Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 16.04.2003, Az.: 7 K 723/98 Ki

Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld; Überschreitung des kindergeldschädlichen Grenzbetrags ; Verfassungskonforme Berechnung des Jahresgrenzbetrages

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
16.04.2003
Aktenzeichen
7 K 723/98 Ki
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 30987
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2003:0416.7K723.98KI.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 04.11.2003 - AZ: VIII R 59/03

Verfahrensgegenstand

Kindergeld 1997

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) erhalten Eltern für ihr volljähriges, in Ausbildung befindliches Kind dann das Kindergeld oder den Kinderfreibetrag, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von (derzeit) nicht mehr als 7.188 Euro im Kalenderjahr hat. Dieser kindergeld- und kinderfreibetragsschädliche Grenzbetrag, der im Streitjahr 1997 12.000 DM betrug, soll in typisierte Form die Frage beantworten, ob Eltern gegenüber ihren erwachsenen Kindern noch unterhaltsverpflichtet sind und entsprechend über das Einkommensteuerrecht einen Familienleistungsausgleich erhalten.

  2. 2.

    Die gesetzliche Beschreibung der Jahresgrenze ist zugunsten der betroffenen Eltern so zu verstehen, dass Einkünfte (und Bezüge), die z. B. durch Sozialversicherungsbeiträge und außergewöhnliche Belastungen gebunden sind, aus der Berechnung ausscheiden. Entsprechend sind nur ungebundene Einkünfte (und Bezüge), die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, zu berücksichtigen. Mit anderen Worten: Nicht nur der erwerbssichernde Aufwand (Werbungskosten, Betriebsausgaben), sondern auch der existenzsichernde Grund- und Mehraufwand (Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen), der insoweit Einkünfte (und Bezüge) zu gebundenen macht, ist bei der Grenzbetragsberechnung zu berücksichtigen. Danach beinhaltet § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG im Ergebnis keine bloße Einkunfts-, sondern strukturell eine die wirkliche finanzielle Leistungsfähigkeit abbildende Einkommensgrenze. Nur so stellt der kindergeld- und kinderfreibetragsschädliche Grenzbetrag eine den allgemeinen einkommenssteuerrechtlichen Sachgesetzlichkeiten entsprechende nachvollziehbare typisierte Bedürfnisgrenze dar.

  3. 3.

    Dieses Rechtsanwendungsergebnis entspricht den verfassungsrechtlichen Geboten der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, die vom Bundesverfassungsgericht aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz ( Art. 3 Abs. 1 GG) entwickelt worden sind, sowie dem Grundsatz der Praktikabilität. Dagegen darf die Berechnungsproblematik des Jahresgrenzbetrags zu Lasten der betroffenen Eltern nicht dadurch gelöst werden, dass das finanzielle Existenzminimum zuzüglich des zwangsläufigen privaten Mehrbedarfs in typisierender Form dem mit der Höhe des allgemeinen Grundfreibetrags (derzeit 7.235 Euro) gleichgesetzt wird. Denn dieser Grundfreibetrag bildet im Einkommensteuerrecht typisierend nur denGrundbedarf einer Person ab.

  4. 4.

    Das Gericht folgt damit im Ergebnis der Entscheidung des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 20. Juli 1999 VII 471/98 Ki (EFG 1999, 1137), die der vormals zuständige 6. Senat des Bundesfinanzhofs mit Urteil vom 21. Juli 2000 VI R 153/99 (BStBl. II 2000, 566) aufgehoben hatte. Wegen Abweichung von der Rechtsprechung des 6. Senats des Bundesfinanzhofs und wegen grundsätzlicher Bedeutung wird die Revision zugelassen. Der inzwischen zuständige 8. Senat des Bundesfinanzhofs wird über die verfassungskonforme Berechnung des Jahresgrenzbetrages im Kindergeld- und Kinderfreibetragsrecht zu entscheiden haben. Zwar hat der 8. Senat des Bundesfinanzhofs in seinem Urteil vom 16. April 2002 VIII R 76/01 (BStBl. II 2002, 525, 526) die Entscheidung des 6. Senats vom 21. Juli 2000 VI R 153/99 herangezogen, jedoch ohne erkennbare erneute Überprüfung der zum Teil neuen Argumente aus der Fachliteratur.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob die volljährige Tochter des Klägers mit ihrem Einkommen den kindergeldschädlichen Grenzbetrag für 1997 in Höhe von 12.000 DM des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) überschreitet.

2

Der Kläger ist Angehöriger des öffentlichen Dienstes. Er beantragte für seine am 28. Dezember 1975 geborene Tochter Iris Kindergeld bei der beklagten Behörde. Iris befand sich während des gesamten Jahres 1997 in einer integrierten Ausbildung zur Industriekauffrau und Diplom-Betriebswirtin; das Studium war dabei fester Bestandteil des Bildungsprogramms.

3

Die Einnahmen und Ausgaben von Iris im Jahre 1997 ergeben sich aus ihrem Einkommensteuerbescheid des Finanzamts L. vom 12. Juni 1998:

Arbeitslohn27.095 DM
Werbungskosten./. 14.112 DM
Gesamtbetrag der Einkünfte12.983 DM
Sonderausgabenpauschbetrag./. 108 DM
beschränkt abziehbare Sonderausgaben Summe der Versicherungsbeiträge6.626 DM
Vorwegabzug6.000 DM
Minderung4.335 DM
verbleibender Vorwegabzug 1.665 DM./. 1.665 DM
verbleibende Versicherungsbeiträge4.961 DM
abziehbar./. 2.610 DM
verbleiben2.351 DM
davon 50 v.H. abziehbar./. 1.176 DM
beschränkt abziehbare Sonderausgaben insgesamt./. 5.451 DM
außergewöhnliche Belastungen (655 DM abzüglich der zumutbaren Belastung in Höhe von 649 DM)./. 6 DM
Einkommen/zu versteuerndes Einkommen7.418 DM
4

Die Einkommensteuer wurde wegen Unterschreitens des Grundfreibetrags in Höhe von 12.095 DM in diesem Bescheid auf 0 DM festgesetzt. In der Gesamtsumme der Versicherungsbeiträge in Höhe von 6.626 DM sind laut "Entgeltabrechnung Dezember 1997" Arbeitnehmeranteile der Pflichtversicherungen in Höhe von 5.522 DM enthalten, im einzelnen:

Arbeitnehmeranteil für die Rentenversicherung2.740 DM
Arbeitnehmeranteil für die Krankenversicherung1.676 DM
Arbeitnehmeranteil für die Arbeitslosenversicherung877 DM
Arbeitnehmeranteil für die Pflegeversicherung229 DM
5

Die beklagte Behörde zahlte für das Streitjahr 1997 zunächst 2.640 DM Kindergeld, nachdem eine Prognoseberechnung ein Unterschreiten des Grenzbetrags ergeben hatte. Nach Überprüfung und Neuberechnung aufgrund des nunmehr vorliegenden Einkommensteuerbescheides ging die beklagte Behörde davon aus, dass die anrechenbaren Einkünfte der Tochter Iris 12.983 DM umfassten und damit die für die Kindergeldgewährung maßgebliche Einkommensgrenze für 1997 überschritten war. Die beklagte Behörde hob deshalb die Kindergeldfestsetzung vom 20. Januar 1997 auf und forderte das Kindergeld für 1997 in Höhe von 2.640 DM mit Bescheid vom 5. November 1998 zurück. Dem vom Kläger im Einspruchsverfahren vorgebrachten Einwand, bestimmte zwangsläufige private Aufwendungen hätten der Tochter Iris zum Lebensunterhalt nicht zur Verfügung gestanden und seien deshalb nicht anrechenbar, folgte die beklagte Behörde im Einspruchsbescheid vom 17. November 1998 nicht und wies den Einspruch als unbegründet zurück. Die beklagte Behörde meinte, die Einkünfte von Iris seien in vollem Umfang und ohne Abzug zu berücksichtigen, auch soweit sie zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts nicht zur Verfügung gestanden hätten.

6

Mit der Klage trägt der Kläger im Wesentlichen folgendes vor: Es sei ungerecht, bei der Berechnung des Grenzbetrags die Sonderausgaben, insbesondere die einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge, nicht zu berücksichtigen. Durch den Einkommensteuerbescheid 1997 sei nachgewiesen, dass seine Tochter Iris nach Abzug von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen lediglich über eine einkommensteuerrechtlich relevante finanzielle Leistungsfähigkeit in Höhe von 7.418 DM verfügt habe. Dementsprechend habe ihre Jahressteuerschuld 0 DM betragen. Unabhängig davon, wie man die Geldmittel bezeichne, ob "Bezüge", "Einkünfte", "Einkommen", "zu versteuerndes Einkommen" oder vielleicht "Restmittel", Iris habe in 1997 von 7.418 DM leben müssen. Weil das nicht möglich gewesen sei und um den "Sozialfall Iris" zu verhindern, habe er, der Kläger, zusammen mit seiner Ehefrau die Tochter unterstützt, dabei sei das Kindergeld zum Lebensunterhalt der Tochter Iris verwendet worden.

