Landgericht Hildesheim
Beschl. v. 18.12.2006, Az.: 23 StVK 566/06

Angeklagter; Anordnung; Anstaltsleiter; Anweisung; Aufsichtsbehörde; Befugnis; Begründung; Beurteilungsspielraum; Bewährungsversager; Delegation; Deliktsfrequenz; Ermessenserwägung; Ermächtigung; Fesselung; Feststellung; Feststellungsinteresse; Fluchtgefahr; Formular; Fußfesselung; Gefangener; Gerichtstermin; Handfesselung; Justizbediensteter; Rechtswidrigkeit; Verurteilung; Verwaltungsakt; Vollzugsabteilungsleitung; Vollzugsbehörde; Vollzugsplan; Vorführung; Wiederholungsgefahr; Zustimmung; Übertragung

Bibliographie

Gericht
LG Hildesheim
Datum
18.12.2006
Aktenzeichen
23 StVK 566/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 53383
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Wegen ihres einscheidenden Charakters kann ein Gefangener auch eine schon vollzogene Fesselungsmaßnahme durch die Strafvollstreckungskammer überprüfen lassen (Anschluß OLG Celle, Nds. Rpfl. 1991, 279).

2. Die in die Kompetenz des Anstaltsleiters fallendende Kompetenz zur Anordnung einer Fesselung kann auch durch eine generelle Anordnung auf einen anderen Justizbediensteten delegiert werden. Die zu dieser Delegation erforderliche Zustimmung der Aufsichtsbehörde kann abstrakt und vorab erteilt werden.

3. Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Fesselung der Hände eines Gefangenen bei der Vorführung als Angeklagter angeordnet wird, wenn dieser Gefangene im Vollzugsplan als fluchtgefährdet eingestuft wurde und darüberhinaus mit einem emotional aufbrausenden Verhalten im Falle seiner Verurteilung zu rechnen ist.

4. Wird die Fesselung in einem Formular angeordnet, das den ausführenden Vollzugsbediensteten ausgehändigt wird, müssen der Fesselungsanordnung zugrunde liegende Ermessenserwägungen auf dem Formular nicht ausgeführt werden; das Formular ist eine behördeninterne Anweisung an die ausführenden Bediensteten und kein schriftlicher Verwaltungsakt gegenüber dem betroffenen Gefangenen.

Tenor:

1. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der Beteiligten werden dem Antragssteller auferlegt.

3. Der Streitwert wird auf 200 € festgesetzt

Gründe

1

I. Der Antragssteller hat in der Justizvollzugsanstalt S. eine langjährige Gesamtfreiheitsstrafe wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls und weiterer Delikte zu verbüßen.

2

Im - vom Antragssteller im Wesentlichen vergebens angefochtenen - aktuellen Vollzugsplan wird er dem geschlossenen Vollzug zugewiesen und dazu ausgeführt, daß gegen ihn unter anderem spreche, daß er erheblich - seit Jahrzehnten - vorbestraft sei, der Bundeszentralregisterauszug enthalte 19 Eintragungen unter anderem wegen Diebstahl, Körperverletzung und Hehlerei. Er habe Chancen zur Bewährung nicht für sich zu nutzen gewußt, so daß Bewährungen widerrufen worden seien. Es sei ferner eine hohe Rückfallgeschwindigkeit festzustellen und auch wiederholte Inhaftierungen hätten ihn unbeeindruckt gelassen. Zur Frage der „Eignung für Vollzugslockerungen“ wird unter Verweis auf die vorgenannten Ausführungen zur Vollzugsform mangels hinreichendem Ausschluß von Flucht- und Mißbrauchsgefahr eine entsprechende Eignung, auch für Ausführungen, verneint.

3

Aufgrund Vorführungsersuchens des für die Justizvollzugsanstalt S. zuständigen Amtsgerichts führte die Antragsgegnerin den Antragssteller zur Verhandlung über den von dem Antragssteller eingelegten Einspruch gegen einen Strafbefehl, mit dem ihm die Beleidigung eines Justizvollzugsbediensteten zur Last gelegt worden war, vor. Das Amtsgericht verurteilte ihn an diesem Tage zu einer Geldstrafe.

