Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 23.06.2005, Az.: 3 A 183/03

Entstehung; Gebührenmaßstab; Kanalbenutzungsgbührenschuld; Kanalbenutzungsgebühr; konkrete Maßstabsregelung; Maßstabsregelung; Neuanschluss; Vollständigkeit; Vorhersehbarkeit

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
23.06.2005
Aktenzeichen
3 A 183/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50732
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Entsteht die Kanalbenutzungsgebührenschuld (Schmutzwasser) zu Beginn des Erhebungszeitraums, reicht es nicht aus, bei erstmaligem Bezug (Neuanschluss) ohne feststellbaren Vorvorjahresverbrauch in der Gebührensatzung auf eine von Verwaltungsseite vorzunehmende Schätzung des Wasserverbrauchs zu verweisen (Verstoß gegen § 2 Abs. 1 Nds. Kommunalabgabengesetz).

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 9. August 2002 in Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 5. Juni 2003 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des gegen sie festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

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Der Kläger wendet sich gegen die Festsetzung der Abwassergebühren für 2002.

2

Der Kläger bewohnt mit seiner Ehefrau und seinem Sohn seit Frühjahr 2002 ein erstmals bezogenes Einfamilienhaus, in dem am 21. März 2002 ein Wasserzähler gesetzt wurde. Mit Bescheid vom 09. August 2002 setzte die Beklagte gegenüber dem Kläger für den Zeitraum von April bis Dezember 2002 unter Zugrundelegung eines Jahresverbrauchs von 120 Kubikmetern bei einem Gebührensatz von 1,70 Euro je Kubikmeter die Kanalbenutzungsgebühr für die Schmutzwasserentwässerung gegenüber dem Kläger für den Abrechnungszeitraum von 9 Monaten unter Zugrundelegung von 90 Kubikmetern auf 153,00 Euro fest.

3

Dagegen erhob der Kläger am 14. August 2002 Widerspruch und führte zur Begründung aus, der Jahresverbrauch sei zu hoch angesetzt worden. In seiner bisherigen Mietwohnung habe der Wasserverbrauch in dem 3-köpfigen Haushalt minimal bei 78 und maximal 98 Kubikmetern pro Jahr gelegen. Der für das Jahr 2002 maßgebliche Verbrauchswert des Jahres 2000 habe 90,7 Kubikmeter betragen. Gerundet ergäben sich also 68 Kubikmeter für 9 Monate. Es gehe aus der Satzung nicht hervor, nach welchen Richtwerten zu schätzen sei. Anstatt der von der Beklagten berücksichtigten 40 Kubikmeter je Person, wären ebenso 20 bzw. 100 Kubikmeter je Person möglich. Satzungskonform könne man aber auch auf Basis eines Vorverbrauchswertes des dort gebildeten Haushalts schätzen, sofern dieser nachweislich bereits vorher unverändert bestanden habe und für ihn der Wasserverbrauch ermittelt worden sei. Ebenfalls satzungskonform könne dann gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 KGS analog zu diesem anzusetzenden Verbrauch eine Schätzung erfolgen. Aus der Anordnung von 1996 gehe hervor, dass nur „grundsätzlich“ der pauschale Personenverbrauchswert von 40 Kubikmetern zugrunde zu legen sei. Juristisch gesehen bedeute dies eben gerade nicht „ausnahmslos“, sondern lasse in begründeten Einzelfällen eine abweichende Festsetzung zu. Mithin dürfe von dem grundsätzlich anzusetzenden pauschalen Personenverbrauchswert von 40 Kubikmetern abgewichen werden. Er wolle nicht einen nachträglichen Erlassantrag für eine nicht verbrauchte Wassermenge stellen, sondern es gehe ihm darum, die Wasserverbrauchsmenge im Rahmen der Schätzung von vornherein in Höhe des belegbaren bisherigen Verbrauchs festsetzen zu lassen. Er empfinde den Ansatz von 40 Kubikmetern pro Person in einem mit Wasser sparsam wirtschaftenden Haushalt, der aber mehr als 66,7 Prozent dieser Menge pro Person verbrauche, als ungerecht.

4

Bereits mit Jahresverbrauchsabrechnung 2002 vom 28. Januar 2003 hatten die Stadtwerke dem Haushalt des Klägers einen Wasserverbrauch vom 21. März 2002 bis zum Jahresende in Höhe von 66 Kubikmetern bescheinigt.