7

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der beklagten Behörde vom 5. November 1998 in der Fassung des Einspruchsbescheids vom 17. November 1998 aufzuheben.

8

Die beklagte Behörde beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Sie hält an ihrer Auffassung fest. Die für 1997 geltende Einkünfte- und Bezügegrenze von 12.000 DM sei hier um 983 DM überschritten. Das Kindergeld sei deshalb zurückzuzahlen.

10

Dem Gericht hat die Kindergeldakte, die bei der beklagten Behörde geführt wird, vorgelegen. Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet und ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter nach § 79 a Abs. 3 und 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erklärt.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage hat Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter Iris für das Jahr 1997. Der angefochtene Bescheid mit dem die beklagte Behörde die Kindergeldfestsetzung aufhob und das ausgezahlte Kindergeld zurückforderte, ist rechtswidrig und wird aufgehoben.

12

Verfassungskonforme Berechnung des Jahresgrenzbetrages

13

I.

1.

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld gemäß §§ 62 Abs. 1 und § 63 Abs. 1 EStG in Verbindung mit § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 2 EStG sind erfüllt. Iris ist das leibliche Kind des im Inland wohnenden Klägers. Sie hatte im Streitjahr das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet und befand sich in Berufsausbildung. Auch der im Streitfall allein streitige Jahresgrenzbetrag in Höhe von 12.000 DM wurde nicht überschritten, da die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmten oder geeigneten Einkünfte des Kindes lediglich 7.418 DM betrugen.

14

Für ein Kind, dass das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen Kindergeld gezahlt, wenn Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, im Kalenderjahr 1997 12.000 DM nicht überschreiten. Zwar spricht die einschlägige gesetzliche Regelung in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nur von"Einkünften", auf den ersten Blick von einer Zwischengröße des Rechenwerks des § 2 EStG. Das Gericht kommt aber über die hier notwendige verfassungskonforme Auslegung der "Einkünfte"-Grenzbetragsregelung folgerichtig zu der Rechengröße des zu versteuernden "Einkommens" im Sinne der §§ 32 a Abs. 1; 2 Abs. 5 EStG, unter Berücksichtigung der Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen. Denn nur dies entspricht dem in den Gesetzgebungsmaterialien erklärten Gesetzeszweck. Der Gesetzesplan hat auch - jedenfalls zu einem nicht unbedeutenden Teil - Eingang in den Gesetzestext gefunden. Der Begriff "Einkünfte" steht im § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nämlich nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der ausdrücklichen betragsmäßigen Orientierung am allgemeinen Grundfreibetrag, der sich ausdrücklich auf das zu versteuernde "Einkommen" bezieht (vgl. § 32 a Abs. 1 EStG; für 1997: 12.095 DM), sowie im Zusammenhang mit dem eingeschobenen Relativsatz des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG: "Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind".

15

Der Begriff "Einkünfte" in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entspricht nicht der Legaldefinition des § 2 Abs. 2 EStG. Es handelt sich vielmehr bei den "Einkünften" des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG um "Einkünfte des Kindes, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind", also um für die benannten Zwecke noch einsetzbare, ungebundene Einkünfte.

16

2.

Im Einzelnen:

17

a)

Wie sich aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt, orientiert sich der Grenzbetrag von 12.000 DM in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG am einkommensteuerfreien Existenzminimum. So heißt es in der ersten Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum Jahressteuergesetz 1996 (BTDrucks 13/1558, 139, 140):

"Ab eigenen Einkünften und Bezügen des Kindes von 12.000 DM sollen für über 18 Jahre alte Kinder sowohl der Kinderfreibetrag als auch das Kindergeld entfallen, wobei darauf hinzuweisen ist, dass dieser Betrag in etwa dem steuerfreien Existenzminimum des Steuerpflichtigen im Rahmen des Einkommensteuer-Tarifs entspricht. Der Ausschuss macht damit deutlich, dass der Betrag für die Unschädlichkeit der eigenen Einkünfte und Bezüge beim Kindergeld bzw. Kinderfreibetrag bei künftigen Anpassungen des steuerfreien Existenzminimums entsprechend zu verändern ist."

18

Zur Präambel des Familienleistungsausgleichs ( § 31 EStG) heißt es in BTDrucks 13/1558, 155: "Die Vorschrift regelt die steuerliche Berücksichtigung der geminderten Leistungsfähigkeit von Familien mit Kindern. Darüber hinaus wird die besondere Leistung der Familie für die Gesellschaft stärker als bisher anerkannt".

19

Der gesetzgeberische Plan, Kindergeld und Kinderfreibetrag nur dann für erwachsene Kinder zu gewähren, wenn die Kinder bedürftig sind, mithin von den Eltern unterhalten werden müssen, und die Kindergeld-Bedürfnisgrenze typisierend am einkommensteuerfreien Existenzminimum zu orientieren, ist im Hinblick auf Art. 1, 2, 3 und 6 des Grundgesetzes (GG) nicht nur sachgerecht, sondern auch bestimmt durch die Vorgaben der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienexistenzminimum (Kindergeld, Kinder- und Grundfreibeträge) aus den Jahren 1990 und 1992 (BVerfGE 82, 60; 82, 198, 206 f.; 87, 153; vgl. auch die Fortführung in BVerfGE 89, 346, 354 f.; 99, 216, 232 ff.; sowie BVerfG 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00 vom 4. Dezember 2002, Absatz-Nr. 53, http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20021204_2bvr040098.html, DStR 2003, 633, FR 2003, 568). Danach umfasst das von der Einkommensteuer freizustellende Existenzminimum den allgemeinen Mindestbedarf (etwa für Essen, Trinken, Kleiden, Wohnen = Grundfreibetrag) und den individuellen Sonderbedarf (etwa wegen Vorsorge oder Krankheit = Sonderausgaben/außergewöhnliche Belastungen als individuelle Aufstockung des Grundfreibetrags). Entsprechend bekennt sich der Gesetzgeber auch ausdrücklich zu dem Inhalt der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze mit den Worten:

20

"Die im Jahressteuergesetz 1996 festgelegten Beträge für das Existenzminimum eines Erwachsenen und eines Kindes müssen - nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - jeweils den veränderten Bedingungen angepasst werden" (BTDrucks 13/1558, 13).

21

Und an anderer Stelle (BRDrucks 68/95, 2):

22

"Im Einkommensteuerrecht wird hingegen der existenzsichernde - anders als der erwerbssichernde - Aufwand in typisierender Form berücksichtigt. Die wegen der Abwicklung im Massenverfahren notwendige Generalisierung ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Im Rahmen einer solchen Typisierung ist das Existenzminimum allerdings grundsätzlich so zu bemessen, dass es in möglichst allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdeckt, kein Steuerpflichtiger also infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken (BVerfGE 87, 153, 172)".

23

Der Gesetzgeber hält auch im Jahre 2001 an dem erklärten, verfassungsrechtlich geprägten Gesetzeszweck weiterhin fest, indem er ausdrücklich darauf abstellt, dass der Jahresgrenzbetrag eine Höhe erreichen muss, die es dem Kind ermöglicht, sich selbst zu unterhalten (BTDrucks 14/6160, 12; u. a. Versorgungs- und Sparerfreibetrag als Bezüge, vgl. § 32 Abs. 4 Satz 4 EStG). Im Anschluss daran versteht dies Walter Greite im Ergebnis zutreffend so, dass der Jahresgrenzbetrag das "volle Existenzminimum eines Erwachsenen" mit der erforderlichen "Draufsattelung" der Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen beinhalten muss (vgl. HFR 2002, 28, 29).

24

Von diesem Jahresgrenzbetrag, mit dem das Kind, wenn auch bescheiden, seinen Unterhalt selbst bestreiten können soll, und der als Maßstab für die Entscheidung, ob überhaupt Kindergeld oder ein Kinderfreibetrag gewährt wird, ist der zum Regelbedarf typisierte Unterhaltsbedarf des Kindes, der beim Unterschreiten des Jahresgrenzbetrages bei den Eltern in Form des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages zum Familienleistungsausgleich kommt, zu unterscheiden. Vorrangig ist die Ermittlung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Kindes nach allgemeinen Grundsätzen. Erst danach stellt sich die Frage, in welcher Höhe die Eltern ihre Unterhaltslast einkommensteuerrechtlich zum Ausgleich bringen können. Paul Kirchhof stellt dazu klar, dass grundlegend dabei ein typisierter Mindestbedarf (nach Sozialhilfegrundsätzen), allerdings einschließlich eines Erziehungsbedarfs (ähnlich dem bisherigen Haushaltsfreibetrag) und Betreuungsbedarfs (in Anlehnung an den Abzugsbetrag für Kinderbetreuungskosten) berücksichtigt werden muss (NJW 2000, 2792, 2795). Die Frage nach der Höhe des Kindergeldes oder des Kinderfreibetrages ist hier zwar nicht zu entscheiden, sie sollte aber nicht mit der hier einschlägigen Frage nach der grundsätzlichen Bedürftigkeit eines Kindes, der daraus resultierenden Unterhaltspflicht der Eltern und damit mit der Frage, ob überhaupt Kindergeld zu gewähren ist, verwechselt werden.