4

Auf einem als Ausführungsbogen bezeichneten Formular verfügte die Vollzugsabteilungsleiterin V. am 17. August 2006 unter anderem, daß bei der Ausführung zum Amtsgericht 2 Bedienstete einzusetzen seien, dem Antragssteller Handfessel nebst Bauchgurt anzulegen sei. Eine Begründung enthält diese Anordnung nicht.

5

V. ist am Tage nach der Eröffnung der Justizvollzugsanstalt S. zur Vollzugsabteilungsleiterin bestellt worden; in ihrer Dienstpostenbeschreibung ist ausgeführt, daß ihr zur selbständigen Erledigung unter anderem die Aufgaben nach NAV Nr. 4 Abschnitt III, Nr. 1, Nr. 2 zu § 156 StVollzG übertragen werden.

6

Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung beanstandet der Antragssteller die „nicht verhältnismäßige“ und dem vorrangigen Resozialisierungsgebot widersprechende Fesselung bei seiner vorgenannten Ausführung. Er befürchtet, auch künftig als Spielzeug für absurde Fesselungen benutzt werden; er werde in einem gefesselten Zustand nirgendwo hingehen. Zudem hätte statt der Vollzugsabteilungsleiterin der Anstaltsleiter die Fesselung anordnen müssen.

7

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung auf Kosten des Antragsstellers zurückzuweisen.

8

Die Anordnung der Vollzugsabteilungsleiterin sei rechtmäßig gewesen. Wie schon im aktuellen Vollzugsplan ausgeführt worden sei, bestehe bei dem Antragssteller erhöhte Fluchtgefahr. Neben dem noch hohen Strafrest und seinem mehrfachen Bewährungsversagen sei zu berücksichtigen gewesen, daß der Antragssteller als Angeklagter bei Gericht zu erscheinen hatte und er bei der zu erwartenden Urteilseröffnung emotional negativ hätte reagieren können.

9

Die Antragsgegnerin habe auch das ihr zustehende Ermessen ausgeübt, namentlich geprüft, ob die Fesselung an den Händen als verhältnismäßig anzusehen sei, was mangels hinreichender, weniger einschneidender, Maßnahmen zu bejahen gewesen sei, um der dargestellten erhöhten Fluchtgefahr zu begegnen. Der Antragssteller sei bewußt an den Händen gefesselt worden, weil es sich hierbei - im Vergleich zu Fußfessel oder Laufkette - um die am wenigsten beeinträchtigende Art der Fesselung handele.

II.

10

1. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig.

11

Bei Anträgen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer erledigten Maßnahme, hier der Fesselung bei der Ausführung zum Amtsgericht ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zulässig, wenn der Antragssteller ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit hat (§ 115 Abs. 3 StVollzG).

12

Dieses Feststellungsinteresse ist zu bejahen, ohne daß es auf die von dem Antragssteller - unwidersprochen - behauptete Wiederholungsgefahr ankäme.

13

Die Fesselung ist eine besondere Sicherungsmaßnahme, die von Gefangenen regelmäßig als besonders einscheinend empfunden wird und daher diskriminierenden Charakter hat. Ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer vollzogenen Fesselung ist daher gegeben (vgl. OLG Celle, Nds. Rpfl. 1991, 279).

14

2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.

15

Die - durchgeführte - Anordnung der Antragsgegnerin, den Antragssteller in Handfesseln nebst Bauchgurt dem Amtsgericht vorzuführen, war rechtmäßig, so daß die beantragte Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Maßnahme nicht zu treffen war.

16

a) Die Anordnung war nicht aus formellen Gründen rechtswidrig, weil sie von der Vollzugsabteilungsleiterin V. und nicht von dem Anstaltsleiter selbst getroffen wurde.

17

Es ist zwar richtig, daß die Fesselung als besondere Sicherungsmaßnahme durch den Anstaltsleiter anzuordnen ist (§§ 88, 91, Abs. 1 StVollzG). Diese Regelung schließt jedoch die Übertragung von Befugnissen des Anstaltsleiters auf andere Bedienstete der Vollzugsanstalt nicht aus (§ 156 Abs. 3 StVollzG).

