Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 08.08.2011, Az.: 2 Ws 191/11; 2 Ws 192/11
Vertrauenstatbestand für den Verurteilten bei Kenntnis des Richters von einem erneuten Straffälligwerden des Angeklagten zum Zeitpunkt der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 08.08.2011
- Aktenzeichen
- 2 Ws 191/11; 2 Ws 192/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 24816
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2011:0808.2WS191.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 166 BRs 20/11 (166 StVK 76/11)
- LG Lüneburg - 166 BRs 21/11 (166 StVK 77/11)
Rechtsgrundlage
- § 460 StPO
Fundstellen
- StRR 2011, 407
- StV 2012, 549
- StraFo 2011, 416-417
- ZAP EN-Nr. 810/2011
- ZAP 2011, 1239
Amtlicher Leitsatz
1. War dem Tatrichter zum Zeitpunkt der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe nach § 460 StPO bereits bekannt, dass der Verurteilte zeitlich nach der Verhängung der zusammenzuführenden Strafen erneut straffällig geworden und deswegen bereits rechtskräftig verurteilt worden ist, und setzt er die Vollstreckung der neu gebildete Gesamtfreiheitsstrafe gleichwohl zur Bewährung aus, so wird damit für den Verurteilten ein Vertrauenstatbestand geschaffen. Dieser verbietet einen anschließenden Widerruf dieser Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 StGB jedenfalls aus denjenigen Gründen, die dem gesamtstrafenbildenden Gericht bei seiner Strafaussetzungsentscheidung bereits bekannt waren.
2. Ist in eine nach § 460 StPO gebildete Gesamtfreiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, eine Geldstrafe eingeflossen, die zum Zeitpunkt einer Nachtat im Sinne des § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB noch isoliert bestanden hat, so ist aus Sicht des Verurteilten auch hierdurch ein Vertrauenstatbestand dahingehend entstanden, diese Geldstrafe nicht infolge eines Widerrufs der Aussetzung der Vollstreckung der nachträglichen Gesamtstrafe als - nun - freiheitsentziehende Sanktion aufgrund dieser Nachtat verbüßen zu müssen.
Tenor:
1. Der Beschluss des Landgerichts Lüneburg vom 16.06.2011 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 29.06.2011 wird aufgehoben, soweit eine Aussetzung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Beschluss des Amtsgerichts Dannenberg vom 01.02.2011 (11 Ds 5201 Js 13916/08) widerrufen wurde.
Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde verworfen.
2. Der Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft vom 28.02.2011 in der Sache 5201 Js 13916/08 StA Lüneburg wird zurückgewiesen.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Verurteilte, jedoch wird die Beschwerdegebühr um die Hälfte ermäßigt. In diesem Umfang fallen auch die notwendigen Auslagen des Verurteilten im Beschwerdeverfahren der Staatskasse zur Last.
4. Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
Gründe
I. Der Beschwerdeführer wurde wie folgt verurteilt.
1. Am 12.03.2008 belegte ihn das Amtsgericht Lüneburg wegen Diebstahls mit einer Freiheitsstrafe von 2 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die zunächst auf 2 Jahre festgesetzte Bewährungszeit begann am 12.03.2008. Sie wurde - aufgrund der nachstehend unter Ziff. 2.a) dargestellten Verurteilung vom 13.11.2008 - am 09.02.2009 um 1 Jahr auf insgesamt 3 Jahre verlängert.
2. a) Am 13.11.2008 verhängte das Amtsgericht Dannenberg gegen den Verurteilten wegen Diebstahls eine Freiheitsstrafe von 3 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die auf 3 Jahre festgesetzte Bewährungszeit begann am 21.11.2008.
b) Am 23.03.2009 verurteilte ihn das Amtsgericht Dannenberg wegen unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10,- EUR. Die Entscheidung ist rechtskräftig seit dem 22.07.2009.
c) Mit Beschluss vom 01.02.2011 bildete das Amtsgericht aus beiden Strafen eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren dem Tatrichter die nachstehend dargestellten Nachverurteilungen sowie deren Rechtskraft bereits bekannt, ebenso der darauf gestützte erste Antrag der Staatsanwaltschaft vom 19.07.2010 auf Widerruf der Strafaussetzung aus der vorstehend unter Ziff. a) genannten Entscheidung. Gleichwohl setzte er die Vollstreckung der nachträglich gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe erneut zur Bewährung aus. Die Entscheidung ist am 09.02.2011 in Rechtskraft erwachsen. An diesem Tag begann die auf 3 Jahre festgesetzte Bewährungszeit, die nunmehr bis zum 08.02.2014 dauert.