25

b)

Der erklärte Gesetzeszweck ist auch insoweit durch den Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG umgesetzt worden, als der dort genannte Grenzbetrag in Höhe von 12.000 DM für 1996 und 1997 bis auf wenige DM dem Betrag des einkommensteuerfreien Existenzminimums, dem Grundfreibetrag, für die Jahre 1996 und 1997 entspricht (dazu § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG: 12.095 DM; diese Entsprechung setzt sich planmäßig auch in den Jahren 1998 bis 2005 und darüber hinaus fort, vgl. §§ 32 Abs. 4 Satz 2, 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 52 Abs. 40, 41 EStG in den verschiedenen Fassungen und die nachstehende Übersicht):

Jahrkindergeldschädliche Grenze (DM)Grundfreibetrag (DM)
199612.00012.095
199712.00012.095
199812.36012.365
199913.02013.067
200013.50013.499
200113.50013.499
Jahrkindergeldschädliche Grenze (Euro)Grundfreibetrag (Euro)
20027.1887.235
20037.1887.235
20047.4287.426
ab 20057.6807.664
26

Die geringfügigen Betragsabweichungen lassen sich dadurch erklären, dass der Kindergeld-Grenzbetrag (auf volle DM/Euro) durch zwölf teilbar sein muss (vgl. § 32 Abs. 4 Sätze 6 und 7 EStG).

27

Der erklärte Wille des Gesetzgebers, den vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Grundsätzen zur Familienbesteuerung zu entsprechen, sich also verfassungskonform zu verhalten, wird auch durch den Text des § 31 Satz 1 EStG, der Präambel des Familienleistungsausgleichs, deutlich, wonach die steuerliche Freistellung eines "Einkommensbetrags" in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung durch Kinderfreibeträge oder Kindergeld bewirkt wird.

28

c)

Dagegen bleibt der Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG hinter dem erklärten und nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich allein möglichen Gesetzeszweck insoweit zurück, als der Gesetzgeber statt von "Einkommen" (genauer: von "zu versteuerndem Einkommen") nur von "Einkünften und Bezügen, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind", schreibt.

29

Dem Gesetzgeber ist bezüglich der existenzsichernden Mehraufwendungen (Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen) die Umsetzung seines eindeutig erklärten und verfassungsrechtlich vorgegebenen Gesetzesplans, nämlich die Anknüpfung an das (volle) einkommenssteuerliche Existenzminimum, in den Gesetzestext zwar seiner Höhe nach eindeutig, seinem Inhalte nach aber nur bedingt gelungen.

30

Da sich Gesetzesplan und Gesetzeswortlaut nicht vollumfänglich decken, aber die Wortsinngrenze bei der Rechtsanwendung nicht verlassen wird, ist noch Gesetzesauslegung, in der Form der verfassungskonformen Interpretation, angezeigt. Ergeben sich mehrere Auslegungsmöglichkeiten, so ist diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder dem Grundgesetz am besten entspricht. Denn man geht allgemein davon aus, dass der Gesetzgeber im Zweifel etwas bezweckt hat, was im Sinne des Grundgesetzes ist (so Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Auflage 2002, 140 mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Kirchhof, StuW 2000, 316, 324 ff.)

31

d)

Die Feststellung der Bedürftigkeit eines erwachsenen Kindes als Voraussetzung für die Gewährung von Kindergeld oder eines Kinderfreibetrages gebietet die Orientierung an einem wirklichen Nettobetrag, der - jedenfalls den Grundzügen nach - sowohl die Berücksichtigung des objektiven Nettoprinzips (Abzug der erwerbssichernden Betriebsausgaben und Werbungskosten) als auch des subjektiven Nettoprinzips, mit dem Abzug der existenzsichernden Mehraufwendungen (Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen) sowie der Freistellung der allgemeinen existenzsichernden Ausgaben für Ernährung, Kleidung, Wohnung in typisierter Form nach den zwingenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zum steuerlichen Existenzminimum aus dem Jahre 1992 (BVerfGE 87, 153), gewährleistet.

32

Allein eine wirkliche Nettogröße spiegelt finanzielle Bedürftigkeit bzw. finanzielle Leistungsfähigkeit im Sinne des Einkommensteuerrechts wider. Dieser Nettobetrag, vom Kläger zu Recht auch als "Restmittel" bezeichnet, darf nur jenseits des Grundfreibetrags, eines Betrags, der die regelmäßig anfallenden existenzsichernden Aufwendungen typisiert erfasst, besteuert werden. Hingegen umfasst der bloße Begriff "Einkünfte" zwar alle einkommenssteuerlich relevanten Einnahmen, die die finanzielle Leistungsfähigkeit erhöhen, nicht jedoch alle Ausgaben, die die einkommenssteuerliche Leistungsfähigkeit mindern. Die Anwendung eines "Einkünfte"grenzbetrags würde konzeptionell ganze Ausgaben-Einheiten, die im Kern Kosten der Existenzsicherung für die Zukunft und des Mehrbedarfs für die gegenwärtige Existenz darstellen, unzulässigerweise ausgrenzen (ähnlich zur verfassungsrechtlich gebotenen Höhe und Ausgestaltung des Grundfreibetrags Niedersächsisches Finanzgericht FR 1991, 140, 142 ff.; EFG 1991, 260, bestätigt durch BVerfG BVerfGE 87, 153, 175 ff.; a.A. BFH BStBl. II 1992, 91; BStBl. II 1992, 729).

33

Es wäre ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung ( Art. 3 Abs. 1 GG) und gegen die konsequente Anwendung des auf einer Ebene liegenden objektiven und subjektiven Nettoprinzips, damit verfassungswidrig, wenn etwa Eltern eines sich in Ausbildung befindlichen kranken erwachsenen Kindes, das statt hoher Berufsausgaben hohen Krankenmehraufwand zu tragen hat, kein Kindergeld erhalten, dagegen Eltern eines gesunden Kindes, das statt außergewöhnlicher Belastungen Werbungskosten hat, rund 1.800 Euro Kindergeld im Jahr vereinnahmen. Mit anderen Worten: Wenn zwei erwachsene auszubildende Kinder jeweils 9.000 Euro Einnahmen im Jahr erzielen und das kranke Kind mit nach § 33 EStG abzugsfähigen Krankenmehraufwand in Höhe von 2.500 Euro belastet ist und das gesunde Kind 2.500 Euro nach § 9 EStG abzugsfähige Werbungskosten hat, dann muss in beiden Fällen wegen Unterschreitens der kindergeldschädlichen Grenze von derzeit 7.188 Euro Kindergeld an die Eltern geleistet werden. Dasselbe gilt im Streitfall sinngemäß für die Berücksichtigung der nicht vermeidbaren Sozialversicherungsbeiträge von mehr als 5.000 DM.

34

Die Erweiterung der Bemessungsgrundlage um "Bezüge" ist sinnvoll, weil viele Kinder in Ausbildung Zuschüsse erhalten, die die Bedürftigkeit eines Kindes zum Teil oder ganz, damit die Unterhaltspflicht der Eltern entfallen lassen können. Auch gegen spätere gesetzliche Korrekturen der Einkommensgrenze durch die ausdrückliche Nichtanwendung von Vergünstigungsvorschriften ist grundsätzlich, unter dem Gesichtspunkt der Feststellung wirklicher finanzieller Leistungsfähigkeit, nichts einzuwenden (dazu BTDrucks 14/6160, 12). Auch die Erweiterung der Bedürftigkeitsgrenze durch "Bezüge" mit der Neutralisierung von Steuervergünstigungen erfordert die vollständige Berücksichtigung aller existenznotwendigen Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen, wie es der Gesetzgeber an anderer Stelle (nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundfreibetrag) durch die Erhöhung des Grundfreibetrags zunächst bei niedrigen Erwerbseinkommen mit der ausdrücklichen Anknüpfung an das zu versteuernde Einkommen auch folgerichtig vollzogen hatte (vgl. § 32 d EStG 1993 bis 1995). Auch damals hat es für die mit einem höheren Grundfreibetrag bedachten Geringverdiener Korrekturen bei der Definition des Erwerbseinkommens gegeben (Erweiterung der Bemessungsgrundlage), Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen blieben aber folgerichtig und vollumfänglich abzugsfähig.