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Mit Schreiben vom 11. März 2003 übersandte die Beklagte dem Kläger ihre Richtlinien zur ständigen Praxis bei Anträgen auf Erlass bzw. Teilerlass von Kanalbenutzungsgebühren zur Vermeidung willkürlicher Entscheidungen bei sachlich gleichgelagerten Fällen vom 02. Januar 2002 und die Anordnung zur Festsetzung der halben Kanalbenutzungsgebühr insbesondere über die Schätzung von Wasserverbräuchen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 ihrer Kanalbenutzungsgebührensatzung (01.06.1986, zuletzt geändert durch Satzung vom 07.12.2001 - KGS -) in Form eines Aktenvermerks vom 08. Juli 1996. Daraus gehe hervor, dass bei Neuanschlüssen ein pauschaler Personenverbrauchsbedarf von 40 Kubikmetern je Person und Jahr zugrunde zulegen sei. Die Vielzahl gleichgelagerter Fälle erfordere bei der Festsetzung von Abgaben eine einheitliche und abgestimmte Vorgehensweise. Deshalb fänden neben den eigentlichen Bestimmungen der Satzungen auch die Regelungen der Richtlinien und der speziellen Anordnung vom 08. Juli 1996 ausnahmslos Anwendung. Für das Jahr 2002 stehe dem Kläger ein Anspruch auf Teilerlass offensichtlich nicht zu. Zwar unterschreite der Verbrauchswert den in Ansatz gebrachten Schätzwert von 90 Kubikmetern erheblich, der für einen Teilerlass erforderliche Umfang (mehr als 1/3) sei aber nicht erreicht worden.

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Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juni 2003 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, die Gebührenpflicht für den Kläger sei aufgrund der Zählersetzung am 21. März 2002 am 1. April des selben Jahres entstanden. Die Festsetzung sei gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 KGS durch Schätzung erfolgt. Je Person seien 40 Kubikmeter als Bemessungsgrundlage in Ansatz gebracht worden. Die Vielzahl gleichgelagerter Fälle bei der Festsetzung von Abgaben erfordere eine einheitliche und abgestimmte Vorgehensweise und deshalb finde in ihrem Gebiet neben den eigentlichen Bestimmungen der KGS auch insbesondere eine spezielle interne Anordnung vom 8. Juli 1996 seither ausnahmslos Anwendung. Diese Anordnung sehe u.a. bei erstmaliger Veranlagung im Jahr des Einzugs den Ansatz eines Verbrauchswertes von 40 Kubikmetern je Person und Jahr vor und sei damit durch ältere und ihres Wissens aktuelle Rechtsprechung gedeckt. Die Formulierung „grundsätzlich“ in der internen Anweisung habe ihre Berechtigung und solle die Möglichkeit offen halten, im Gegensatz zu gleichgelagerten Fällen auch außergewöhnliche Tatbestände zu regeln. Das sei in seinem Fall mit dem Neubezug eines Hauses durch eine Familie jedoch nicht der Fall, so dass eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung aller Gebührenpflichtigen nicht erforderlich oder zulässig sei. Der Widerspruchsbescheid wurde dem Kläger am 11. Juni 2003 zugestellt.

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Am 11. Juli 2003 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung bezieht er sich auf sein bisheriges Vorbringen und führt ergänzend aus, nach der Definition von Gebühren als Entgelte für eine bestimmte Gegenleistung wäre es erforderlich, dass neben der Pauschalierung auch ein anderer, den tatsächlichen Umständen annähernder Schätzwert jedenfalls im Widerspruchsverfahren nach § 6 Abs. 2 Satz 2 KGS Anwendung finden müsse, soweit ein abweichender Verbrauchswert belegt oder bewiesen sei. Das sei bei ihm der Fall. Auf den Erlassanspruch könne er nicht verwiesen werden, denn für ihn, wie für andere Haushalte mit einem Minderverbrauch zwischen 0,1% und 33,2%, bestehe kein solcher Anspruch. Der Minderverbrauchswert von 1/3 sei wesentlich zu hoch bemessen, um willkürliche Entscheidungen tatsächlich vermeiden zu können. Allenfalls ein Wert unter 10% sei gerechtfertigt. Es sei der Beklagten durchaus zuzumuten, die Gebühren nach Ablauf Erhebungszeitraums nach dem tatsächlichen Verbrauch abzurechnen. Strom- und Fernwärmelieferer könnten dies ohne großen Aufwand bewältigen. Die satzungsgegebene ausschließliche Schätzungspraxis nach Wahrscheinlichkeitsmaßstäben ohne Abrechnung des tatsächlichen Verbrauchs gehe ungerechtfertigt zu seinen Lasten als Verbraucher.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid der Beklagten vom 9. August 2002 der Beklagten in Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 5. Juni 2003 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtenen Bescheide. Im Übrigen sei der Kläger nicht unbillig hart getroffen worden, denn die Voraussetzungen für einen Erlassanspruch lägen bei ihm nicht vor.

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Das Gericht hat den Rechtsstreit Anhörung der Beteiligten durch Beschluss dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

14

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Gerichtsakte im Übrigen sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet.

