Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.04.2003, Az.: 1 K 1037/97

Bewertung eines Musterhausgrundstücks als bebautes Grundstück; Erfordernis eines Bewertungsabschlags wegen zwingenden Erfordernisses des vorzeitigen Abbruchs; Qualifizierung von Musterhäusern als Betriebsvorrichtungen; Errechnung des Gebäudesachwerts; Wertminderung wegen wirtschaftlicher Überalterung; Ausschluss der Nutzung als Wohnung

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
28.04.2003
Aktenzeichen
1 K 1037/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 11330
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2003:0428.1K1037.97.0A

Fundstelle

  • EFG 2003, 1761

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Als Gebäude im bewertungsrechtlichen Sinne ist jedes Bauwerk anzusehen, das Menschen oder Sachen durch räumliche Umschließung Schutz gegen Witterungseinflüsse gewährt, den Aufenthalt von Menschen gestattet, fest mit dem Grund und Boden verbunden, von einiger Beständigkeit und ausreichend standfest ist. Diese Voraussetzungen werden von Musterhäusern erfüllt.

  2. 2.

    Die Eigenschaft eines Musterhauses als Gebäude schließt es begrifflich aus, es als Betriebsvorrichtung zu qualifizieren.

  3. 3.

    Werden Fertighäuser nur für Ausstellungszwecke genutzt und müssen anschließend abgebrochen werden, kann keine gewöhnliche Nutzungsdauer von 70 Jahren angesetzt werden.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob ein Musterhausgrundstück als bebautes Grundstück zu bewerten und ob ggf. ein Bewertungsabschlag im Hinblick auf die Notwendigkeit eines vorzeitigen Abbruchs der Gebäude vorzunehmen ist.

2

Die Klägerin errichtet und vertreibt Fertighäuser. Im Jahr 1989 erwarb sie das Flurstück...Das Grundstück liegt in einem Gewerbegebiet, das die Gemeinde als Ausstellungsgelände für Musterhäuser ausgewiesen hat. Im Jahr 1990 errichtete die Klägerin auf dem Grundstück zwei Fertighäuser als Musterhäuser. Die Häuser sind fest mit dem Grund und Boden verbunden und nach Gestaltung und Ausstattung zu Wohnzwecken nutzbar. An die Wasser- und Gasversorgung sowie an die Kanalisation sind sie nicht angeschlossen, die Versorgung mit Heizenergie erfolgt über ein Nachbargebäude. Die vom Landkreis am 27. April 1990 erteilte Baugenehmigung ist mit der Nebenbestimmung versehen, dass das Gebäude abzubrechen ist, wenn die Nutzung als Musterhaus aufgegeben wird.

3

Nachdem der Beklagte (das Finanzamt - FA -) das Grundstück auf den 1. Januar 1990 als unbebautes Grundstück bewertet und den Einheitswert auf 19.700,00 DM festgestellt hatte, nahm er auf den 1. Januar 1991 eine Art- und Wertfortschreibung vor. Durch Einheitswertbescheid vom 24. Juni 1992 bewertete er das Grundstück als Geschäftsgrundstück und stellte den Einheitswert im Sachwertverfahren auf 47.600,00 DM fest. Den Grundsteuermessbetrag setzte er durch Bescheid vom selben Tag auf 166,60 DM fest.

4

Bei der Feststellung des Einheitswerts auf den 1. Januar 1991 hatte das FA irrtümlich nur eines der beiden Musterhäuser erfasst. Nachdem es diesen Fehler entdeckt hatte, nahm es durch Einheitswertbescheid vom 20. Februar 1996 eine fehlerberichtigende Wertfortschreibung vor und stellte den Einheitswert - wiederum im Sachwertverfahren - auf 73.300,00 DM fest. Den Grundsteuermessbetrag setzte es durch Bescheid vom selben Tage auf 256,55 DM fest. Wegen der Ermittlung des Einheitswerts wird auf Seite 2 des Einheitswertbescheids (Bl. 23 der Einheitswertakte 1996 zu Az. ...) Bezug genommen.