Mit Beschluss vom 16.06.2011 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 29.06.2011 widerrief die 6. kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg die Strafaussetzungen aus dem Urteil zu Ziff. 1. sowie dem Gesamtstrafenbeschluss zu Ziff. 2.c), weil der Verurteilte - der sich zu dieser Zeit in Strafhaft befand - erneut straffällig geworden war, und zwar wie folgt:
- Am 07.12.2009 verurteilte ihn das Amtsgericht Dannenberg wegen vorsätzlicher Körperverletzung und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten. Tatzeit war der 01.07.2009. Die Entscheidung ist rechtskräftig seit dem 27.05.2010.
- Am 29.07.2010 wurde der Verurteilte vom Amtsgericht Dannenberg mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten belegt, und zwar wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung in vier Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, sowie wegen Erschleichens von Leistungen in 5 Fällen. Die Tatzeit lag zwischen Juli 2009 und Januar 2010. Diese Entscheidung ist am 06.08.2010 in Rechtskraft erwachsen.
- Hieraus bildete das Amtsgericht mit Beschluss vom 25.11.2010 eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr, die der Verurteilte bis zum 17.07.2011 vollständig verbüßte.
Gegen die Widerrufsentscheidung wendet er sich mit seiner sofortigen Beschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.
II. Die sofortige Beschwerde ist zulässig und führt in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zum Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Soweit sich das Rechtsmittel gegen den Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung der zweimonatigen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Lüneburg vom 12.03.2008 richtet, muss ihm der Erfolg versagt bleiben. Insoweit treffen die Gründe der angefochtenen Entscheidung zu. Das Beschwerdevorbringen greift ihnen gegenüber nicht durch. Ergänzend ist lediglich Folgendes auszuführen:
Aufgrund der Vielzahl von Nachtaten sowie angesichts der hohen Rückfallgeschwindigkeit von 5 Monaten bezogen auf die in dieser Sache bereits einmal erfolgte Verlängerung der Bewährungszeit vom 09.02.2009 reichen mildere Maßnahmen nach § 56f Abs. 2 StGB nicht aus, um die widerlegte Aussetzungsprognose wiederherzustellen. Dem steht auch nicht entgegen, dass gegen den Verurteilten aufgrund der Nachtaten mittlerweile Strafhaft vollstreckt wurde, zumal er sich dort auch nicht beanstandungsfrei geführt hat. Am 23.10.2010 war er aus der Vollzugsanstalt entwichen, wobei er zunächst über eine Mauer und anschließend über einen Zaun geklettert war.
2. Soweit sich die sofortige Beschwerde indes gegen den Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung der fünfmonatigen Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Beschluss des Amtsgerichts Dannenberg vom 01.02.2011 richtet, führt sie zum Erfolg.
Die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe lässt das ursprüngliche Erkenntnis entfallen, nur das neue Erkenntnis bildet die Grundlage der Vollstreckung (KG Berlin NJW 2003, 2468 [KG Berlin 13.03.2003 - 5 Ws 90/03]; OLG Düsseldorf NStZ 1999, 533 [OLG Düsseldorf 18.03.1999 - 1 Ws 172/99]). Wird die Vollstreckung der mit einem Gesamtstrafenbeschluss gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt, handelt es sich hierbei um eine Entscheidung, die aufgrund neuer Prüfung der Aussetzungsfrage zu treffen war (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., 2011, § 460 Rdnr. 17 m.w.N.). Es handelt sich hierbei um eine neue, nach der Sachlage zur Zeit der Beschlussfassung (vgl. BayObLG NStZ-RR 2002, 297 [BayObLG 28.02.2002 - 4 St RR 17/02]) zu treffende Prognoseentscheidung, so dass auch die Bewährungszeit nach § 56 a StGB - unter Beachtung des § 58 Abs. 2 StGB - neu festzusetzen ist (Meyer-Goßner, aaO.).