35

Zwar ist nach Angaben des Bundesverfassungsgerichts für den Bereich des subjektiven Nettoprinzips verfassungsrechtlich bislang noch nicht abschließend geklärt, wieweit über den Schutz des Existenzminimums hinaus auch sonstige unvermeidbare oder zwangsläufige private Aufwendungen bei der Berechnung der Bemessungsgrundlage einkommensmindernd zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00 vom 4. Dezember 2002, Absatz-Nr. 53, am angegebenen Ort). Allgemein gilt jedoch: Für die verfassungsrechtlich gebotene Besteuerung nach finanzieller Leistungsfähigkeit kommt es nicht nur auf die Unterscheidung zwischen beruflichem oder privatem Veranlassungsgrund für Aufwendungen an, sondern jedenfalls auch auf die Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem, pflichtbestimmten Aufwand andererseits. Die Berücksichtigung privat veranlassten Aufwands steht dabei nicht ohne Weiteres zur Disposition des Gesetzgebers. Dieser hat die unterschiedlichen Gründe, die den Aufwand veranlassen, auch dann im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen, wenn solche Gründe ganz oder teilweise der Sphäre der allgemeinen (privaten) Lebensführung zuzuordnen sind (so BVerfG 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00 vom 4. Dezember 2002, Absatz-Nr. 55, am angegebenen Ort). Bezüglich des Teils des Arbeitslohns, der auf den abzuführenden Rentenversicherungsbeitrag entfällt, geht das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Besteuerung von Renten und Pensionen vom 6. März 2002 davon aus, dass dieser Teil des Arbeitslohns für den Arbeitnehmer wirtschaftlich genauso wenig verfügbar ist wie für den Beamten dessen "fiktiver" Beitrag (vgl. BVerfGE 105, 73, 125).

36

Nach diesen Rechtsgrundsätzen des Bundesverfassungsgerichts und wegen der vorher beschriebenen verfassungsrechtlichen Vorgaben in verschiedenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienexistenzminimum und wegen der dazu ergangenen Bekenntnisse des Gesetzgebers in den Motiven zur Gesetzeslage ab 1996, mit der ausdrücklichen Anknüpfung des Grenzbetrages an die Höhe des Grundfreibetrags, der sich nach § 32 a Abs. 1 EStG auf das zu versteuernde Einkommen bezieht, ist der Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG "Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind" so zu interpretieren, dass in das Grenzbetrags-Rechenwerk nur die Einkünfte (und Bezüge) einzustellen sind, die nicht durch bestimmte Sonderausgaben (§ 10 ff. EStG, etwa Sozialversicherungsbeiträge) und außergewöhnliche Belastungen (§§ 33 ff. EStG) gebunden sind. Das Gericht folgt insoweit Rudolf Mellinghoff, der die "Einkünfte" im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht als"Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 2 EStG" interpretiert, sondern nur als frei verfügbare Einkünfte, d. h. Einkünfte, die durch bestimmte unvermeidbare private Mehrausgaben (etwa Sozialversicherungsbeiträge und außergewöhnliche Belastungen) nicht gebunden sind (FR 2000, 1148, 1149; zustimmend Jachmann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Kommentar zum EStG Loseblatt, § 32 C 43, Stand: 2001, und Jachmann in Kirchhof, Kommentar zum EStG, 3. Auflage 2003, § 32 Rn 17; vgl. auch Greite in Korn, Kommentar zum EStG, Loseblatt, § 32 Rz. 66, Loseblatt, Stand: Februar 2002; Pust in Littmannn/Bitz/Pust, Kommenter zum EStG, Loseblatt, § 32 Rn 540 f., Stand: 2002). Denn der Relativsatz in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ("die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind") bezieht sich nicht nur auf "Bezüge", sondern aus verfassungsrechtlichen Gründen auch auf die dort genannten"Einkünfte", entsprechend sind nur ungebundene Einkünfte bei der Berechnung des Grenzbetrages zu berücksichtigen.

37

e)

Das Gericht geht allerdings unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Gebots der Folgerichtigkeit (dazu BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2002, a.a.O., Text-Rn 50; BVerfGE 105, 73, 125 f.) und des Gebots der Widerspruchsfreiheit (vgl. BVerfGE 86, 148, 251 f.; 98, 83, 97 f.; 98, 106, 118 ff.; vgl. auch Kirchhof, StuW 2000, 316 ff.), aber auch aus Gründen der Praktikabilität (grundsätzliche Übernahme des Rechenwerkes des Einkommensteuerbescheides des volljährigen Kindes), noch über die Interpretation von Rudolf Mellinghoff insoweit hinaus, als es annimmt, dass nicht nur Sozialversicherungsbeiträge und außergewöhnliche Belastungen, sondern sämtliche Sonderausgaben die "Einkünfte" im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu gebundenen, zu nichtanrechenbaren Einkünften machen. Denn der Gesetzgeber hat im Rahmen der Berechnung einkommenssteuerbarer finanzieller Leistungsfähigkeit durch die Berücksichtigung und Ausgestaltung des objektiven und subjektiven Nettoprinzips (dazu gehört auch der komplette Abzug der Sonderausgaben) für allgemein gültige Sachgesetzlichkeiten gesorgt, von denen er im selben Gesetz nicht ohne Rechtfertigung abweichen darf. Eine im Kern abweichende Definition finanzieller Leistungsfähigkeit des volljährigen Kindes im Kindergeld- und Kinderfreibetragsrecht als Teil des Einkommensteuerrechts würde gegen die verfassungsrechtlich anerkannten, aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Gebote der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit verstoßen. Im Übrigen gebietet es die praktische Handhabbarkeit, das subjektive Nettoprinzip des Einkommensteuerrechts einheitlich zu definieren. Zwar ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Konkretisierung der gleichheitsrechtlichen Leitlinien für den Einkommensteuer-Gesetzgeber auch dessen weitgehende Befugnis zur Vereinfachung und Typisierung zu beachten. Er darf generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen (vgl. BVerfGE 105, 73, 127). Die Generalisierung, Typisierung und Pauschalierung darf jedoch im selben Einkommensteuergesetz bezüglich eines vergleichbaren Ziels (Feststellung finanzieller Leistungsfähigkeit) nicht voneinander abweichend ausfallen. Für den Streitfall bedeutet dies, dass die Berechnung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Kindes Iris im Rahmen des Einkommensteuergesetzes im Grundsatz nicht unterschiedlich sein darf. Deshalb sind wie bei der Einkommensteuerberechnung des Kindes auch hier für Zwecke des Kindergeldes die Sonderausgaben des Kindes bei der Grenzbetragsberechnung vollständig zu berücksichtigen.

38

3.

Entsprechend der hier vorgenommenen verfassungskonformen Berechnung der Bedürfnisgrenze (= Einkommensgrenze) im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist im Streitfall der Sonderausgaben-Pauschbetrag in Höhe von 108 DM ( § 10 c Abs. 1 EStG) zusätzlich abzuziehen. Daneben sind weitere (beschränkt abzugsfähige) Sonderausgaben im Rahmen des § 10 Abs. 3 EStG in Höhe von 5.451 DM (u. a. Arbeitnehmeranteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag in Höhe von 5.522 DM) sowie außergewöhnliche Belastungen gemäß § 33 EStG, nach Abzug der zumutbaren Belastung von 649 DM, in Höhe von 6 DM zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass von dem bisher von der Beklagten errechneten Betrag von 12.983 DM ein Betrag von insgesamt 5.565 DM (Sonderausgaben/außergewöhnliche Belastungen) zusätzlich abzuziehen ist. Damit ergibt sich ein Betrag der ungebundenen, also anrechenbaren Einkünfte des Kindes in Höhe von 7.418 DM. Das hat zur Folge, dass der für das Streitjahr geltende Grenzbetrag in Höhe von 12.000 DM weit unterschritten ist. Folglich ist der Rückforderungsbescheid antragsgemäß aufzuheben.

39

Das Gericht hält im Ergebnis an seiner Rechtsprechung aus 1999 zum Jahresgrenzbetrag entgegen eines höchstrichterlichen Grundsatzurteils fest

40

II.

1.

Das Ergebnis der Rechtsanwendung des Gerichts stimmt mit dem des Senatsurteils vom 20. Juli 1999 (VII 471/98 Ki, EFG 1999, 1137) überein. Der damals zuständige 6. Senat des Bundesfinanzhofs hat durch seine Grundsatzentscheidung vom 21. Juli 2000 (VI R 153/99, BStBl. II 2000, 566) das Urteil des 7. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 20. Juli 1999 aufgehoben. Die gegen das Urteil des 6. Senats des Bundesfinanzhofs vom 21. Juli 2000 gerichtete Verfassungsbeschwerde hat die 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichtes aus formellen Gründen nicht zur Entscheidung angenommen (vgl. Beschluss vom 30. September 2002 2 BvR 1781/00, HFR 2003, 76; wegen einer anderen Verfassungsbeschwerde mit dem Aktenzeichen 2 BvR 167/02 gegen BFH HFR 2002, 508 hat die Oberfinanzdirektion mit Verfügung vom 4. März 2003, DStR 2003, 550, die Voraussetzungen für die Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung, AO, angenommen).