18

Eine solche Übertragung ist - hinsichtlich der Anordnung der Fesselung für Ausführungen - auf die Vollzugsabteilungsleiterin V. erfolgt. Sie ist zur Abteilungsleiterin unter Bezugnahme auf eine Dienstpostenbeschreibung ernannt worden, in der ausdrücklich entsprechende Anordnungen zur selbständigen Erledigung, also zur Erledigung in eigener Verantwortung im Auftrag des Anstaltsleiters, übertragen wurden.

19

Auch die zur wirksamen Übertragung dieser Befugnis erforderliche Zustimmung der Aufsichtsbehörde der Antragsgegnerin liegt vor. Dem Wortlaut des § 156 Abs. 3 StVollzG ist nicht zu entnehmen, daß die Aufsichtsbehörde jeder einzelnen Übertragung gesondert zustimmen müßte. Sie kann die Zustimmung auch vorab und generell für bestimmte Befugnisse des Anstaltsleiters erteilen.

20

Dies ist durch die generelle Regelung in Nr. 4 Abschnitt III, Nr. 2k zu § 156 StVollzG der von der Aufsichtsbehörde, dem Niedersächsischen Ministerium der Justiz, erlassenen Nds. Ausführungsvorschriften zum Strafvollzug (NAV) erfolgt. Nach dieser Regelung entscheidet die Vollzugsabteilungsleitung - im Auftrag des Anstaltsleiters - im Einzelfall über die Fesselung bei einer Ausführung. Damit hat die Aufsichtsbehörde eine generelle Zustimmung (Ermächtigung) dafür erteilt, daß der Anstaltsleiter durch die Bestellung von Mitarbeitern zu Vollzugsabteilungsleitern diesen die Befugnis zur Entscheidung über die Fesselung bei Ausführungen übertragen darf.

21

b) Auch in der Sache ist die Anordnung der Fesselung zur Ausführung nicht zu beanstanden.

22

Die besondere Sicherungsmaßnahme der Fesselung eines Gefangenen bei einer Ausführung ist zulässig, wenn bei dem Gefangenen erhöhte Fluchtgefahr besteht (§ 88 Abs. 4 StVollzG).

23

Bei der - tatsächlichen - Frage des Vorliegens erhöhter Fluchtgefahr steht der Vollzugsbehörde - ähnlich wie bei der Frage der Eignung eines Gefangenen für Vollzugslockerungen - ein Beurteilungsspielraum zu, den die Kammer nur eingeschränkt überprüfen kann (vgl. OLG Celle, NStZ 1985, 480; OLG Frankfurt, NStE Nr. 2 zu § 88 StVollzG; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl., § 88 StVollzG, Rn. 2).

24

Gerichtlich überprüfbar ist jedoch, ob die Behörde von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ihrer Entscheidung den richtigen Begriff der erhöhten Fluchtgefahr zugrunde gelegt und dabei ihren Beurteilungsspielraum eingehalten hat. Es müssen substantiierte Anhalte für diese Fluchtgefahr vorliegen, sie kann nur auf ein aktuell-gegenwärtiges Verhalten des Gefangenen gestützt werden (OLG Frankfurt, a. a. O; Calliess/Müller-Dietz, a. a. O.).

25

Unter dieser Prämisse ist die die angegriffene Anordnung der Vollzugsabteilungsleiterin und die deswegen erfolgte Fesselung des Antragsstellers nicht zu beanstanden. Die Anordnung knüpft nach dem plausiblen und von dem Antragssteller in tatsächlicher Hinsicht nicht angegriffenen Vorbringen der Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren ersichtlich an die umfassenden Erwägungen der Antragsgegnerin in dem - zeitnah beschlossenen - Vollzugsplan für den Antragssteller an.

26

In diesem Vollzugsplan hat die Antragsgegnerin Fluchtgefahr bei dem seit Jahrzehnten mit Körperverletzungs- und Eigentumsdelikten mit hoher Deliktsfrequenz in Erscheinung tretenden Antragssteller, der mehrfacher Bewährungsversager ist, zutreffend auf die Höhe des von ihm noch zu verbüßenden Strafrests gestützt und ihn sogar für Ausführungen als ungeeignet angesehen.

