Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 05.08.2011, Az.: 1 Ws 282/11 (StrVollz)

Ausnahme vom Verbot der Vorhaltung von Taten und Verurteilungen wegen des Erfordernisses einer zutreffenden Vollzugsplanung durch ein möglichst umfassendes Persönlichkeitsbild des Gefangenen

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
05.08.2011
Aktenzeichen
1 Ws 282/11 (StrVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 22493
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2011:0805.1WS282.11STRVOLLZ.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 15.06.2011 - AZ: 97 StVK 22/11

Fundstellen

  • NStZ-RR 2011, 389
  • StRR 2011, 481-482
  • StV 2012, 171
  • StraFo 2011, 373-374

Verfahrensgegenstand

Vollzugsplanung

Amtlicher Leitsatz

Das Verbot nach § 51 Abs. 1 BZRG, Tat und Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr vorzuhalten und zu seinem Nachteil zu verwerten, wenn die Eintragung über eine Verurteilung im Bundeszentralregister getilgt worden oder zu tilgen ist, gilt auch für Strafvollzugsbehörden. Eine Ausnahme hiervon ist auch nicht dadurch gerechtfertigt, dass einer zutreffenden Vollzugsplanung ein möglichst umfassendes Persönlichkeitsbild des Gefangenen zu Grunde zu legen ist.

In der Strafvollzugssache
...
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers
gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer 25 des Landgerichts Hannover vom 15. Juni 2011
nach Beteiligung des Zentralen juristischen Dienstes für den niedersächsischen Justizvollzug
durch
die Richter am Oberlandesgericht ..., ... und ...
am 5. August 2011
beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss und der Vollzugsplan der Antragsgegnerin für den Antragsteller vom 10. März 2011 werden aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, für den Antragsteller einen neuen Vollzugsplan unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats aufzustellen.

Die Kosten der Rechtsbeschwerde und der ersten Instanz sowie die dem Antragsteller insgesamt entstandenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse zu tragen.

Der Streitwert wird für beide Instanzen auf 500 EUR festgesetzt.

Gründe

1

I.

Der Antragsteller verbüßt im geschlossenen Vollzug eine Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Jahren wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in sechs Fällen sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen. Aufgrund der Vollzugsplankonferenz vom 10. Februar 2011 hat die Antragsgegnerin am 10. März 2011 den Vollzugsplan für den Antragsteller fortgeschrieben. Dieser ist dem Antragsteller am 12. April 2011 schriftlich ausgehändigt worden. Der Antragsteller hat am 21. April 2011 gerichtliche Entscheidung dahingehend beantragt, den Vollzugsplan aufzuheben, weil darin unter der Überschrift "Grundlagen zum Vollzugsplan" 11 Vorstrafen aufgeführt sind, die im Bundeszentralregister bereits getilgt sind und sogar schon zum Zeitpunkt der zur jetzigen Strafverbüßung führenden Verurteilung vom 6. Juli 2005 gelöscht waren. Er macht geltend, dass dadurch ein Negativbild von ihm hergestellt werde, obwohl er von Rechts wegen als Erststraftäter zu behandeln sei.

2

Den Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 15. Juni 2011 als unbegründet zurückgewiesen. Die Tilgung der Vorstrafen stehe deren Berücksichtigung in der Vollzugsplanung nicht entgegen, weil für diese der gesamte strafrechtliche Werdegang einschließlich bereits getilgter Vorstrafen relevant sei; nur so könnten zutreffende Entscheidungen über seine Behandlung im Vollzug getroffen werden.

3

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts und beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und im Sinne seines ursprünglichen Hauptsacheantrages zu entscheiden

4

II.

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

5

1.

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig.

6

Sie ist insbesondere im Sinne von § 118 Abs. 3 StVollzG ordnungsgemäß erhoben. Zwar ist es unzulässig, wenn sich der Urkundsbeamte den Inhalt des Protokolls vom Beschwerdeführer diktieren lässt, wenn er sich darauf beschränkt, einen vom Beschwerdeführer überreichten Schriftsatz abzuschreiben oder wenn er einen Schriftsatz des Beschwerdeführers lediglich mit den üblichen Eingangs- und Schlussformeln eines Protokolls umkleidet oder ihn - wie hier - als Anlage dem Protokoll beifügt (vgl. BGH NStZ-RR 1997, 8; OLG Celle NStZ-RR 2008, 127; OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 54; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 110; Callies/Müller-Dietz, StVollzG 11. Aufl. § 118 Rdnr. 8; Schuler/Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG 5. Aufl. § 118 Rdnr. 8). Da der Urkundsbeamte hier aber zumindest die allgemeine Sachrüge in zulässiger Form in das Protokoll aufgenommen hat, ist die Rechtsbeschwerde mit dieser ordnungsgemäß begründet, ohne dass es auf die - unzulässig nur in der Anlage ausgeführten - Verfahrensrügen ankommt.

7

Es ist auch geboten, die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zur Fortbildung des Rechts sowie zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§ 116 Abs. 1 StVollzG). Zumindest der erkennende Senat hat sich zu der hier maßgeblichen Rechtsfrage noch nicht geäußert. Zudem gilt es, der Wiederholung des nachfolgend aufgezeigten Rechtsfehlers entgegen zu wirken.

8

2.

Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

9

Die Überprüfung auf die in zulässiger Form erhobene Sachrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Vollzugsplanes der Antragsgegnerin für den Antragsteller vom 10. März 2011 sowie zum Ausspruch der Verpflichtung der Antragsgegnerin, den Antragsteller insofern unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.

10

a)

Zutreffend ist die Strafvollstreckungskammer allerdings davon ausgegangen, dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zulässig war und der Antragsteller hier ausnahmsweise den Vollzugsplan als Ganzes anfechten konnte (BVerfG NStZ 2003, 620 [BVerfG 21.01.2003 - 2 BvR 406/02]; Schuler/Laubenthal, a.a.O. § 109 Rn. 12; Callies/Müller-Dietz a.a.O. § 109 Rn. 12). Denn mit der Rüge der unzulässigen Verwertung getilgter Voreintragungen wendet sich der Antragsteller gegen Feststellungen, die sich als Grundlagen der gesamten Vollzugsplanung auf alle Einzelregelungen auswirken können.

11

b)

Die Rechtsbeschwerde deckt jedoch mit der Sachrüge einen durchgreifenden Rechtsfehler bei der Anwendung von § 51 Abs. 1 BZRG auf. Danach dürfen Tat und Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und zu seinem Nachteil verwertet werden, wenn die Eintragung über eine Verurteilung im Bundeszentralregister getilgt worden oder zu tilgen ist. Diese Regelung begründet ein absolutes Verwertungsverbot, das von allen staatlichen Stellen - seien es Gerichte oder Behörden - zu beachten ist (BVerfGE 36, 174 [BVerfG 27.11.1973 - 2 BvL 12/72]). Es umfasst alle Bereiche des Rechtslebens und sämtliche Rechtsverhältnisse und Rechtsbeziehungen im privaten und öffentlichen Recht, so dass kein Bereich des Rechts ausgenommen ist; es kommt nicht darauf an, ob es sich um materiell- oder verfahrensrechtliche Vorschriften, um bundes- oder landesgesetzlich geregelte Bereiche handelt (Rebmann/Uhlig, BZRG § 51 Rn. 26; Götz/Tolzmann, BZRG 4. Aufl. § 51 Rn. 21; Hase, BZRG § 51 Rn. 5). Dementsprechend gilt das Verwertungsverbot zweifelsfrei und ausnahmslos auch für Vollzugsbehörden, sei es im Rahmen der Vollzugsplanung nach § 9 NJVollzG oder in sonstiger Hinsicht, etwa bei der Entlassungsprognose. Eine Ausnahme vom Verwertungsverbot nach§ 52 BZRG liegt hier nicht vor; insbesondere stellt der Vollzugsplan kein Gutachten über den Geisteszustand des Betroffenen in einem erneuten Strafverfahren i.S.v. § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG dar.

12

Der Auffassung der Strafvollstreckungskammer, dass die Gewährleistung zutreffender Entscheidungen bei der Behandlungsplanung - jedenfalls bei Sexualstraftätern - eine Ausnahme vom Verwertungsverbot rechtfertige, kann nicht gefolgt werden. Sie mag zwar in der Sache durchaus zu befürworten sein, wenngleich angesichts der Tilgungsfristen für Sexualstraftaten die Aussagekraft getilgter Eintragungen für eine zutreffende Vollzugsplanung fraglich erscheint. Das Interesse an einer zutreffenden Vollzugsplanung vermag aber jedenfalls den eindeutigen Willen des Gesetzgebers, der im Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG seinen Ausdruck gefunden hat, nicht auszuhebeln. Die damit einhergehenden Beeinträchtigungen der Strafrechtspflege bei der Wahrheitsermittlung sind zur Verwirklichung des mit dem Verwertungsverbot verfolgten Ziels der Resozialisierung Straffälliger hinzunehmen (BVerfGE 36, 174 [BVerfG 27.11.1973 - 2 BvL 12/72]). Dass es vorliegend in erster Linie um ein vollständiges Persönlichkeitsbild und eine Sozialprognose geht, ändert hieran nichts. Das Verwertungsverbot gilt nicht nur für die Strafzumessung an sich, sondern auch für die - ebenfalls eine Prognose beinhaltende - Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung (BGHSt 25, 100), einschließlich der Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen Sexualstraftäter (BGH StV 2002, 479; NStZ-RR 2002, 332), und für die nach § 56 StGB zu treffende Kriminalprognose (BGH StraFo 2010, 207). Auch im Strafvollstreckungsrecht ist bei der Entscheidung über eine bedingte Entlassung nach § 57 StGB das Verwertungsverbot nach § 51 Abs. 1 BZRG zu beachten mit der Folge, dass ein mehrfach Vorbestrafter im Falle der Tilgung der Voreintragungen wie ein Ersttäter bzw. Erstverbüßer zu behandeln ist (KG, Beschluss vom 6. März 1998 - 5 Ws 141/98, [...]).

13

3.

Aufgrund des vorgenannten Rechtsfehlers hebt der Senat nicht nur den angefochtenen Beschluss der Strafvollstreckungskammer, sondern auch den Vollzugsplan auf und verpflichtet die Antragsgegnerin, einen neuen Vollzugsplan für den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats aufzustellen, weil die Sache insoweit spruchreif ist (§ 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG).

14

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO.

15

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 1 Nr. 8, 63 Abs. 3, 65 GKG.