5

Den gegen diese Bescheide eingelegten Einspruch, mit dem die Klägerin geltend machte, dass die Musterhäuser keine Gebäude, sondern Betriebsvorrichtungen seien, und mit dem sie sich außerdem gegen die dem Einheitswertbescheid zugrunde gelegte Lebensdauer der Gebäude von 100 Jahren wandte, wies das FA durch Einspruchsbescheid vom 25. November 1997 als unbegründet zurück. Es vertrat die Ansicht, dass das Grundstück zu Recht als bebautes Grundstück bewertet worden sei, weil es sich bei den darauf errichteten Musterhäusern um Gebäude handele. Abweichend von der dem Einheitswertbescheid zugrunde liegenden Annahme sei die Lebensdauer des Gebäudes nach § 86 des Bewertungsgesetzes (BewG) i.V.m. Abschnitt 41 der Richtlinien für die Bewertung des Grundvermögens (BewRGr) statt mit 100 zwar nur mit 70 Jahren anzusetzen. Dies führe aber nicht zu einer niedrigeren Einheitswertfeststellung, weil die Gebäude erst nach dem Bewertungsstichtag 1. Januar 1964 errichtet worden seien und eine Wertminderung wegen Alters daher nicht in Betracht komme.

6

Mit der am 29. Dezember 1997 - einem Montag - erhobenen Klage macht die Klägerin weiterhin geltend, dass die Musterhäuser nicht als Gebäude, sondern als Betriebsvorrichtungen anzusehen seien, weil sie nur für vorübergehende Ausstellungszwecke errichtet worden seien und nach Erfüllung dieses Zwecks wieder abgerissen werden müssten. Erfahrungsgemäß ende die Nutzung eines Musterhauses nach etwa zehn Jahren, weil sich innerhalb eines solchen Zeitraums die Marktgegebenheiten derart veränderten, dass alte Musterhäuser durch Neubauten ersetzt werden müssten. Eine anderweitige Verwendung des Abbruchmaterials sei ausgeschlossen. Im Streitfall sei am 10. Februar 2003 beim Landkreis eine Abbruchgenehmigung beantragt worden.

7

Die Klägerin beantragt,

den Einheitswertbescheid (Wertfortschreibung) und den Grundsteuermessbescheid auf den 1. Januar 1996 vom 20. Februar 1996 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 25. November 1997 aufzuheben.

8

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Er hält an seiner Auffassung fest, dass die Musterhäuser als Gebäude und nicht als Betriebsvorrichtungen anzusehen seien. Alle Merkmale des Gebäudebegriffs seien erfüllt. Zu welchem Zweck ein Gebäude errichtet werde, sei für die Abgrenzung zu einer Betriebsvorrichtung nicht entscheidend. Die Tatsache, dass beide Häuser in einem Musterhauszentrum lägen und baurechtlich nur als Musterhäuser genutzt werden dürften, rechtfertige ebenso wenig einen Abschlag vom Einheitswert wie der Umstand, dass die Klägerin inzwischen eine Abbruchgenehmigung beantragt habe. Letzteres beruhe ausschließlich auf subjektiven Gründen und auf ihrer freien Willensentscheidung. Dass Fertighausfirmen ihre Musterhäuser von Zeit zu Zeit durch neue Haustypen ersetzten, könne einer Abbruchverpflichtung bewertungsrechtlich nicht gleichgestellt werden.

Entscheidungsgründe

10

Die Klage ist begründet. Die Voraussetzungen für die von dem FA vorgenommene Wertfortschreibung auf den 1. Januar 1996 liegen nicht vor.

11

Gemäß § 22 Abs. 1 Nr. 1 BewG in der für den Streitzeitpunkt maßgebenden Fassung wird der Einheitswert beim Grundbesitz neu festgestellt, wenn der nach § 30 BewG abgerundete Wert, der sich für den Beginn eines Kalenderjahrs ergibt, vom Einheitswert des letzten Feststellungszeitpunkts nach oben um mehr als den zehnten Teil, mindestens aber um 5.000 Deutsche Mark, abweicht. Diese Wertfortschreibungsgrenze wird im Streitfall nicht erreicht.

12

1.

Entgegen der von der Klägerin vertretenen Auffassung hat das FA allerdings dem Grunde nach zu Recht den Wert des streitigen Musterhauses in die Ermittlung des Einheitswerts auf den 1. Januar 1996 einbezogen. Der Wert des - aufgrund der Artfeststellung in dem bestandskräftigen Einheitswertbescheid auf den 1. Januar 1991 als Geschäftsgrundstück bewerteten - Grundstücks der Klägerin ist gemäß § 76 Abs. 3 Nr. 2 BewG im Sachwertverfahren zu ermitteln, weil dafür weder eine Jahresrohmiete ermittelt noch die übliche Miete nach § 79 Abs. 2 BewG geschätzt werden kann.

