voraussetzungen des § 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII in Bezug auf eine Kürzung des Pflegegeldes seien gegeben. Eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne der Vorschrift liege bereits dann vor, wenn die Pflegeperson abstrakt unterhaltspflichtig sei. Dies sei bei der Klägerin gemäß § 1601 BGB der Fall, weil sie mit ihrem Pflegekind in gerader Linie verwandt sei. Eine Berücksichtigung der konkreten Familien- und Vermögensverhältnisse sei für die Feststellung der Unterhaltsverpflichtung nicht erforderlich. Die Vorschrift sei auch ermessensfehlerfrei angewendet worden. Die Kürzung des Pflegegeldes um den immateriellen Erziehungsbeitrag sei nach dem Willen des Gesetzgebers durchaus möglich. Von einer Kürzung des Anteils für die materiellen Aufwendungen sei bewusst abgesehen worden, um Großeltern nicht in die Lage zu bringen, dass sie aus ihrem eigenen Einkommen den Unterhalt des Pflegekindes bestreiten müssten. Aus § 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII gehe nicht eindeutig hervor, dass eine Prüfung der näheren Umstände des Einzelfalles erforderlich sei. Deshalb sei auch eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Pflegeperson nicht notwendig. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass die Erziehungsleistung der Klägerin nicht finanziell honoriert werde.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig. Gegenstand des Verfahrens ist der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf höheres Pflegegeld für die Monate Juni 2006 bis einschließlich Dezember 2007. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung ihren Antrag auf den Bewilligungszeitraum ab Januar 2007 ausgedehnt, der durch den Bescheid des Beklagten vom 4. Januar 2007 geregelt worden ist. Diese Klageerweiterung ist zulässig, weil der Beklagte ihr zugestimmt hat (§ 91 Abs. 1 VwGO). Sie erfolgte auch fristgemäß, weil der Bescheid vom 4. Januar 2007 keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt und daher zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht bestandskräftig geworden war (§ 58 Abs. 2 VwGO).

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Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Die Klägerin steht für den Zeitraum vom 1. Juni 2006 bis zum 31. Dezember 2007 ein Anspruch auf weiteres Pflegegeld in Höhe von monatlich 207,00 Euro gegen den Beklagten zu.

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Wird Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII geleistet, so ist gemäß § 39 Abs. 1 SGB VIII in der seit dem 1. Oktober 2005 anzuwendenden Fassung des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) vom 8. September 2005 (BGBl. I, S. 2729) auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. Er umfasst auch die Kosten der Erziehung. Als „Annex-Anspruch“ zum Anspruch auf Hilfe zur Erziehung steht dieses Pflegegeld dem Personensorgeberechtigten zu (BVerwG, Urteil vom 12. September 1996 - 5 C 31.95 -, FEVS 47, 433 ff.). Personensorgeberechtigt ist aufgrund des Urteils des Amtsgerichts Detmold vom 11. November 1999 (15 F 351/98) die Klägerin als Vormünderin. Durch § 27 Abs. 2 a SGB VIII (in der Fassung des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes) wird nunmehr klargestellt, dass ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung und der damit verbundene Anspruch auf Pflegegeld nicht ausgeschlossen ist, soweit eine unterhaltspflichtige Person - hier die Großmutter - bereit ist, die Pflege des Kindes zu übernehmen.

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Gemäß § 39 Abs. 2, Abs. 4 SGB VIII soll der gesamte regelmäßig wiederkehrende Bedarf des Kindes durch laufende Leistungen auf Grundlage der tatsächlichen Kosten gedeckt werden, sofern sie einen angemessenen Umfang nicht übersteigen. Diese Leistungen sollen in einem monatlichen Pauschalbetrag gewährt werden, soweit nicht nach der Besonderheit des Einzelfalles abweichende Leistungen geboten sind. Nach § 39 Abs. 5 SGB VIII sollen die Pauschalbeträge für laufende Leistungen zum Unterhalt von der nach Landesrecht zuständigen Behörde festgesetzt werden. Dabei ist dem altersbedingt unterschiedlichen Unterhaltsbedarf von Kindern und Jugendlichen durch eine Staffelung der Beträge nach Altersgruppen Rechnung zu tragen. Auf dieser Grundlage hat das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit durch Runderlass vom 10. November 2005 (Nds. MBl., S. 943) für den Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2006 und dem 31. Dezember 2006 die in Niedersachsen anzuwendenden monatlichen Pauschalbeträge festgesetzt. Diese betragen für einen Jugendlichen ab 14 Jahren 601,00 Euro für materielle Aufwendungen sowie 207,00 Euro für Kosten der Erziehung. Für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2007 hat das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit die Pauschalbeträge für einen Jugendlichen ab 14 Jahren auf 607,00 Euro für materielle Aufwendungen sowie auf 209,00 Euro für Kosten der Erziehung festgesetzt (Runderlass vom 21. November 2006, Nds. MBl., S. 1441). Gemäß § 39 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII ist auf das Pflegegeld die Hälfte des nach § 66 EStG für das erste Kind gezahlten Kindergeldes anzurechnen.

