Landgericht Hildesheim
Beschl. v. 04.12.2006, Az.: 23 StVK 460/06
Bibliographie
- Gericht
- LG Hildesheim
- Datum
- 04.12.2006
- Aktenzeichen
- 23 StVK 460/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 43269
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGHILDE:2006:1204.23STVK460.06.0A
Fundstelle
- StV 2008, 36-37 (Volltext mit amtl. LS)
Tenor:
- 1.
Die für eine Entlassung zum Halbstrafentermin erforderlichen besonderen Umstände sind nicht im vollen Umfang erforderlich, wenn die Entlassung zu einem Termin zwischen dem Halbstrafen- und dem Zweidritteltermin erfolgt.
- 2.
Besondere Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB können bei einem älteren Sexualstraftäter vorliegen, der aus gesundheitlichen Gründen sozialtherapeutisch nicht mehr behandelt werden kann und daher ohne vorzeitige Entlassung in den Normalvollzug zurückverlegt werden müßte.
- 3.
Das erfolgreiche Absolvieren des sozialtherapeutischen Behandlungsprogramms für Sexualstraftäter (BPS) ist bei einem dort behandelten Sexualstraftäter keine zwingende Voraussetzung für eine vorzeitige Entlassung aus der Strafhaft.
Tatbestand:
Aus den Gründen:I.
Der siebenundsechzigjährige Verurteilte verbüßt gegenwärtig die gegen ihn verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren wegen schweren sexuellen Mißbrauchs in 48 Fällen. Nach den Feststellungen der Jugendschutzkammer begann der nicht vorbestrafte, früh verrentete, Verurteilte in einer tiefgreifenden Lebenskrise vor nunmehr über neun Jahren, sich einem Mädchen sexuell zu nähern. Zunächst handelte es sich hierbei um das Berühren im Brust- und Genitalbereich, später kam es fast wöchentlich zum vaginalen Geschlechtsverkehr mit der zur Tatzeit noch nicht Vierzehnjährigen, die bis heute unter den Taten erheblich zu leiden hat. Zwe Imal verging sich der - geständige - Verurteilte Anfang 2004 noch an einem anderen Mädchen.
Der Verurteilte hat bereits Schmerzsgeldbeträge an die beiden Opfer seiner Taten gezahlt. Er hat Lungenkrebs, der nur noch durch eine palliative Chemotherapie behandelt wird. Es besteht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, daß er innerhalb von zwei bis drei Jahren verstirbt.
Seit anderthalb Jahren befindet er sich in einer sozialtherapeutischen Anstalt; er hat inzwischen über die Hälfte der Gesamtfreiheitsstrafe verbüßt. Zwei Drittel würden in knapp sieben Monaten verbüßt sein. Der Verurteilte ist wegen der fortschreitenden Krebserkrankung aus dem sozialtherpeutischen Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter (BPS) ausgeschieden. Im Falle der Nichtentlassung ist imHinblick aufdie gerichtsbekannt angespannte Belegungssituation der sozialtherapeutischen Anstalten in Niedersachsen seine Zurückverlegung in den Regelvollzug zu erwarten (§ 9 Abs. 1 S. 2 StVollzG). Dem Verurteilten werden inzwischen Vollzugslockerungen inForm von unbegleiteten, zweckbestimmten, Ausgängen gewährt. Ein Mißbrauch dieser Lockerungen ist nicht bekannt geworden.
Gründe
II.
Die Vollstreckung des Strafrestes von mehr als einem Drittel und inzwischen weniger als der Hälfte kann gem. § 57 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 StGB zu dem in der Beschlußformel genannten Termin zur Bewährung ausgesetzt werden.
1. Die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB liegen vor. Der Verurteilte hat die Aussetzung des Strafrests beantragt und die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit stehen seiner vorzeitigen Entlassung nicht entgegen.
Der Verurteilte ist - noch dazu in einem hohen Lebensalter - erstmals strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er hat sich problemlos in den - geschlossenen - Strafvollzug eingefügt; die ihm gewährten Vollzugslockerungen, inzwischen auch unbegleitete Ausgänge, sind beanstandungsfrei verlaufen. Er hat einen gesicherten sozialen und wirtschaftlichen Empfangsraum (bestehende Wohnung, Kontakt zur Tochter, Rentenansprüche). Nach der Einschätzung des Gutachters und auch nach dem persönlichen Eindruck, den er bei der Kammer hinterlassen hat, ist der Verurteilte durch das Verfahren und den bisherigen Vollzug erheblich beeindruckt worden.