13

Bei Anwendung des Sachwertverfahrens fließt in die Ermittlung des Grundstückswerts neben dem Bodenwert und dem Wert der Außenanlagen auch der Gebäudewert ein (§ 83 Satz 1 BewG). Als Gebäude im bewertungsrechtlichen Sinne ist jedes Bauwerk anzusehen, das Menschen oder Sachen durch räumliche Umschließung Schutz gegen Witterungseinflüsse gewährt, den Aufenthalt von Menschen gestattet, fest mit dem Grund und Boden verbunden, von einiger Beständigkeit und ausreichend standfest ist (BFH, Urteil vom 13. Januar 1969 III 17/65, BFHE 96, 57 [BFH 13.06.1969 - III 17/65], BStBl. II 1969, 517; vom 18. März 1987 II R 222/84, BFHE 150, 62, BStBl. II 1987, 551; vom 21. Januar 1988 IV R 116/86, BFHE 152, 458, BStBl. II 1988, 628). Diese Voraussetzungen sind im Fall der von der Klägerin auf dem Grundstück errichteten Musterhäuser erfüllt. Ihre Eigenschaft als Gebäude schließt es begrifflich aus, sie - wie es die Klägerin für richtig hält - als Betriebsvorrichtungen zu qualifizieren (BFH, Urteil vom 25. März 1977 III R 5/75, BFHE 122, 150, BStBl. II 1977, 594; vom 9. Dezember 1998 II R 1/96, HFR 1999, 530, BFH/NV 1999, 909).

14

2.

Der Gebäudewert, den das FA der Wertfortschreibung auf den 1. Januar 1996 zugrunde gelegt hat, ist jedoch zu hoch.

15

Die Ermittlung des gemäß § 83 Satz 1 BewG anzusetzenden Gebäudewerts ist auf der Grundlage des sich nach § 85 Satz 1 und 2 BewG ergebenden Gebäudenormalherstellungswerts vorzunehmen. Dieser ist ggf. um Abschläge mit Rücksicht auf das Alter des Gebäudes im Hauptfeststellungszeitpunkt (§ 86 BewG) und auf etwa vorhandene bauliche Mängel und Schäden (§ 87 BewG) zu mindern (§ 85 Satz 3 BewG). Den sich hiernach ergebenden Gebäudesachwert der beiden Fertighäuser hat das FA in dem angefochtenen Bescheid mit 69.160,00 DM ermittelt. Einwendungen hiergegen hat die Klägerin nicht erhoben. Rechtsfehler sind insoweit nach Aktenlage auch nicht erkennbar.

16

Entgegen der dem angefochtenen Bescheid und der Einspruchsentscheidung zugrunde liegenden Auffassung des FA ist der Gebäudesachwert im Streitfall aber gemäß § 85 Satz 4 i.V.m. § 88 Abs. 1 BewG zu ermäßigen. Nach diesen Vorschriften kann der Gebäudesachwert in besonderen Fällen ermäßigt oder erhöht werden, wenn Umstände tatsächlicher Art vorliegen, die bei seiner Ermittlung nicht berücksichtigt worden sind.

17

Eine Ermäßigung kann insbesondere in Betracht kommen, wenn Gebäude wegen wirtschaftlicher Überalterung in ihrem Wert gemindert sind (§ 88 Abs. 2 BewG). Dies ist der Fall, wenn die tatsächliche Nutzungsdauer eines Gebäudes aus objektiven, wirtschaftlich zwingenden Gründen gegenüber der gewöhnlichen technischen Lebensdauer verkürzt ist (BFH, Urteil vom 11. März 1977 III R 11/75, BFHE 123, 360, BStBl. II 1978, 3; vom 27. April 1978 III R 6/77, BFHE 125, 290, BStBl. II 1978, 523). Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn nach der bis zum Feststellungszeitpunkt eingetretenen Entwicklung mit einiger Sicherheit angenommen werden kann, dass der Zeitraum der tatsächlichen Verwendung des Gebäudes gegenüber der gewöhnlichen Lebensdauer für jeden Eigentümer verkürzt und damit zu rechnen ist, dass das Gebäude aus wirtschaftlich zwingenden objektiven Gründen vorzeitig abgebrochen oder dem Verfall preisgegeben wird (BFH, Urteil vom 23. Mai 1980 III R 117/78, BFHE 130, 547, BStBl. II 1980, 561; vom 3. Juli 1981 III R 108/78, BFHE 133, 443, BStBl. II 1981, 646).