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Nach dem (ebenfalls mit dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz neu eingefügten) § 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII kann der monatliche Pauschalbetrag angemessen gekürzt werden, soweit die Pflegeperson unterhaltsverpflichtet ist. Aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falles scheidet eine Kürzung jedoch aus, da das Ermessen insoweit auf Null reduziert ist. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass das Pflegegeld entsprechend den festgesetzten Pauschalbeträgen - abgesehen von der Berücksichtigung des Kindergeldes - ungekürzt gewährt wird.

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§ 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII gewährt der zuständigen Jugendhilfebehörde einen Ermessensspielraum bei der Entscheidung, ob und in welcher Höhe das Pflegegeld gekürzt wird. Dabei muss die Behörde die Besonderheiten des Einzelfalles berücksichtigen. Eine generalisierende Betrachtungsweise verbietet sich daher (VG Braunschweig, Beschluss vom 3. April 2006 - 3 B 165/06 -, NJW 2007, 940 = JAmt 2006, 248; VG Schleswig, Urteil vom 14. September 2006 - 15 A 273/05 -, juris; VG Arnsberg, Urteil vom 30. Januar 2007 - 11 K 2207/06 -, JAmt 2007, 101). Das kommt auch in der Gesetzesbegründung der Vorschrift klar zum Ausdruck (BT-Drs. 15/3676, S. 36):

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(Es) „kann nicht in Abrede gestellt werden, dass Großeltern aufgrund ihrer engen verwandtschaftlichen Beziehung zu dem Kind oder Jugendlichen und der daraus resultierenden Unterhaltspflicht auch eine von der Rechtsordnung anerkannte Pflichtenposition haben und deshalb von der staatlichen Gemeinschaft nicht ohne weiteres dieselbe finanzielle Honorierung für ihre Betreuungs- und Erziehungsleistungen innerhalb der Verwandtschaft erwarten dürfen wie Pflegepersonen, die dem Kind oder Jugendlichen nicht so eng verbunden sind. Deshalb ist vorgesehen, dass das Jugendamt das Pflegegeld in solchen Fällen nach der Besonderheit des Einzelfalls geringer bemessen kann“ (Hervorhebung durch die Kammer).

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Der Beklagte hat zwar erkannt, dass er bei der Kürzung des Pflegegeldes Ermessen auszuüben hat. Eine Prüfung der Umstände des Einzelfalles hat er jedoch nicht vorgenommen und deshalb von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Dieser Ermessensfehler unterliegt auch der gerichtlichen Kontrolle (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Vor Erlass des Bescheides vom 11. Mai 2006 hat der Beklagte die Klägerin nicht angehört und somit die Umstände des Einzelfalles nicht aufgeklärt. Vielmehr hat er bei allen Fällen in seinem Zuständigkeitsbereich ohne nähere Prüfung einheitlich das Pflegegeld um den vollen Erziehungsbeitrag in Höhe von 207,00 Euro gekürzt. Entsprechendes gilt auch für den Bescheid vom 4. Januar 2007, der keinerlei Begründung zur Ausübung des Ermessens enthält.

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Darüber hinaus hätte der Beklagte bei pflichtgemäßer Ausübung des Ermessens unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur zu dem Ergebnis kommen dürfen, dass eine Kürzung des der Klägerin zu gewährenden Pflegegeldes ausgeschlossen ist.