41

Die Rechtsprechung des 7. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts hat, selbst nach der höchstrichterlichen Aufhebung, in der Fachliteratur Zustimmung hervorgerufen, gleichzeitig hat die Rechtsprechung des 6. Senats des Bundesfinanzhofs mit teilweise neuen Argumenten Kritik erfahren. So führt Winfried Bergkemper aus, das Niedersächsische Finanzgericht sei durch die Rückbesinnung auf den Gesetzeszweck einen neuen Weg gegangen: Dies verdiene Respekt, auch deshalb, weil bisher weder in der Rechtsprechung noch in der Fachliteratur die Ausrichtung des Grenzbetrags an den Einkünften und Bezügen in Zweifel gezogen worden sei. Das Urteil mache in besonderer Weise an einem zentralen Punkt die fehlende Abstimmung zwischen den (neuen) Kindergeldvorschriften und steuerlichen Vorschriften deutlich. Der Gesetzgeber sei ersichtlich bei seinem Bemühen, den Grenzbetrag am Grundfreibetrag zu orientieren, auf halbem Weg stehengeblieben. Er hätte diesen Betrag, der der absoluten Höhe nach nicht zu beanstanden ist, auf das zu versteuernde Einkommen beziehen müssen, um den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts voll gerecht zu werden (vgl. KFR Fach 3 EStG § 32, 1/00, S. 19 von 1999). Rudolf Charlier führt aus: "So sehr die Gründe, die das Niedersächsische FG für seine Entscheidung angeführt hat, überzeugen, so wenig überzeugen die vielen Berechnungen und Statistiken, die der VI. Senat zur Stützung seiner Auffassung ausfindig gemacht hat" (NWB Fach 3 a, S. 1987, 2001 aus dem Jahr 2001). Utta Kaiser-Plessow meint, das Ergebnis der verfassungskonformen und am Gesetzeszweck orientierten Interpretation des Jahresgrenzbetrages durch das Niedersächsische Finanzgericht sei"wünschenswert und überzeugend". Dagegen widerspreche die Nichtberücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge durch den Bundesfinanzhof der erklärten Absicht des Gesetzgebers (vgl. interdisziplinäres Fachjournal: Familie, Partnerschaft, Recht, 2002, 428, 429). Auch nach Rudolf Mellinghoff ist der Ansatz sämtlicher Einkünfte ohne Berücksichtigung nicht vermeidbarer Aufwendungen problematisch; insoweit sei "der Versuch des FG Niedersachsen, der Klägerin zu helfen, verständlich" (FR 2000, 1148, 1149 f.).

42

2.

Die gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 20. Juli 1999 (EFG 1999, 1137) vorgebrachten Einwände greifen nicht durch:

43

a)

Nach dem Grundsatzurteil des 6. Senats des Bundesfinanzhofs vom 21. Juli 2000 (BFH BStBl. II 2000, 566), durch das das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 20. Juli 1999 (EFG 1999, 1137) aufgehoben wurde, lässt sich den Gesetzgebungsmaterialien nicht der gesetzgeberische Wille entnehmen, dass bei der Bemessung des Grenzbetrags in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG an das Einkommen anzuknüpfen sei. Die Materialien ergäben kein einheitliches Bild. Die Aussage des Gesetzgebers, der Grenzbetrag entspreche in etwa dem steuerfreien Existenzminimum des Steuerpflichtigen, könne die Auffassung des Niedersächsischen Finanzgerichts nur bei "isolierter Betrachtung" verschiedener Stellen (BTDrucks 13/1558, 139 f.; BTDrucks 13/1558, 13) stützen, da es "entsprechend dem Wortlaut" der BTDrucks 13/15558, 13, 139 f., naheliegender erscheine, dass der Gesetzgeber des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG lediglich "der Höhe" nach mit dem Betrag des steuerfreien Existenzminimums eines alleinstehenden Erwachsenen übereinstimmen und in der Folge entsprechend angepasst werden sollte. Für eine Auslegung des Begriffs der Einkünfte im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entgegen der gesetzlichen Definition des § 2 Abs. 2 EStG seien bei vollständiger Auswertung der Gesetzesmaterialien keine hinreichenden Anhaltspunkte gegeben. Für die vom Niedersächsischen Finanzgericht vorgenommene Rechtsanwendung sei kein Raum.

44

Zwar müsse der Jahresgrenzbetrag nach verfassungsrechtlichen Anforderungen so bemessen sein, dass dem Kind nach Abzug der nicht vermeidbaren Sonderausgaben noch ausreichende Mittel verblieben, um seinen existenznotwendigen Bedarf zu decken. Ein Kind, das sich in einem Ausbildungsverhältnis befinde, könne sich nämlich den Beitragszahlungen zur gesetzlichen Sozialversicherung nicht entziehen, so dass ihm diese Mittel nicht zur Verfügung stünden. Da aber die Sozialversicherungsbeiträge der Gemeinschaft der Versicherten in dem Sinne zugute kämen, dass daraus auch die Versicherungsleistungen für die Familien gezahlt würden, deren Beitragslast sich - unabhängig von der Zahl der Familienmitglieder - allein nach der Höhe der sozialversicherungspflichtigen Einkünfte der Eltern richte, erscheine es von Verfassungs wegen nicht geboten, bei der Bemessung des Grenzbetrags Beiträge des in Berufsausbildung befindlichen Kindes zur gesetzlichen Sozialversicherung zu mehr als der Hälfte zu berücksichtigen. Ausgehend von einer im Wege der Pauschalierung anzusetzenden Vorsorgepauschale in Höhe von 2.800 DM (bei angenommenen jährlichen Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 14.000 DM) ergäbe sich damit ein Betrag von 1.400 DM. Zudem sei es bei der Typisierung einer Bedürfnisgrenze zulässig, andere Sonderausgaben, die nicht so zwangsläufig entstünden wie die Sozialversicherungsbeiträge, und außergewöhnliche Belastungen insgesamt, die im Regelfall nicht anfielen, gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Nehme man also nur die Hälfte der regelmäßig anfallenden Sozialversicherungsbeiträge (1.400 DM) und rechne man ein unter dem Grundfreibetrag eines alleinstehenden Erwachsenen liegendes Existenzminimum von 10.468 DM hinzu (= 11.868 DM), so enthielte der Jahresgrenzbetrag für 1997 (12.000 DM) in typisierender Weise sämtlichen existenziellen Grund- und Sonderbedarf des volljährigen, in Berufsausbildung befindlichen und auswärts untergebrachten Kindes.

45

Diese Auffassung des 6. Senats des Bundesfinanzhofs kann nicht, auch nicht in Teilen, überzeugen.