18

So liegen die Dinge im Streitfall. Es steht zur Überzeugung des erkennenden Senats fest, dass nach den Verhältnissen im Feststellungszeitpunkt eine Nutzung der auf dem Grundstück der Klägerin errichteten Fertighäuser für die gewöhnliche Nutzungsdauer von 70 Jahren ausgeschlossen war. Wegen ihrer Lage in einem als Ausstellungsgelände für Musterhäuser ausgewiesenen Gewerbegebiet war eine - ihrer baulichen Gestaltung entsprechende - Nutzung zu Wohnzwecken aus bauplanungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen. Die Fertighäuser durften nur für Ausstellungszwecke genutzt und mussten binnen drei Monaten nach Aufgabe dieser Nutzung abgebrochen werden.

19

Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass ein Musterhaus, mit dem Kaufinteressenten angesprochen und für die Bestellung eines Fertighauses gewonnen werden sollen, diesen Zweck nur so lange erfüllen kann, wie es nach seiner baulichen Gestaltung und Ausstattung einen hinreichend engen Bezug zu der jeweils aktuellen Produktpalette des Ausstellers aufweist. Die sich daraus ergebende Notwendigkeit, das Musterhaus weit vor Ablauf seiner gewöhnlichen Nutzungsdauer abzubrechen und durch einen neuen Haustyp zu ersetzen, beruht deshalb nicht - wie das FA meint - auf subjektiven Gründen und einer freien Willensentscheidung der Klägerin, sondern ist eine zwingende Folge objektiver wirtschaftlicher Gegebenheiten, denen sich jeder Grundstückseigentümer beugen müsste, der das Grundstück zu dem einzig zugelassenen Zweck nutzen wollte.

20

Der Abschlag wegen wirtschaftlicher Überalterung kann auch nicht im Hinblick auf eine eventuelle Wiederverwertung des Abbruchmaterials unterbleiben. Denn nach dem vom FA zuletzt nicht mehr bestrittenen Sachvortrag der Klägerin besteht keine Möglichkeit, es zur Errichtung eines Fertighauses an anderer Stelle wiederzuverwenden.

21

Der Abschlag wegen wirtschaftlicher Überalterung bemisst sich bei Gebäuden, die nach dem 31. Dezember 1963 errichtet worden sind, nach dem Verhältnis des Alters des Gebäudes im Feststellungszeitpunkt zur verkürzten Lebensdauer (BFH, Urteil vom 3. Juli 1981 III R 53/79, BFHE 134, 41, BStBl. II 1981, 761). Die wirtschaftliche Restnutzungsdauer im Feststellungszeitpunkt ist zu schätzen (BFH, Urteil vom 11. März 1977, a.a.O.).

22

Im Streitfall schätzt der Senat die Gesamtlebensdauer der beiden Musterhäuser auf fünfzehn Jahre. Ausgehend von ihrem Alter im Feststellungszeitpunkt (sechs Jahre) ergibt sich hieraus ein Abschlag auf den Gebäudesachwert von 6/15 = 40 v.H.

23

3.

Der Einheitswert auf den 1. Januar 1996 ist danach wie folgt zu ermitteln:

Bodenwert wie bisher 19.716,00 DM
Gebäudesachwert
Musterhaus 1 38.360,00 DM
Musterhaus 2 30.800,00 DM
Summe 69.160,00 DM
Abschlag gemäß § 88 Abs. 2 BewG
(40 v.H. von 69.160,00 DM) ./. 27.664,00 DM
Summe der Gebäudewerte 41.496,00 DM
Wert der Außenanlagen (wie bisher) 2.766,00 DM
Ausgangswert 63.978,00 DM
Wertzahl 80 %
Grundstückswert (Wertzahl x Ausgangswert)51.182,00 DM
24

Der sich daraus nach Abrundung auf volle hundert Deutsche Mark (§ 30 Nr. 1 BewG) ergebende Einheitswert von 51.100,00 DM weicht nur um 3.400,00 DM von dem auf den 1. Januar 1991 festgestellten Einheitswert von 47.700,00 DM ab, so dass die in § 22 Abs. 1 Nr. 1 BewG festgelegte Wertfortschreibungsgrenze von mindestens 5.000,00 DM nicht erreicht wird.

25

4.

Der auf den 1. Januar 1996 ergangene Einheitswert- und Grundsteuermessbescheid sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung sind daher aufzuheben (§ 100 Abs.1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10 und 711 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 151 Abs. 1 und 3 FGO.