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Bei der Prüfung, ob eine Kürzung des Pflegegeldes in Betracht kommt, muss das Jugendamt die wirtschaftlichen Verhältnisse der Pflegeperson berücksichtigen (VG Braunschweig, a.a.O.; VG Schleswig, a.a.O.; VG Arnsberg, a.a.O.; Fischer, in: Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII-Kommentar, 3. Auflage 2007 § 39 Rn. 25). Von Bedeutung sind für die Ausübung des Ermessens weiterhin die Lebensumstände der Pflegeperson und des Pflegekindes sowie der Unterhaltsbedarf des Pflegekindes. Letzteres ergibt sich bereits daraus, dass nach § 39 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII das Pflegegeld nur dann in einem monatlichen Pauschalbetrag gewährt wird, soweit nicht nach der Besonderheit des Einzelfalls abweichende Leistungen geboten sind.

29

Die Lebensumstände der Klägerin werden dadurch geprägt, dass sie vor über zehn Jahren ihre Berufstätigkeit aufgegeben hat, um sich der Erziehung von M. zu widmen. Der Junge benötigte nach dem Vorbringen der Klägerin über Jahre hinweg einer besonders intensiven Betreuung. Dies wird auch durch die Verwaltungsvorgänge des Beklagten bestätigt. So wird in einem internen Schreiben der Stadtverwaltung Detmold vom 25. Juni 1998 festgehalten, dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt mit M. regelmäßig einmal wöchentlich zu Psychotherapiesitzungen ging, da das Kind gravierende Störungen im Sozialverhalten aufwies (Beiakte A, S. 12). Aus einem Hilfeplan des Beklagten vom Mai 2001 ergibt sich, dass M. damals ein hyperaktives Kind war und regelmäßig das Medikament Ritalin einnahm (Beiakte A, S. 9). Inzwischen hat M., wie die Klägerin im Verhandlungstermin bestätigt hat, eine positive Entwicklung durchlaufen und ist jetzt ein „ganz normaler“ Junge, der die Hauptschule besucht und eine Ausbildung als Kraftfahrzeugmechaniker oder Kraftfahrzeugschlosser anstrebt. Die Kammer hält das Vorbringen der Klägerin für glaubhaft, dass diese positive Entwicklung vor allem ihrem Einsatz zu verdanken ist. Die Verwaltungsvorgänge belegen, dass die Klägerin bei der Erziehung ihres Enkels weder von dessen Eltern noch von seiner Verwandtschaft väterlicherseits unterstützt wurde. Zudem erlitt der Ehemann der Klägerin im Jahr 1998 einen Schlaganfall und konnte die Klägerin seitdem ebenfalls nicht mehr unterstützen. Vielmehr bedurfte er bis zum seinem Tod im Jahr 2002 pflegerischer Betreuung und verbrachte seine letzten Lebensmonate in einem Pflegeheim.

30

Diese persönlichen Lebensumstände prägen auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin. Sie verfügt nur über ein Einkommen aus einer Witwenrente in Höhe von zur Zeit 703,57 Euro. Indem sie ihre Berufstätigkeit aufgegeben hat, hat sie auf die weitere Erzielung eines eigenen Einkommens und damit nicht zuletzt auch auf den weiteren Aufbau einer eigenen Altersvorsorge durch Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen verzichtet. Inzwischen ist sie 56 Jahre alt und hat daher nur noch geringe Chancen, auf dem Arbeitsmarkt wieder regelmäßige Beschäftigung zu finden. Sie wird daher die „Lücke“ in ihrer Altersversorgung, die während der Erziehung ihres Enkelkindes entstanden ist, voraussichtlich nicht mehr schließen können. Zudem erhält die Klägerin weder von M.s leiblichen Eltern noch von seinen Großeltern väterlicherseits finanzielle Unterstützung. Im Verhandlungstermin hat sie auf Befragen des Gerichts glaubhaft erklärt, dass sie über keinerlei Vermögen verfügt und ihre Ehe mit Schulden geendet hat. Weiterhin hat sie einen Mietvertrag vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass sie eine monatliche Miete von 400,00 Euro entrichtet. Die Klägerin hat im Verhandlungstermin auch glaubhaft versichert, dass sie - anders als in einem Vermerk des Jugendamtes des Beklagten festgehalten (Beiakte A, S. 160) - mit ihrem Vermieter, Herrn B., keine eheähnliche Lebensgemeinschaft führt und von Herrn B. keine finanzielle Unterstützung erhält.