46

Zum einen ist die Wortlautauslegung der Gesetzgebungsmaterialien durch den 6. Senat des Bundesfinanzhofs und die damit verbundene isolierte Betrachtung des erklärten Willens des Gesetzgebers, die die verfassungskonforme Gesetzesanwendung unterläuft, abzulehnen. Denn es nicht nachvollziehbar, den Gesetzgeber so verstehen zu wollen, als habe er den Willen zur Anknüpfung des Kindergeldgrenzbetrages an den allgemeinen Grundfreibetrag nur "der Höhe" nach, nicht aber auch inhaltlich, d. h. der Berechnungsstruktur des Einkommensteuergesetzes entsprechend, erklärt. Er habe etwa den Abzug der erwerbssichernden Betriebsausgaben und Werbungskosten und die Steuerfreistellung der allgemeinen existenzsichernden Aufwendungen, nicht aber die Berücksichtigung der existenzsichernden Mehraufwendungen (Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen) erklären wollen. Vielmehr hat der Gesetzgeber, der den Jahresgrenzbetrag ausdrücklich am "steuerfreien Existenzminimum des Steuerpflichtigen im Rahmen des Einkommensteuertarifs" orientiert und sich dabei, wie oben ausgeführt, auf die einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beruft, sinngemäß die Erklärung abgegeben, die finanzielle Leistungsfähigkeit beim Kindergeld des Einkommensteuergesetzes konzeptionell genauso messen zu wollen, wie er auch ansonsten (allgemein) finanzielle Leistungsfähigkeit im Einkommensteuergesetz nach den Maßstäben des verfassungsgeforderten objektiven und des (vollständigen) subjektiven Nettoprinzips misst. Die angeführten Stellen aus den Gesetzgebungsmaterialien zeigen einerseits, dass der Gesetzgeber den Geboten des Grundgesetzes folgend einen klaren Willen formuliert und dabei jedes Mal erkennbar dasselbe, nämlich innerhalb des durch das Einkommensteuergesetz vorgegebenen Rechenwerks die Freistellung des einkommenssteuerlichen Existenzminimums nach Maßgabe des einkommenssteuerlichen Grundfreibetrages erklärt hat. Andererseits erweist sich der Gesetzgeber nicht gerade als begriffsfest, wenn er mal von "Einkünften und Bezügen", mal vom "Einkommen", mal vom "Einkommensgrenzbetrag", mal von "Einkommensgrenze", mal von "Nettoeinkommensgrenze", mal von "Kindeseinkommen" und mal von "Nettogrenze" schreibt (vgl. BTDrucks 13/1558, 155, 139 f., 164). Dieser Kessel voller bunter Begriffe aus den Gesetzgebungsmaterialien läuft gemixt in den Gesetzestext über (vgl. § 31 Satz 1 EStG: "Einkommensbetrag"; § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG "Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind"). Die Auslegung, die § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG durch den 6. Senat des Bundesfinanzhofs erfahren hat, führt - gemessen am erklärten Gesetzeszweck - zu einer Regelungslücke, der, wie geschehen, durch eine verfassungskonforme, den erklärten Willen des Gesetzgebers verwirklichende Interpretation des Gesetzestextes zu begegnen ist. Denn es gibt bei vollständiger Auswertung und zudem verständiger Würdigung der Gesetzgebungsmaterialien keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber mit der Begriffswahl "Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind" in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bei der Bemessung finanzieller Leistungsfähigkeit beim einkommenssteuerlichen Kindergeld/Kinderfreibetrag von der allgemein gültigen Bemessung finanzieller Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht abweichen und damit willkürliche Begünstigungs- und Besteuerungslagen schaffen wollte. Selbst wenn man die Auffassung des Bundesfinanzhofs, die Gesetzgebungsmaterialien könnten einen eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht abbilden, teilen wollte, so wäre im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung von einem durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienexistenzminimum vorgegebenen und damit verfassungsmäßigen Willen des Gesetzgebers auszugehen. Die Annahme eines nur formal korrekten, aber ansonsten inhalts- und maßstablosen Gesetzgebungswillens ist unter keinem Gesichtspunkt zielführend. Auch wenn der Gesetzgeber nicht nur versehentlich, sondern seinen in den Gesetzgebungsmaterialien erklärten verfassungsgemäßen Gesetzesplan (etwa aus Haushaltsgründen) heimlich und absichtsvoll in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nur unvollständig hat umsetzen wollen, also mit der von ihm geschaffenen Norm absichtlich hinter dem von ihm erklärten Regelungsziel zurückbleiben wollte, würde es bei der hier vorgenommenen verfassungskonformen Auslegung bleiben müssen. Denn der Rechtsanwender hat den erklärten, nicht einen geheimen Gesetzgebungswillen zu beachten.

47

Zum zweiten ist die vom 6. Senat des Bundesfinanzhofs vorgenommene grobe Typisierung und Pauschalierung des gesamten subjektiven Nettoprinzips für erwachsene Kinder in Berufsausbildung nicht haltbar. Es ist schon nicht nachvollziehbar, dass für Zwecke des Kindergelds und des Kinderfreibetrags der Betrag des typischen existenziellen Grund- und Sonderbedarfs bei volljährigen Kindern in Berufsausbildung nur genau so hoch sein soll wie der allgemeine Grundfreibetrag, der allein den existenziellen Grundbedarf widerspiegelt. In seinen Grundsatzentscheidungen zum Kindergeld bei hilflosen schwerbehinderten Kindern hatte der 6. Senat des Bundesfinanzhofs noch festgestellt, dass sich der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf in Höhe von 12.000 DM für 1997) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammensetzt (so BFH BStBl. II 2000, 72; 2000, 75; 2000, 79; vgl. auch BFH BStBl. II 2002, 486, 487). Es leuchtet zwar sofort ein, dass der gesamte existenzielle Lebensbedarf des schwerbehinderten Kindes wesentlich höher ist als der eines nichtbehinderten Kindes. Warum aber bei einem nichtbehinderten Kind der Grund bedarf für 1997 mit 10.468 DM und der eines schwerbehinderten Kindes mit 12.000 DM angenommen wird, erläutert der 6. Senat des Bundesfinanzhofs nicht und kann auch schlüssig nicht erklärt werden. Daneben ist auch kein Grund erkennbar, warum die behinderungsbedingten außergewöhnlichen Belastungen bei einem auszubildenden (einfach) behinderten Kind (also nicht hilflos, nicht schwerbehindert, aber z. B. sehbehindert oder schwerhörig) nicht berücksichtigt werden und hinweg zu typisieren sind. Denn dieser behinderungsbedingte Mehraufwand führt auch zu einer erhöhten Unterhaltslast bei den Eltern und ist aufgrund der Einkommensteuerveranlagung des Kindes bekannt bzw. nach den Pauschbeträgen des § 33 b EStG ohne großen Ermittlungsaufwand berücksichtigungsfähig. Des weiteren: So wie der 6. Senat des Bundesfinanzhofs den Jahresgrenzbetrag versteht, ist die Grenze nur bezüglich des erwerbssichernden Aufwands flexibel (Abzug von Werbungskosten und Betriebsausgaben), bezüglich des existenzsichernden Grund- und Mehraufwands ist sie dagegen starr. Nach dieser BFH-Interpretation werden ohne sachlichen Grund die Eltern bevorzugt, die auszubildende Kinder mit hohen Berufsausgaben unterstützen, nicht aber solche mit hohen existenziellen Sonderaufwendungen. Benachteiligt werden die Eltern, die auszubildende Kinder unterhalten, die wenig Berufsausgaben, dafür aber hohen unvermeidbaren Sonderaufwand haben. Die Bevorzugung des einen Teils der Gruppe von Eltern ist die Benachteiligung des anderen Teils der Elterngruppe. Zudem macht Bernd Heuermann zu Recht darauf aufmerksam, dass die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes, nicht in erster Linie der Familie, sondern vor allem der Allgemeinheit, nämlich der gesamten Gemeinschaft der Versicherten, nützen, so dass eine nur hälftige Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge keineswegs zwingend ist (vgl. Blümich/Heuermann, Kommentar zum EStG, Loseblatt, § 32 Rn 114, Stand: Januar 2002; ähnlich kritisch schon Mellinghoff, FR 2000, 1148, 1149, der meint, dass Familien mit Kindern erst dafür sorgen, dass es auch in Zukunft Beitragszahler in der gesetzlichen Sozialversicherung gibt und dass die Beiträge der Kinder im Ergebnis eher den kinderlosen Versicherten als der eigenen Familie zugute kommen). Dieser Kritik ist noch Folgendes hinzuzufügen: Es ist schon verfassungsrechtlich angreifbar, wenn der 6. Senat des Bundesfinanzhofs nicht von den tatsächlich gezahlten, also von den realitätsgerechten Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes, sondern nur von niedrigen, pauschal gekappten Sonderausgabenabzugsbeträgen des § 10 c EStG ausgeht. Denn der Gleichbehandlungsgrundsatz und die Freiheitsrechte der Bürger werden in "besonders eklatanter Weise" verletzt, wenn Sozialversicherungsbeiträge realitätsfremd durch die niedrigen Höchstbeträge der Vorsorgeaufwendungen bemessen werden (so klarsichtig Seer, StuW 1996, 323, 332 ff.). Des Weiteren schreibt der 6. Senat des Bundesfinanzhofs zwar, dass er die Hälfte der Sozialversicherungsbeiträge des Kindes bei der Berechnung des Jahresgrenzbetrages berücksichtigt, tatsächlich wird aber wesentlich weniger zugrunde gelegt. Denn er stellt in seine Berechnung nur die Hälfte einer Sonderausgaben-Pauschale ausgehend von Jahreseinnahmen aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von nur 14.000 DM (davon 20 v.H. = 2.800 DM), also letztlich nur 1.400 DM, ein. Werden, wie hier im Streitfall, über 20.000 DM im Jahr vom auszubildenden Kind brutto verdient und werden über 5.000 DM an Beiträgen zur Sozialversicherung beim Kind Iris unter Beachtung des Sonderausgaben-Vorwegabzugs anerkannt, so wirkt die BFH-These zum "kleinen Halbteilungsgrundsatz" noch problematischer.

