Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 23.08.2011, Az.: 1 Ws 325/11
Begriff der „Dringlichkeit“ i.S. von § 29 Abs. 1 S. 2 NJVollzG
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 23.08.2011
- Aktenzeichen
- 1 Ws 325/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 23703
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2011:0823.1WS325.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 17.06.2011 - AZ: 17a StVK 259/11
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs. 1 S. 2 NJVollzG
- § 112 Abs. 2 StVollzG
Fundstellen
- StRR 2011, 366
- StraFo 2011, 417-418
- ZAP 2011, 1085
- ZAP EN-Nr. 699/2011
- ZfStrVo 2012, 120
Amtlicher Leitsatz
1. Zum Anspruch eines Strafgefangenen auf Zugang zum anstaltseigenen Faxgerät am Tag des Fristablaufs für die Einlegung eines Rechtsbehelfs.
2. Die Dringlichkeit eines Falls im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 2 NJVollzG ist nach objektiven Kriterien und unabhängig davon zu beurteilen, ob der Strafgefangene den Eilbedarf in vorwerfbarer Weise herbeigeführt hat.
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers wird der Beschluss der 2. kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle vom 17. Juni 2011 aufgehoben.
Dem Antragsteller wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Frist zur Einreichung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung gegen den Vollzugsplan vom 23. März 2011 gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
Gründe
I. Der Antragsteller wendet sich mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen den Vollzugsplan vom 23. März 2011, der ihm am 18. April 2011 bekannt gegeben wurde.
Am Montag, 2. Mai 2011, dem Tag des Fristablaufs, beantragte der Antragsteller mit dem Zusatz "Eilt Terminsache!", das Faxgerät der Antragsgegnerin für die Übersendung des auf den 1. Mai 2011 datierten Antrags auf gerichtliche Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer nutzen zu dürfen. Auf Nachfrage der Antragsgegnerin, was ihn innerhalb der 14tägigen Rechtsmittelfrist von der Übersendung abgehalten habe, erwiderte der Antragsgegner, er habe das erst ein paar Tage "sacken" lassen müssen. Er habe den Antrag am Freitag fertig gehabt, wollte ihn Montag morgen abgeben und habe dann erfahren, dass der Antrag am Montag wahrscheinlich nicht mehr den Empfänger erreiche. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag auf Gewährung des anstaltseigenen Faxgeräts mit folgender Begründung ab:
"Sie hatten 14 Tage Zeit, was Sie von vornherein wussten. Wenn Sie den Vollzugsplan haben "sacken lassen" müssen, so ist festzustellen, dass in Bezug auf den vorherigen Vollzugsplan nicht allzu viel Neues niedergeschrieben wurde und dies als Argument ungeeignet ist. Als Realschüler ist Ihnen das Erfassen des "Ausmaßes" Ihres Vollzugsplans zuzutrauen, zumal Sie über Ostern vom 21.04. bis 26.04.11 auch genügend Zeit ohne Schulstress für die Bearbeitung hatte. Wenn Sie - wie Sie darlegen - Freitag (29.04.) den Vorgang fertig hatten, so hätten Sie diesen auch zur Post geben können. Ihre Argumente dringen nicht durch, weswegen eine Weitergabe per Fax am 02.05.11 nicht dringend angezeigt war."
Den unmittelbar darauf gestellten Antrag des Antragstellers, ihn zum Gericht auszuführen, um einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung zur Niederschrift des Protokollbeamten einlegen zu können, wies die Antragsgegnerin unter Hinweis auf die ausreichende 14tägige Rechtsmittelfrist ebenfalls zurück.
Der schriftliche Antrag auf gerichtliche Entscheidung ging - verbunden mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - am 9. Mai 2011 bei der Strafvollstreckungskammer ein.
Durch Beschluss vom 17. Juni 2011 hat die Strafvollstreckungskammer den Antrag auf gerichtliche Entscheidung wegen Versäumung der Antragsfrist als unzulässig verworfen.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde.
II. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat in der Sache - vorläufig - Erfolg.
Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht - konkludent - zurückgewiesen und hätte den Antrag auf gerichtliche Entscheidung deswegen nicht als verfristet verwerfen dürfen.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 102 NJVollzG i. V. m. § 116 Abs. 1 StrVollzG zulässig, denn es ist geboten, die Nachprüfung der Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Die Frage des Anspruchs eines Strafgefangenen auf Nutzung des Faxgeräts der Justizvollzugsanstalt zur Einlegung eines Rechtsbehelfs am Tage des Fristablaufs ist seit Geltung des § 29 Abs. 1 Satz 2 NJVollzG - in Kraft seit dem 1. Januar 2008 - obergerichtlich nicht geklärt.
2. Dem Antragsteller war gem. § 102 NJVollzG i. V. m. § 112 Abs. 2 StrVollzG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der zweiwöchigen Frist zur Einlegung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 109 Abs.1 Satz 1, 112 Abs. 1 StrVollzG zu gewähren. Er war ohne Verschulden gehindert, die Frist einzuhalten.
a. Grundsätzlich ist ein Beschwerdeführer berechtigt, die ihm zur Einlegung eines Rechtsbehelfs zur Verfügung stehende Frist voll auszuschöpfen (BVerfGE 41, 323 [BVerfG 11.02.1976 - 2 BvR 652/75]. BVerfGE 69, 381 [BVerfG 14.05.1985 - 1 BvR 370/84]. BGH, Beschl. vom 26. April 2006, 1 StR 154/06, juris. MeyerGoßner, StPO, 54. Aufl., § 44 Rn. 12a m.w.N.). Allerdings schließt das Ausschöpfen der Frist den Zeitraum mit ein, der erforderlich ist, um den Rechtsbehelf in der gesetzlich vorgeschriebenen Form bei Gericht anzubringen (vgl. BGH, aaO.). Entscheidet sich ein Beschwerdeführer, die Rechtsmittelfrist als Abwägungsfrist bis zum Ende auszuschöpfen, trifft ihn deshalb eine besondere Sorgfaltspflicht, alles Erforderliche zu tun, um die Einhaltung der Frist durch Eingang des Rechtsbehelfs bei Gericht sicherzustellen (z.B. BGH, Beschl. v. 23. April 1998, I ZB 2/98, NJW 1998, 2677 [BGH 23.04.1998 - I ZB 2/98]. Beschl. v. 23.6.2004 - IV ZB 9/04, NJWRR 2004, 1502).
b. Gemessen an diesem Maßstab waren die Bemühungen des Antragstellers, für einen rechtzeitigen Eingang des Antrags auf gerichtliche Entscheidung bei der Strafvollstreckungskammer Sorge zu tragen, ausreichend. Denn es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass dem Antragsteller zuvor bewusst sein musste, dass ihm das anstaltseigene Faxgerät allein mit der Begründung, er habe ausreichend Zeit zur Einlegung des Rechtsbehelfs gehabt, nicht zur Verfügung gestellt würde.
Gem. § 29 Abs.1 Satz 2 NJVollzG kann Gefangenen in dringenden Fällen gestattet werden, Schreiben als Telefaxe aufzugeben. Strafgefangene haben danach zwar keinen uneingeschränkten Anspruch auf Nutzung des anstaltseigenen Faxgeräts. sie haben jedoch einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Zugang hierzu (in diesem Sinne bereits OLG Dresden, NStZ 1994, S. 208 [OLG Dresden 16.12.1993 - 2 Ws 416/93], [OLG Dresden 16.12.1993 - 2 Ws 416/93] in analoger Anwendung von § 32 StVollzG). Ob ein dringender Fall - als Eingangsvoraussetzung für die Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin - i. S. d. § 29 Abs. 1 Satz 2 NJVollzG gegeben ist, wird dabei weder vom Antragsteller noch von der Antragsgegnerin bestimmt, sondern ist nach objektiven Gesichtspunkten zu ermitteln (Senat, Beschl. vom 29. September 2008, 1 Ws 482/08 [StVollz]). Ohne Relevanz für das Merkmal der Dringlichkeit ist insbesondere, ob diese schuldhaft, z.B. durch Versäumen anderweitiger Maßnahmen, die einen Eilbedarf vermieden hätten, herbeigeführt wurde. Eine solche vorwerfbare Herbeiführung der Dringlichkeit kann allenfalls auf Rechtsfolgenebene bei der Ermessensausübung Berücksichtigung finden.
