Sozialgericht Stade
Urt. v. 17.04.2019, Az.: S 15 KR 112/15
Durchführung der Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung nach Erreichen der Altersgrenze eines Schwerbehinderten
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 17.04.2019
- Aktenzeichen
- S 15 KR 112/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2019, 16577
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
- § 10 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, 2, 3, 4 SGB V
Tenor:
- 1.
Die Klage wird abgewiesen.
- 2.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Durchführung der Familienversicherung in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung über das 23. Lebensjahr hinaus. Die 1990 geborene Klägerin leidet als Zustand nach Frühgeburt an hochgradiger Seh- und Hörminderung. Sie ist vietnamesische Staatsangehörige und mit etwa 12 Jahren nach Deutschland gekommen. Im Jahr 2010 erreichte sie den Abschluss der 10. Klasse der Schule für Taubblinde. Ihr sind ein Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen G und Rf zuerkannt. Die Klägerin bezog im Jahr 2012 zeitweise Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Im Rahmen eines Antrages auf Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) holte der Beigeladene zu 1) eine Auskunft der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover zur Erwerbsfähigkeit der Klägerin ein. Dessen Sozialmedizinischer Dienst (SMD) kam im Gutachten vom 8. Oktober 2012 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin seit dem Eintritt in das erwerbsfähige Alter voll erwerbsgemindert sei. Daraufhin bewilligte der Beigeladene zu 1) der Klägerin Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII. Diese Leistungen werden bis zum heutigen Tage, nunmehr getragen durch die Beigeladene zu 2), erbracht. Ein im Jahr 2012 ebenfalls gestellter Antrag auf Erwerbsminderungsrente wurde mangels Erfüllung der Vorversicherungszeiten abgelehnt. Mit Bescheid vom 1. Oktober 2013 teilte die Beklagte der Klägerin das Ende der zuvor über ihre Mutter begründeten Familienversicherung mit Erreichen der Altersgrenze zum 26. September 2013 mit. Der Beigeladene zu 1) übernahm die Beiträge für die daraufhin eingerichtete eigenständige Krankenversicherung der Klägerin. Er forderte die Klägerin auf, bei der Beklagten unter Verweis auf die zeitlich nicht begrenzte Familienversicherung für Behinderte nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bzw. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) einen Antrag auf weitere Durchführung der Familienversicherung zu stellen. Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 24. März 2013 ab. Zur Begründung verwies die Beklagte auf die Bezugszeiten der Leistungen nach dem SGB II, die Erwerbsfähigkeit voraussetzten. Zudem stützte sie sich auf ein Attest der Hausärztin der Klägerin, die mit Datum vom 18. Februar 2014 bescheinigt hatte, dass die Klägerin trotz ihrer Seh- und Hörbehinderung Arbeiten von wirtschaftlichen Wert erbringen könne. Die von dem Beigeladenen zu 1) hierzu aufgeforderte Klägerin erhob Widerspruch mit Schreiben vom 8. April 2014. Sie verwies auf die Feststellungen der Rentenversicherung zur Erwerbsunfähigkeit. Der von dem Beigeladenen zu 1) über die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover erneut beauftragte SMD hielt im Gutachten vom 24. April 2014 an der Auffassung fest, dass die Klägerin voll erwerbsgemindert sei. Auf eine Befragung durch die Beklagte führte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit Datum vom 24. September 2014 aus, dass der Bericht der Hausärztin und das aktuelle Pflegegutachten auch unter Berücksichtigung der Behinderungen dafürsprächen, dass die Klägerin Leistungen von wirtschaftlichem Wert erbringen könne. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. April 2015 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück und verwies im Wesentlichen auf das Gutachten des MDK. Die Klägerin hat hiergegen Klage zu dem Sozialgericht Stade am 18. Mai 2015 erhoben. Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines neurologischpsychologischen Gutachtens von Dr. H. und eines sozialmedizinischen Gutachtens durch Dr. I ... Die Klägerin vertritt die Auffassung, die Familienversicherung sei über das 23. Lebensjahr hinaus durchzuführen. Sie sei aufgrund ihres Leistungsvermögens im Sinne von § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V wegen Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24. März 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. April 2015 zu verurteilen, die Familienversicherung über den 26. September 2013 hinaus fortzuführen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, ihre Bescheide seien nicht zu beanstanden. Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung von Gutachten der Neurologin und Psychologin Dr. H. und des Sozialmediziners Dr. I ... Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Durchführung der Familienversicherung nach Erreichen der Altersgrenze gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V. Nach dieser Vorschrift sind Kinder ohne Altersgrenze familienversichert, wenn sie als behinderte Menschen (§ 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)) außerstande sind, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem das Kind nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 3 SGB V versichert war. Die Familienversicherung in der sozialen Pflegeversicherung gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB XI ist weitgehend wortgleich formuliert. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zweifellos ist bei der Klägerin eine Behinderung im Sinne des SGB IX gegeben. Sie ist aber im Rechtssinne nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten. Dieser Rechtsbegriff bestimmt sich vorliegend nicht nach den Maßgaben für die Erwerbsminderung (1.), sondern nach dem zivilrechtlichen Unterhaltsrecht (2.). 1. Anders als von der Beklagten im Widerspruchsbescheid unter Anknüpfung an BSG, Urteil vom 14. August 1984, 10 RKg 6/83 und auch von dem Beigeladenen zu 1) vertreten, verbietet es sich, den Begriff des Außerstandeseins, sich selbst zu unterhalten, in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V auf die Frage zu verengen, ob die Klägerin erwerbsgemindert ist. Zwar wohnt dem Tatbestandsmerkmal zweifellos eine medizinisch zu beurteilende Komponente inne, da die Norm eine auf einer Behinderung beruhenden Einschränkung verlangt. Jedoch unterscheidet sich der Wortlaut von § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V seit jeher von der Fassung des die Erwerbsminderung regelnden § 43 SGB VI bzw. dessen Vorgängervorschriften und ist auch im Zuge von Änderungen des SGB VI (zB Ersetzung der Erwerbsunfähigkeit durch die Erwerbsminderung 2001) nicht angepasst worden. Zudem begründet diese Sichtweise die Gefahr widerstreitender Entscheidungen und eines Bruches mit den Wertungen von § 44a Abs. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und § 45 SGB XII. Nach § 44a Abs. 2 SGB II ist die gutachtliche Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers auch für die Leistungsträger nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch binden. § 45 SGB XII ordnet an, dass das im Wege des Ersuchens eingeholte Gutachten des Rentenversicherungsträgers für den Sozialhilfeträger bindend ist. Selbst wenn man trotz dieser Vorschriften - wie die Beklagte - die Auffassung vertritt, dass die genannten Normen keine Bindung der Krankenversicherungsträger an die Begutachtung durch den Rentenversicherungsträger zur Erwerbsfähigkeit begründen, so zeigt der Regelungszusammenhang von § 44a SGB II und § 45 SGB XII, dass der Gesetzgeber die Begutachtung der Erwerbsfähigkeit primär durch die Rentenversicherung durchführen lassen will. Dies würde unterlaufen, wenn im Rahmen der Familienversicherung dieselbe Prüfung der Erwerbsfähigkeit durchgeführt werden müsste. Auf die Feststellungen der Sachverständigen zu einer Erwerbsminderung der Klägerin kommt es demnach nicht entscheidend an. 2. Der Bezug von Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII wegen Erwerbsminderung versetzen die Klägerin in die Lage, sich im Sinne von § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V und von § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB XI selbst zu unterhalten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), Urteil vom 29. Januar 1980, 3 RK 101/78, juris, Rn. 16, zu § 205 Abs. 3 Satz 4 Reichsversicherungsordnung (RVO) knüpft der Begriff des Außerstandeseins zum Unterhalt an das zivilrechtliche Unterhaltsrecht an. Dies liege schon angesichts des Wortlauts der Vorschrift nahe, der den zivilrechtlichen Vorgaben weitgehend entspreche. Unterhaltsbedürftigkeit nach § 1602 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, bis zum heutigen Tage unveränderte Fassung) besteht, wenn eine Person außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Die Anknüpfung an die Unterhaltsbedürftigkeit