48

Daneben sieht Rudolf Mellinghoff zutreffend eine "gravierende Schwäche" in der Entscheidung des 6. Senats des Bundesfinanzhofs, weil dort die Frage nach der Höhe des vom Gesetzgeber gewählten Grenzbetrags nicht von der Frage getrennt wird, welche Einnahmen des Kindes auf diesen Grenzbetrag anzurechnen sind. "Die unglückliche Vermischung der Fragen, welcher Grenzbetrag verfassungsrechtlich geboten ist und welche Einnahmen gegengerechnet werden müssen, veranlasst den BFH zu problematischen Ausführungen zum existenznotwendigen Bedarf eines Kindes in der Berufsausbildung" (so Mellinghoff, FR 2000, 1148, 1149). Rudolf Mellinghoff verstärkt noch mit guten Gründen seine Kritik an der BFH-Rechtsprechung zum Jahresgrenzbetrag im Anschluss an eine weitere Entscheidung des 6. Senats des Bundesfinanzhofs vom 26. September 2000 (BStBl. II 2000, 684), wonach Einnahmen des Kindes in Höhe des Versorgungs-Freibetrags und des Sparerfreibetrags keine Bezüge im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, entsprechend bei der Ermittlung des maßgeblichen Jahresgrenzbetrages nicht zu berücksichtigen seien. Nach dieser Folgeentscheidung soll es nicht auf die tatsächliche Bedürftigkeit des Kindes und die Belastung der Eltern ankommen, sondern es hängt von der Gesetzestechnik des Einkommensteuergesetzes ab, ob der Anspruch auf Kindergeld oder auf einen Kinderfreibetrag entfällt (Mellinghoff, FR 2000, 1292, 1293). Inzwischen hat der Gesetzgeber reagiert und hat den Versorgungs- und den Sparerfreibetrag ausdrücklich zu Bezugsgrößen gemacht (so § 32 Abs. 4 Satz 4 EStG).

49

Dagegen argumentiert der 6. Senat des Bundesfinanzhofs in seiner Entscheidung zur Berücksichtigung der besonderen Ausbildungskosten des Kindes beim Jahresgrenzbetrag ähnlich wie hier das Gericht im Abschnitt I. Dort kommt er "aus Gründen der Gleichbehandlung" zu dem zutreffenden Ergebnis, dass besondere Ausbildungskosten im Sinne des § 32 Abs. 4 EStGalle über die Lebensführung hinausgehenden ausbildungsbedingte Mehraufwendungen sind (BStBl. II 2001, 491, 494 f.). Dort orientiert sich der 6. Senat des Bundesfinanzhofs zu Recht hauptsächlich am Gesetzeszweck, weniger an dessen Wortlaut (so auch BFH BStBl. II 2000, 72; 2000, 75; 2000, 79 zum Kindergeld bei Schwerbehinderung des Kindes; insgesamt zu den Friktionen der uneinheitlichen BFH-Rechtsprechung des 6. Senats bei der Ermittlung des Jahresgrenzbetrages vgl. auch Kanzler, FR 2000, 1358 ff.; Gorski, DStZ 2001, 239, 240).

50

b)

Nach Auffassung der Verwaltung (Bundesanstalt für Arbeit, Familienkasse) gehören Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen zu den Ausgaben privater Art, die nicht unbedingt existentiell notwendig sind. Im Rahmen der gebotenen Typisierung bei einer Massenverwaltung wie dem Kindergeldrecht müssten solche - auch stark gestaltungsfähigen - Aufwendungen folglich außer Betracht bleiben. Für das bis Ende 1995 geltende sozialrechtliche Kindergeld habe die Einkommensgrenze des § 2 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) noch auf reine Bruttoeinnahmen aus dem Ausbildungsverhältnis oder einer Erwerbstätigkeit abgestellt und keinerlei "Bereinigung um irgendwelche Aufwendungen des Kindes" vorgesehen. Mit der ab Januar 1996 geltenden Einkommensgrenze habe der Gesetzgeber eine sachgerechtere und verfassungsrechtlich stimmigere Regelung gegenüber der früheren Regelung des BKGG getroffen. Das Niedersächsische Finanzgericht habe mit dem Urteil vom 20. Juli 1999 (EFG 1999, 1137) gegen das Prinzip der Gewaltenteilung ( Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen. Die Judikative sei an den eindeutigen Gesetzeswortlaut gebunden und nicht befugt, andersgeartete rechtpolitische Vorstellungen durch einen Austausch von Begriffen zu verwirklichen. Das Finanzgericht hätte deshalb, wenn es von der Verfassungswidrigkeit des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überzeugt sei, einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht erlassen müssen. Wäre dem vom Finanzgericht vorgenommenen"Begriffstausch" zu folgen, stünde zudem zu erwarten, dass sich die über 18 Jahre alten Kinder und ihre Eltern umgehend "gestalterisch" betätigen, um die Einkommensgrenze zu unterlaufen und das Kindergeld, den Restnutzen aus dem Kinderfreibetrag und die Annex-Vergünstigungen zu erhalten. Dadurch würde eine enorme finanzielle Mehrbelastung von Bund, Ländern und Gemeinden eintreten (vgl. BStBl. II 2000, 566, 567 f.).

51

Diese fiskalische Haltung der Verwaltung ist abzulehnen. Denn die Finanzen dürfen nicht über dem Recht stehen. Die Verwaltung (als vollziehende Gewalt) hat das Gesetz und, wie die anderen Staatsgewalten auch, die Grundrechte des Bürgers als unmittelbar geltendes Recht zu achten ( Art. 1 Abs. 3 GG). Sie ist bei der Rechtsanwendung verpflichtet, auch an der Wortsinngrenze des Gesetzestextes weiterzudenken und nach der juristischen Methodenlehre sich vorrangig am Gesetzeszweck zu orientieren und im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung oder verfassungskonforme Analogie vorzunehmen (zu den Methoden der Rechtsanwendung: Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Auflage 2002, 112 ff.). Das Gericht darf einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 GG erst fassen, wenn auch eine verfassungskonforme Interpretation des einfachen Gesetzes nicht mehr zum verfassungsgemäßen Ziel führt. Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen ( Art. 97 Abs. 1 GG) und sind, wie die Verwaltung, an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Dazu noch einmal (vgl. auch EFG 1999, 1137, 1139) das Bundesverfassungsgericht:

52

"Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" (so BVerfGE 34, 269, zum Zivilrecht; übernommen von BVerfGE 69, 188, zum Steuerrecht).

53

Paul Kirchhof (StuW 2000, 316, 325) formuliert dazu folgendermaßen:

54

"Steuergesetze sind demnach in einer eigenständigen steuerjuristischen Betrachtungsweise auszulegen. Diese lockert nicht die Gebundenheit des Gesetzesadressaten durch das Gesetz, verstärkt vielmehr die Gebundenheit in den besonderen Anordnungen des Steuerrechts. Soweit sich dabei Interpretationsräume öffnen, sind diese durch eine teleologische Auslegung nach Sinn und Zweck des jeweiligen Steuergesetzes, letztlich aber durch die Vorgaben des Verfassungsrechts zu schließen. Diese verfassungskonforme Auslegung stellt den Sachzusammenhang zwischen den verfassungsrechtlichen Vorgaben und den diese beachtenden und konkretisierenden Entscheidungen des Steuergesetzgebers her. Die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung meint im praktischen Vollzug zunächst die Bindung durch das Steuergesetz, sodann durch das Grundgesetz".

55

Noch zu einzelnen Einwänden der Verwaltung:

56

Eine im Vergleich zum alten Bundeskindergeldgesetz nun angeblich bestehende sachgerechtere und verfassungsrechtlich stimmigere ist noch keine sachgerechte und verfassungsrechtlich stimmige Regelung. Um willkürliche Belastungs- und Besteuerungslagen zu vermeiden, darf bei Ermittlung der finanziellen Leistungsfähigkeit einer Person im Rahmen des Einkommensteuergesetzes der Abzug von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen - wie oben ausgeführt - nicht versagt werden.

57

Bei den wirklich bedeutenden Sonderausgaben, nämlich bei den vom Arbeitgeber einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträgen, und außergewöhnlichen Belastungen, nämlich bei den Krankheitskosten, kann schon von vornherein nicht von "stark gestalterischen Aufwendungen" gesprochen werden. Auch ansonsten kann das gestalterische Element vernachlässigt werden. Denn es gibt bei den Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen durch die Höchstbetragsberechnung nach § 10 Abs. 3 EStG und die zumutbare Belastung nach § 33 Abs. 1 EStG bedeutsame Kappungsgrenzen. Wer dennoch will, dass etwa Kirchensteuer, Spenden an gemeinnützige Vereine, Steuerberatungskosten oder freiwillige Versicherungsbeiträge zur Altersvorsorge nicht mehr als Sonderausgaben abzugsfähig sein sollen, der möge dies öffentlich und allgemein, also losgelöst vom Kindergeld- und Kinderfreibetragsrecht, vertreten. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass Gestaltung eher im Bereich der Werbungskosten und Betriebsausgaben zu finden ist, wenn es nämlich darum geht, kurz vor Jahresende noch einen teueren Arbeits-Computer oder teuere Fachliteratur zu erwerben, um den Jahresgrenzbetrag beim Kindergeld zu unterschreiten. Daneben sollte zur Kenntnis genommen werden, dass die umfangreichste und wirkungsvollste Gestaltung nicht bei den Familien mit mittlerem oder geringem Familieneinkommen stattfindet, sondern bei den reichen Familien. Denn reiche Eltern können ganz legal und mit leichter Hand das Problem der Kinder-Einkommensgrenze umgehen. Einkommensmillionäre etwa können ihre erwachsenen Kinder auf Dauer ohne eigenes oder nur mit geringem eigenem Einkommen, aufgrund behutsamer Übertragung von Einkunftsquellen, studieren lassen und beziehen dann ohne Einschränkung Kindergeld, können den aufgrund voller progressiver einkommenssteuerlicher Entlastungswirkung großen "Restnutzen" des Kinderfreibetrags sowie noch andere Kinder-Vergünstigungen (etwa Übertragung besonderer Pauschbeträge vom Kind auf die Eltern nach § 33 b Abs. 5 EStG oder Inanspruchnahme erhöhter Gehaltsbestandteile der im öffentlichen Dienst tätigen Eltern) in Anspruch nehmen.