Danach war die Nutzung des Faxgeräts am Tag des Fristablaufs für die Einreichung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung dringlich. Die Entscheidung der Antragsgegnerin, ihm dennoch das Faxgerät nicht zur Verfügung zu stellen, war hier ermessensfehlerhaft. Es kann dahin gestellt bleiben, ob sich das durch § 29 Abs. 1 Satz 2 NJVollzG eröffnete Ermessen wegen des Anspruchs eines Strafgefangenen auf effektiven Rechtsschutz (vgl. nur BVerfG NStZ 1993, 507) grundsätzlich auf Null reduziert, wenn ohne Nutzung des Faxgeräts die Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs mit großer Wahrscheinlichkeit verstreichen würde, oder ob auch in diesen Fällen die Frage der schuldhaften Herbeiführung der Dringlichkeit und insbesondere die Bedeutung der Angelegenheit für den Antragsteller bei der Ermessensausübung Beachtung finden müssen. Denn im konkreten Fall war die Entscheidung der Antragsgegnerin schon deshalb ermessensfehlerhaft, weil sie in der Sache den Vorwurf an den Antragsgegner enthielt, er habe das Rechtsmittel nicht schon vor Ablauf der Rechtsmittelfrist eingelegt. Die ablehnende Entscheidung erschöpft sich im Wesentlichen darin, dass dem Antragsteller bereits vor Ablauf der 14tägigen Frist die Einreichung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung möglich war, insbesondere weil der Vollzugsplan nur wenige Änderungen enthielt, vom Antragsteller aufgrund seiner Fähigkeiten schneller hätte erfasst werden können und die Osterfeiertage zur Verfügung gestanden hätten. Damit hat die Antragstellerin jedoch das grundsätzlich bestehende Recht des Antragstellers, die Rechtsbehelfsfrist auszuschöpfen, in unzulässiger Weise verkürzt. Insbesondere verkennt die Antragsgegnerin auch, dass die Weitergabe des Antrags am 2. Mai 2011 schon wegen des Fristablaufs dringend angezeigt war.
Ein schuldhaftes Versäumen der Frist zur Einlegung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung konnte deswegen allein darin begründet sein, dass der Antrag nach eigenen Angaben des Antragstellers gegenüber der Antragstellerin bereits am Freitag, dem 29. April 2011, "fertig" war. Abgesehen davon, dass die Antragsschrift mit dem Datum "1. Mai 2011" versehen war, ist im konkreten Fall dem Antragsteller insbesondere deswegen kein Vorwurf zu machen, weil nicht ersichtlich ist, dass er bereits am Freitag, dem 29. April 2011, damit rechnen musste, ihm würde der Zugang am 2. Mai 2011 zum Faxgerät verwehrt. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Nutzung des Geräts nämlich nicht deswegen verweigert, weil Strafgefangenen das Gerät für fristgebundene Anträge, die nicht aus einem unvorhersehbaren Eilbedarf entstanden sind, grundsätzlich nicht zur Verfügung stehe, sondern weil sie rückblickend im konkreten Fall des Antragstellers auch eine kürzere Frist für ausreichend erachtete. Der Antragsteller hatte danach auch keinen ersichtlichen Anlass, sich schon am 29. April 2011 danach zu erkundigen, ob ihm am 2. Mai 2011 das Faxgerät zur Verfügung gestellt würde.
Seiner Pflicht, alles Erforderliche zu tun, um einen rechtzeitigen Eingang des Antrags noch am 2. Mai 2011 zu bewirken, ist der Antragsteller schließlich durch den unverzüglich gestellten Folgeantrag, ihn zur Aufnahme des Antrags auszuführen, nachgekommen.