bzw. -gewährung war über § 205 Abs. 3 Satz 4 RVO hinaus in allen Tatbeständen Familienkrankenhilfe in § 205 RVO zu beachten und für die Frage des Zuganges zur gesetzlichen Krankenversicherung als Familienangehöriger prägend. Zwar ist die Bindung an das Unterhaltsrecht mit der Einführung des SGB V durch das Gesundheitsreformgesetz zum 1. Januar 1988 dem Grunde nach abgeschafft worden, schon weil den Familienangehörigen eigene, vom Mitglied unabhängige Ansprüche auf Krankenversicherungsschutz eingeräumt werden sollten (vgl. BT-Drucks 11/2237 S. 161). Jedoch hat in Abweichung davon § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V den Wortlaut der Vorgängervorschrift § 205 Abs. 3 Satz 4 RVO unverändert übernommen. Auch unter dem SGB V geht die Kammer im Hinblick auf diese Kontinuität davon aus, dass sich die Frage, ob das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nach den zivilrechtlichen Maßgaben des Unterhaltsrechts bemisst. Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) folgt, dass in der vorliegenden Konstellation die seitens des jeweiligen Sozialhilfeträgers geleisteten Zahlungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII als unterhaltssichernd zu bewerten sind und die Klägerin damit in die Lage versetzen, sich im Sinne von § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V bzw. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB XI selbst zu unterhalten. In Entscheidungen zum BSHG (insbesondere BGH, Urteil vom 17. März 1999, XII ZR 139/97, NJW 1999, 2365 ff) hatte der BGH die Leistungen der Sozialhilfe als subsidiär und damit nicht den unterhaltsrechtlichen Bedarf deckend angesehen. In Abweichung davon hat der BGH in der Entscheidung vom 20. Dezember 2006, XII ZR 84/04, juris, Rn. 14 für Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII festgehalten, dass sie als den unterhaltsrechtlichen Bedarf reduzierend zu berücksichtigen seien, sofern die Angehörigen ein geringeres Einkommen als die in § 43 Abs. 2 Satz 1 (heute: Abs. 5 Satz 1) SGB XII genannten 100.000 EUR erzielen, ohne Rücksicht darauf, ob dem Empfänger die Leistungen zu Recht oder zu Unrecht bewilligt worden seien. In Höhe der durch den Sozialhilfeträger gewährten Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII sei bei Erfüllung der Vorgaben von § 43 SGB XII der Unterhaltsbedarf demnach gedeckt und der Versicherte nicht im Sinne von § 1602 BGB außerstande sich selbst zu unterhalten. In der Konsequenz dieser Rechtsprechung hat der BGH später auch eine von den Instanzgerichten entwickelte Obliegenheit des Unterhaltsberechtigten zur Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen bestätigt, deren Verletzung in eine Anrechnung fiktiver Einkünfte in Höhe der entgangenen Grundsicherungsleistungen resultieren kann (Urteil vom 8. Juli 2015, XII ZB 56/14, juris, Rn. 11). Nach diesen Maßgaben wird der unterhaltsrechtliche Bedarf der Klägerin durch die Grundsicherungsleistungen vollständig gedeckt. Die Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII sind im Sinne von § 1602 BGB dem Grunde nach berücksichtigungsfähig, da die Eltern der Klägerin - dies wird von keinem Beteiligten in Frage gestellt - nur über Einkommen unterhalb des Grenzbetrages des § 43 Abs. 5 Satz 1 SGB XII verfügen. Der zivilrechtliche Unterhaltsbedarf der Klägerin geht nicht über das Maß hinaus, das durch die Leistungen nach dem SGB XII abgedeckt wird, weil die Klägerin mit nur kurzen Unterbrechungen seit 2012 Grundsicherungsleistungen bezieht. Ein höherer Lebensstandard, der in einen höheren zivilrechtlichen Unterhaltsbedarf resultieren könnte, ist nicht ersichtlich. Auch sind besondere Bedarfe der Klägerin - etwa resultierend aus ihren Behinderungen -, die einen zivilrechtlich einen höheren Unterhaltsbedarf begründen könnten als sozialhilferechtlich abgedeckt wird, nicht ersichtlich. Die Seh- und die Hörbehinderung werden jeweils durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung kompensiert. Die Klägerin hat 2018 eine neue Versorgung mit Hörgeräten erhalten und ist mit Sehhilfen versorgt. Es liegt daher keine teilweise Unterhaltsbedürftigkeit im zivilrechtlichen Sinne vor, so dass nicht entschieden werden muss, ob auch dies ausreichend sein kann, die Klägerin als im Sinne von § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V bzw. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB XI außerstande anzusehen, sich selbst zu unterhalten. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.