58

Wenn die Verwaltung "die gebotene Typisierung bei einer Massenverwaltung wie dem Kindergeldrecht" reklamiert und auf die Bruttogrenze vor 1996 im Bundeskindergeldgesetz verweist, dann sollte sie auch zur Kenntnis nehmen, dass vor 1996 jahrelang im Einkommensteuergesetz eine Einkommensgrenze für die Gewährung von Kinderfreibeträgen nicht existierte, durch Typisierung ein viel einfacheres Kinderfreibetragsrecht bestand. Die Verwaltung könnte sich wegen der "gebotenen Typisierung" (etwa: typischer Weise sind Eltern, die erwachsene Kinder in Ausbildung haben, finanziell belastet) und der beschriebenen Gestaltungs-Schieflage zwischen reichen und armen Eltern (aufgrund der derzeitigen Einkommensgrenze beim Kindergeld/Kinderfreibetrag) doch einmal aus Gründen der Vereinfachung für alle Beteiligten dafür einsetzen, die äußerst streitanfällige Einkommensgrenze abzuschaffen.

59

Rentenversicherungsbeiträge als vorab veranlasste Erwerbsaufwendungen bezüglich der zu erwartenden vollsteuerpflichtigen Renteneinkünfte der Nacherwerbsphase

60

III.

Wer dennoch anderer Auffassung ist und meint, die vom Gericht favorisierte Rechtsanwendung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG trage die Klagestattgabe nicht, wird noch zusätzlich zu prüfen haben, ob die bei der Tochter Iris einbehaltenen Rentenversicherungsbeiträge des Jahres 1997 in Höhe von 2.740 DM vorab veranlasste Erwerbsaufwendungen (Begrifflichkeit nach Kreft, gleichnamige Monographie, 2000) bezüglich ihrer künftigen sonstigen Einkünfte aus Renten der Nacherwerbsphase bzw. bezüglich ihrer künftigen "nachträglichen Einkünfte nichtselbständig Tätiger mit Versorgungsanwartschaften" (so BVerfGE 105, 73, 122) sind, entsprechend der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG schon auf der Ebene des objektiven Nettoprinzips, auf der Einkünfte-Ebene, unterschritten wird. Denn aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur steuerlichen Gleichbehandlung von Renten und Pensionen, wonach die unterschiedliche Besteuerung seit dem Jahr 1996 mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist und der Gesetzgeber verpflichtet ist, spätestens mit Wirkung zum 1. Januar 2005 eine Neuregelung zu treffen (vgl. BVerfGE 105, 73 ff.), folgt die Notwendigkeit der künftigen nachgelagerten vollen Besteuerung der Renten bei voller Abzugsfähigkeit der mit den Renten korrespondierenden indisponiblen Beiträge (vgl. so schon prognostizierend Seer, StuW 1996, 323, 336; vgl. auch Birk, StuW 1999, 321, 326 f.). Diese wird zwar derzeit noch nicht ausdrücklich vorgeschrieben, es gibt allerdings nur diesen Weg, um zur Gleichbehandlung mit den vollsteuerpflichtigen Pensionen zu kommen. Denn niemand denkt ernsthaft daran, die volle Besteuerung der Pensionen aufzugeben. Deshalb ist jetzt schon absehbar, dass die heutigen auszubildenden jungen Leute, wie des Klägers Tochter Iris, ihre späteren Renten als sonstige Einkünfte in voller Höhe werden versteuern müssen (da wird auch keine Übergangsregelung mehr helfen können, auch nicht die vom Sachverständigen Bert Rürup vor dem Bundesverfassungsgericht vorgeschlagene, einen Übergangszeitraum von 35 Jahren umfassende Regelung, vgl. BVerfGE 105, 73, 109). Entsprechend könnten die von Iris in 1997 gezahlten Rentenversicherungsbeiträge in voller Höhe Werbungskostencharakter haben. Jedenfalls hat die Prüfung, ob Rentenversicherungsbeiträge in einem System der nachgelagerten Besteuerung vorab veranlasste Erwerbsaufwendungen sind, nach dem Eingangssatz des § 10 Abs. 1 EStG, wonach Sonderausgaben nur Aufwendungen sein können, die weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind, rechtslogischen Vorrang. Davon geht wohl auch das Bundesverfassungsgericht aus, wenn es zur noch geltenden, aber verfassungswidrigen Besteuerung der Alterseinkünfte meint: "Dem Arbeitnehmer ist zwar Bruttoarbeitslohn einschließlich des abzuführenden Rentenversicherungsbeitrags im Sinne des Einkommensteuergesetzes zugeflossen. Dieser Teil des Lohns war ihm wirtschaftlich jedoch genauso wenig verfügbar wie dem Beamten dessen 'fiktiver' Beitrag" (so BVerfGE 105, 73, 125). Das hier zur Entscheidung berufene Gericht deutet diesen vorrangigen, allerdings völlig neuen Weg hier nur an, es muss ihn aber hier deshalb nicht gehen, weil schon die unter Abschnitt I. vorgenommene herkömmliche verfassungskonforme Interpretation des Jahresgrenzbetrages des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG die Klagestattgabe trägt.

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Keine Entscheidung über fehlende Milderungsregelung

62

IV.

Obwohl im Streitfall die nach Auffassung der beklagten Behörde maßgebliche Einkommensgrenze nur um einen relativ geringen Betrag überschritten wurde, muss hier nicht entschieden werden, ob aus Gründen der Steuergerechtigkeit eine Milderungsregelung erforderlich ist, die einen gleitenden Übergang beinhaltet, wonach der Betrag, der die kindergeldschädliche Grenze überschreitet, vom vollen Kindergeldbetrag abzuziehen ist (strukturell ähnlich etwa: §§ 14 a Abs. 4 Satz 3, 16 Abs. 4, 33 a Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, 34 e Abs. 1 Satz 2, 46 Abs. 5 EStG; mit guten Gründen und mit Recht kritisch zur starren Grenzziehung: Kanzler, FR 2000, 1358, 1359; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Kommentar zum KStG und EStG, Loseblatt, § 32 Anm. 130, Stand 1997, mit Hinweis auf BVerfGE 87, 153, 177; in diesem Sinne auch Paus, FR 1996, 337, 339 f.; Kulmsee, Die Berücksichtigung von Kindern im EStG, 2002, 163 ff.; vgl. auch die beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfassungsbeschwerde mit dem Aktenzeichen 2 BvR 167/02 gegen BFH HFR 2002, 508 und Verfügung der Oberfinanzdirektion Hannover vom 4. März 2003, DStR 2003, 550 mit Hinweis auf die allgemeine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO). Denn der Klage ist bereits, wie dargelegt, in vollem Umfang stattzugeben, weil der maßgebliche Jahresgrenzbetrag bei verfassungskonformer Berechnung nicht überschritten wird. "Das eigentliche Problem" des Jahresgrenzbetrags ist eben nicht allein der "Fallbeil-Effekt" der Grenze (so Kanzler, FR 2000, 1358, 1359), sondern vor allem die bisher höchstrichterlich vorgegebene, nicht verfassungskonforme Berechnungsweise des Jahresgrenzbetrages (BFH BStBl. II 2000, 566).

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Aus grundsätzlichen Erwägungen wird die Revision zugelassen

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V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung. Die Revision ist wegen Abweichung von der Rechtsprechung des vormals zuständigen 6. Senats des Bundesfinanzhofs vom 21. Juli 2000 VI R 153/99, BStBl. II 2000, 566 und wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen ( § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FGO). Zwar hat der inzwischen zuständige 8. Senat des Bundesfinanzhofs in seinem Urteil vom 16. April 2002 VIII R 76/01, BStBl. II 2002, 525, 526 die Entscheidung des 6. Senats vom 21. Juli herangezogen, jedoch ohne erkennbare erneute Überprüfung der zum Teil neuen Argumente aus der Fachliteratur.