31

Entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten hätten die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin auch bei einer Kürzung des Pflegegeldes um den Erziehungsbeitrag berücksichtigt werden müssen. Die umstrittene Frage, ob eine Kürzung des Erziehungsbeitrags überhaupt zulässig ist (dafür VG Schleswig, a.a.O.; Fischer, a.a.O.; dagegen Wiesner, SGB VIII-Kommentar, 3. Auflage 2006, § 39 Rn. 35 c), kann dabei offen bleiben. Jedenfalls kann der Erziehungsbeitrag aber nicht unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Pflegeeltern gekürzt werden (VG Arnsberg, a.a.O.; VG Schleswig, a.a.O.). § 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII spricht lediglich von einer Kürzung des Pauschalbetrages. Weder dem Wortlaut noch der Gesetzesbegründung lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber die rechtlichen Anforderungen an die Kürzung des Erziehungsbeitrages und des Beitrags für die materiellen Aufwendungen unterschiedlich gestalten wollte. § 39 SGB VIII verlangt nicht einmal, die Pauschalbeträge in einen Erziehungsbeitrag und einen Beitrag für materielle Aufwendungen aufzuteilen, wie es in der Praxis üblich ist. Nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst der notwendige Unterhalt zwar auch die Kosten der Erziehung. Daraus lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass die materiellen Unterhaltskosten und die Kosten der Erziehung nicht in einem einheitlichen Pauschalbetrag zusammengefasst werden dürfen. Zudem muss berücksichtigt werden, dass der Erziehungsbeitrag jedenfalls in sehr beschränkten finanziellen Verhältnissen faktisch auch zum Unterhalt der Pflegefamilie und damit des Pflegekindes beiträgt.

32

§ 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII knüpft ausdrücklich an die Unterhaltsverpflichtung der Pflegeperson an. Daher ist es naheliegend, dass bei der Entscheidung über die Kürzung des monatlichen Pauschbetrages zu berücksichtigen ist, ob die Großeltern aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage tatsächlich zum Unterhalt verpflichtet sind (VG Braunschweig, a.a.O., VG Schleswig, a.a.O., VG Arnsberg, a.a.O.). Eine auf die wirtschaftliche Lage der Großeltern beschränkte Prüfung unterhaltsrechtlicher Fragen stellt die Jugendämter auch nicht von übermäßige Schwierigkeiten bei der Anwendung der Vorschrift.

33

Nach § 1603 Abs. 1 BGB ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außer Stande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Großeltern gegen den Anspruch auf Enkelunterhalt den erhöhten Selbstbehalt anführen, der auch erwachsenen Kindern gegenüber ihren unterhaltsbedürftigen Eltern zugebilligt wird (Urteil vom 8. Juni 2005 - XII ZR 75/04 -, NJW 2006, 142 = FamRZ 2006, 26). Nach den unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Familiensenate des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 1. Juli 2005 (FamRZ 2005, 1362) beträgt dieser Selbstbehalt 1.400,00 Euro.

34

Die Klägerin verfügt nur über ein Nettoeinkommen aus ihrer Witwenrente von etwas mehr als 700,00 Euro, erreicht mit ihrem Einkommen also nur sehr wenig mehr als die Hälfte dieses Freibetrags. Es kann dahinstehen, ob alleine aufgrund dieser wirtschaftlichen Lage eine Kürzung des Erziehungsbeitrags bereits gänzlich ausgeschlossen ist oder dieser zumindest anteilig gekürzt werden könnte (für die Möglichkeit einer Kürzung des Erziehungsbeitrags um rund 10 % bei „armen“ Großeltern: VG Schleswig, a.a.O.). Jedenfalls aufgrund der oben geschilderten weiteren Lebensumstände der Klägerin scheidet eine Kürzung des Erziehungsbeitrages hier gänzlich aus.

35

Bei dieser Rechtslage kann dahinstehen, ob der Bescheid vom 11. Mai 2006 konkludent auch eine Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 4. Mai 2006 regelt und deshalb an § 45 SGB X zu messen ist.

36

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 154 Abs. 1, 167, 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO, 708 Nr. 11 ZPO.

37

Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung folgt aus den §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124 a Abs. 1 Satz 1 VwGO.