Die erneuten Straftaten hat der Verurteilte in der Zeit von Juli 2009 und Januar 2010 begangen und mithin - weit - vor dem Erlass des nachträglichen Gesamtstrafenbeschlusses vom 01.02.2011 bzw. vor dem Beginn der daraus resultierenden Bewährungszeit am 09.02.2011. Deshalb kommt ein Widerruf der Strafaussetzung weder nach § 56f Abs. 1 Satz 1 StGB ("in der Bewährungszeit") noch nach Satz 2 1. Alt. dieser Vorschrift ("in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft") in Betracht.
Aber auch die formellen Voraussetzungen der 2. Alt. des Satzes 2 dieser Norm sind nicht erfüllt. Danach gilt § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB zwar entsprechend, wenn die Tat bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Entscheidung über die Gesamtstrafe begangen worden ist. Damit sollen jedoch nur diejenigen Fälle erfasst werden, in denen dem Gericht bei der Entscheidung über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung die innerhalb der Bewährungszeit in der einbezogenen Sache begangene Straftat entweder überhaupt nicht bekannt war oder gegen die verurteilte Person zwar ein Tatverdacht bestand, sich das Gericht aber z.B. mangels Geständnisses oder anderer sicherer Beweismittel noch kein zuverlässiges Urteil über ihre Täterschaft bilden konnte (vgl. BT-Drucksache 16/3038 S. 58; Fischer, StGB, 58. Aufl., 2011, § 56f Rdnr. 3c; Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., 2010, § 56f Rdnr. 3; Hubrach in LK-StGB, 12. Aufl., 2008, § 56f Rdnr. 4b).
So liegt der Fall hier nicht. Dem Tatrichter waren die Verurteilungen vom 07.12.2009 und vom 29.07.2010 sowie deren Rechtskraftdaten zum Zeitpunkt seiner nachträglichen Gesamtstrafenbildung vom 01.02.2011 bereits bekannt. Mit dem Eintritt der Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung und der dortigen Strafaussetzung zur Bewährung am 09.02.2011 ist damit für den Verurteilten ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden, der einen Widerruf mit den Gründen verbietet, die bereits bei der mit dem Gesamtstrafenbeschluss verbundenen Aussetzungsentscheidung bekannt waren.
Hinzu kommt Folgendes:
In die nachträglich gebildete Gesamtfreiheitsstrafe ist die am 23.03.2009 verhängte Geldstrafe eingeflossen (vgl. vorstehend I. 2. b)). Sie hat zum Zeitpunkt der Nachtaten noch isoliert bestanden, sodass der Verurteilte zu diesem Zeitpunkt nicht damit rechnen musste, sie als Freiheitsstrafe verbüßen zu müssen. Auch dadurch ist aus Sicht des Verurteilten ein Vertrauenstatbestand entstanden, der es verbietet, die erst nach den Anlasstaten in eine Gesamtfreiheitsstrafe einbezogene Geldstrafe als - nun - freiheitsentziehende Sanktion verbüßen zu müssen (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation bereits den Senatsbeschluss vom 24.08.2010 - 2 Ws 285/10 -).
Nach alledem war der angefochtene Widerruf der Strafaussetzung aus dem Beschluss des Amtsgerichts Dannenberg vom 01.02.2011 aufzuheben und der entsprechende Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft zurückzuweisen.
III. Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 und Abs. 4 StPO. Das Maß des Teilerfolgs des Rechtsmittels hat der Senat mit der Hälfte bemessen. In diesem Umfang erschien es unbillig, den Verurteilten mit der Beschwerdegebühr und den ihm im Beschwerderechtszug entstandenen notwendigen Auslagen zu belasten.