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Der Kläger hat einen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 9. August 2002 in Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 5. Juni 2003, soweit die Festsetzung von Kanalbenutzungsgebühren in Höhe von 153,00 Euro betroffen ist. Der angefochtene Bescheid ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

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Die vorliegend maßgebliche Kanalbenutzungsgebührensatzung der Beklagten in der Fassung vom 7. Dezember 2001 - KGS - enthält keine gültige Regelung der Entstehung der Gebührenschuld im Fall des Klägers. Die Regelung über die Entstehung einer Abgabenschuld gehört jedoch gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 Nds. Kommunalabgabengesetz (NKAG) zum unverzichtbaren Mindestinhalt einer Satzung, soweit sich diese Entstehung nicht schon unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Mit dem Entstehen der Abgabenpflicht kann die Abgabenforderung beim Abgabenpflichtigen geltend gemacht werden, weil frühester Zeitpunkt für die Fälligkeit einer Abgabe der Entstehungszeitpunkt ist (§ 220 Abs. 2 Abgabenordnung - AO -). Mit der Entstehung der Abgabenpflicht beginnt außerdem die Festsetzungsverjährung zu laufen (§ 170 AO). Nach der Kanalbenutzungsgebührensatzung der Beklagten entsteht die Gebührenschuld bereits mit dem Beginn des Erhebungszeitraums in voller Höhe (§ 7 Abs. 1 Satz 1 KGS). Gemäß § 6 Abs. 1 KGS ist Erhebungszeitraum das Kalenderjahr und bei der Entstehung der Gebührenpflicht während des Kalenderjahres der Restteil des Jahres. Damit nicht zu vereinbaren ist jedoch die Bestimmung in § 6 Abs. 2 Satz 2 KGS, wonach bei Neuanschlüssen für den Fall, dass ein Wasserverbrauch durch Wassermesser nicht ermittelt worden ist, der für die Gebührenberechnung zugrunde zu legende Wasserverbrauch zu schätzen ist. Soll die Gebührenschuld schon zu Beginn des Erhebungszeitraums entstehen, kommt als Bemessungsgrundlage jedenfalls nicht diese pauschale Bestimmung in § 6 Abs. 2 KGS in Betracht. Erforderlich ist nämlich, dass die Gebührenschuld zum Entstehungszeitpunkt ermittelbar ist (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 30.11.2000 - 2 S 2061/98 -, S. 15 des Abdrucks). Wenn die für den Erhebungszeitraum geltenden Maßstabseinheiten - wie hier bei der verbrauchsabhängigen Schmutzwassergebühr - nicht konkret feststehen, müssen sie zumindest satzungsrechtlich (sachgerecht) fingiert werden (vgl. Lichtenfeld in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand: Januar 2005, § 6 Rn. 721 b). Anders wäre es, wenn die Satzung vorsähe, dass die Gebührenschuld erst am Ende des Erhebungszeitraums entstünde und zuvor lediglich Vorausleistungen vom Gebührenschuldner erhoben würden, denn in diesem Fall könnte der tatsächliche Verbrauch ermittelt und - vom Gebührenschuldner jederzeit vorhersehbar - berücksichtigt werden.

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Vorliegend reicht der bloße Verweis in der Kanalbenutzungsgebührensatzung der Beklagten auf die (von der Verwaltung vorzunehmende) Schätzung nicht aus. Vielmehr muss sich der Abgabenmaßstab, in diesem Fall der Gebührenmaßstab, bereits unmittelbar aus der Satzung ergeben. Soweit sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf ihre langjährige Praxis beruft, wonach sie in der Vergangenheit nach dem von ihr als „Richtlinie“ angesehenen Aktenvermerk vom 8. Juli 1996 vorgeht, der bei Neuanschlüssen im Jahr die Zugrundelegung von 40 m³ je gemeldeter Person verlangt, reicht diese allenfalls verwaltungsinterne Bindung nicht aus, denn - wie dargelegt - muss sich bereits aus der Satzung unmittelbar der insofern anzuwendende Gebührenmaßstab ergeben. Diesen Anforderungen genügt die - möglicherweise von der Beklagten sogar konsequent durchgehaltene - Festlegung auf Verwaltungsebene nicht. Denn der Gebührenpflichtige muss dem Wortlaut der Satzung zweifelsfrei entnehmen können, auf welche Weise die Gebühr berechnet wird und wie hoch die auf ihn entfallende Gebühr sein wird. Dies gilt nach dem sog. Grundsatz der konkreten Vollständigkeit für die gesamte Maßstabsregelung, weil das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot verlangt, dass der Verteilungsmaßstab für alle im Geltungsbereich der Gebührensatzung konkret zu erwartenden Anwendungsfälle hinreichend klar und berechenbar geregelt ist und nicht eine wesentliche Maßstabsbestimmung der Entscheidung im Einzelfall überlassen bleibt (vgl. Lichtenfeld, aaO., Rn. 720).

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In diesem Zusammenhang weist der Kläger zu Recht darauf hin, dass die Erlassregelung der Beklagten angesichts der dafür erforderlichen Abweichung von einem Drittel vom pauschal festgesetzten Verbrauch hier unerheblich ist, zumal - wie dargelegt - die vorgreifliche Satzungsregelung zur Bestimmung des Gebührenmaßstabes bei Neuanschlüssen unwirksam ist.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.