27

Um darüberhinaus erhöhte Fluchtgefahr im Sinne des § 88 Abs. 4 StVollzG anzunehmen, genügt es, daß die Antragsgegnerin den Grund der Vorführung des Antragsstellers berücksichtigt hat (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 01.06.1994, 1 Vollz (Ws) 114/94, Calliess/Müller-Dietz, a. a. O., Rn. 3). Der Antragssteller sollte als Angeklagter zu einem Gerichtstermin vorgeführt werden, bei dem zu besorgen war, daß er im Falle der Verurteilung emotional negativ (aufbrausend, aggressiv) reagieren könnte.

28

Diese von der Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren dargestellte Besorgnis hat der Antragssteller nicht in Abrede gestellt. Sie erscheint der Kammer schon deswegen naheliegend, weil der Antragssteller in dem Verfahren 23 StVK 456/06, in dem er den für ihn aufgestellten Vollzugsplan im Wesentlichen ohne Erfolg angefochten hat, die bloße Erwähnung des - seiner Verurteilung am Vorführungstage vorhergegangenen - Strafbefehls im Vollzugsplan erheblich bekämpft hat und dazu teilweise absurde Vorstellungen offenbart hat, etwa, daß eine solche Mitteilung nach § 353d StGB verboten sei.

29

Wie aus dem Wortlaut des § 88 Abs. 4 StVollzG deutlich wird, ist der Anstaltsleiter beziehungsweise die in seinem Auftrag handelnde Abteilungsleiterin bei dem Vorliegen erhöhter Fluchtgefahr aber nicht verpflichtet, die Fesselung anzuordnen. Die Fesselung ist unter diesen Umständen zulässig, so daß der Antragsgegnerin diesbezüglich Ermessen eröffnet ist, das die Kammer nur beschränkt nachprüfen darf (§ 115 Abs. 5 StVollzG).

30

Nach dem Vorbringen im gerichtlichen Verfahren hat die Antragsgegnerin die Fesselung des Antragsstellers zur Abwendung seiner Flucht für unerläßlich gehalten. Dies ist angesichts der gerichtsbekannt immer problematischen Situation einer Ausführung mit wenigen Begleitpersonen, noch dazu in einem älteren, nicht sonderlich sicheren, Gebäude des zuständigen Amtsgerichts mit einem Sitzungssaal im Erdgeschoß problemlos nachvollziehbar und naheliegend und daher eine - noch - hinreichende Ermessensausübung.

31

Daß das von der Vollzugsabteilungsleiterin bei ihrer Anordnung ausgefüllte Formular keine Begründung enthält, ist hierbei ohne Bedeutung; es reicht, daß sie - wie im gerichtlichen Verfahren unwidersprochen vorgetragen - das ihr im Auftrag des Anstaltsleiters eröffnete Ermessen überhaupt ausgeübt hat.

32

Das Formular stellt keinen schriftlich dem Antragssteller bekannt gegebenen Verwaltungsakt dar, bei dem eine solche Begründung angezeigt gewesen wäre. Zu einer anfechtbaren Maßnahme wird die Anordnung erst durch ihre Umsetzung durch die die Ausführung vornehmenden Vollzugsbeamten; für diese Beamten ist das Formular gedacht. Es ist mithin eine behördeninterne Anordnung, die für die ausführenden Beamten bindend ist und ihnen gegenüber nicht begründet werden muß.

33

Die Antragsgegnerin hat - wie schon aus dem für die Anordnung verwendeten Formular deutlich wird - die Regelung des § 90 S. 1 StVollzG beachtet, wonach Gefangene in der Regel nur an den Händen oder an den Füßen zu fesseln sind. Sie hat nur die Handfesselung angeordnet, weil sie diese für den Antragssteller als weniger belastend angesehen hat, als die Fesselung an den Füßen.

34

Diese Einschätzung teilt die Kammer; die Fußfesselung wirkt wegen der damit verbundenen erheblichen Bewegungseinschränkung beim Gehen (nur Trippelschritte möglich) deutlich belastender und diskriminierender als die Fesselung der Hände.