Das Vollzugsziel, den Verurteilten zu einem Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu befähigen (§ 2 StVollzG) erscheint mihtin schon erreicht zu sein, so daß die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit seiner vorzeitigen Entlassung nicht entgegen stehen. Obwohl § 9 Abs. 1 S. 1 StVollzG einen Rechtsanspruch von Sexualstraftätern auf Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt normiert, kann hieraus nicht im Umkehrschluß abgeleitet werden, daß ein Sexualstraftäter erst dann aus Strafhaft entlassen werden könnte, wenn er das in der Sozialtherapie angebotene Behandlungsprogramm (BPS) vollständig absolviert hat. Zwar wird regelmäßig der erfolgreiche Abschluß des BPS erforderlich sein, um das Erreichen des Vollzugsziels annehmen zu können. Bei dem Verurteilten ist dies aber auch aufgrund seines Alters und seiner gesundheitlichen Situation auch schon jetzt bejahbar. Darüberhinaus haben der Gefährlichkeitsgutachter und die - von einer Psychologin geleitete und damit besonders fachkundige - sozialtherapeutische Anstalt deutlich gemacht, daß sich die dem Verurteilten für sein künftiges Leben zu stellende positive Prognose durch weitere Behandlungsmaßnahmen im Strafvollzug nicht nennenswert verbessern läßt.
Die Kammer verkennt bei dieser Be Urteilung nicht, daß der Verurteilte über mehrere Jahre zielgerichtet Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern begangen hat. Es darf aber nicht übersehen werden, daß ausweislich der Feststellungen der erkennenden Jugendkammer, den sachverständigen Ausführungen im Erkenntnis- und im Vollstreckungsverfahren bei dem Verurteilten keine (fixierte) Pädophilie angenommen werden kann. Es erscheint auch der beschließenden Kammer plausibel und nahe liegend, daß der Verurteilte die Taten nur auf dem Hintergrund einer erheblichen Lebenskrise begangen hat und - wie der Gefährlichkeitsgutachter in seiner mündlichen Anhörung überzeugend dargelegt hat - jedenfalls in den nächsten fünf bis zehn Jahren und damit in einem seine Lebenserwartung übersteigenden Zeitraum keine erneuten Straftaten begehen wird.
2. Es kann offen bleiben, ob zum Zeitpunkt des Halbstrafentermins am 29. August 2006 besondere Umstände i.S.d. § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB vorlagen, die eine Aussetzung der Restfreiheitsstrafe bereits zu diesem konkreten Zeitpunkt gerechtfertigt hätten. Insbesondere hätte die Schwere der von dem Verurteilten begangenen Taten gegen seine Entlassung schon zu diesem Termin sprechen können.
Bis zu dem Termin, den die Kammer nunmehr als Entlassungstermin festgesetzt hat, sind seit dem Halbstrafentermin fast weitere vier Monate verstrichen und der Verurteilte hätte nur noch gut sechs Monate bis zum sogenannten Zweidritteltermin zu verbüßen, zu dem seine Entlassung nach § 57 Abs. 1 StGB möglich wäre. Deswegen bedarf es nach Auffassung der Kammer (vgl. Beschluß v. 23.02.2004, 27 StVK 199/03, s.a. Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl. § 57 StGB, Rn. 29 a m.w.N.) nicht mehr im vollen Umfang der Anforderungen, die § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB für eine Entlassung zum Halbstrafentermin normiert.
In dem gegenwärtig noch erforderlichen Umfang liegen besondere Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB vor, wie aus einer Gesamtwürdigung der Tat, der Persönlichkeit des Verurteilten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs zu schließen ist:
Zwar hat der Verurteilte, wie bereits ausgeführt, zielgerichtet über mehrere Jahre erhebliche Straftaten zum Nachteil von zwei jungen Mädchen begangen, die wohl bis heute und möglicherweise ihr ganzes Leben unter diesen Taten zu leiden haben. Daß der Verurteilte in einer Lebenskrise im vorgerückten Lebensalter erstmals straffällig wurde und sich auch in der Hauptverhandlung geständig zeigte, würde daher allein bei Weitem nicht ausreichen, um seine Entlassung vor dem Zweidritteltermin bejahen zu können. Das gilt umso mehr, als bei dem Verurteilten nach den Ausführungen der sozialtherpeutischen Anstalt und dem persönlichen Eindruck der Kammer zwar das verbale Bekenntnis zu seinen Taten und wohl auch eine gewisse Einsicht in das von ihm begangene Unrecht angenommen werden kann aber Opferempathie und Reue nicht festgestellt werden kann. Auch die weiteren Umstände einer gesicherten Existenz sowie seine Beeindruckung durch das Verfahren und den Strafvollzug reichten Hierfür noch nicht aus, wobei zugunsten des Verurteilten zu berücksichtigen ist, daß es ihm wohl in Freiheit etwas eher gelingen dürfte, die verbliebenen Schmerzensgeldansprücheseiner Opfer zeitnah zu erfüllen. Die Kammer erteilt dem Verurteilten daher auch eine entsprechende Auflage (§§ 57 Abs. 3, 56 b Abs. 2 Nr. 1 StGB), die - mit geringem Gewicht - zugunsten des Verurteilten in die gebotene Gesamtwürdigung einzubeziehen ist (§ 56 b Abs. 1 S. 1 StGB).
Den Ausschlag zugunsten der vorzeitigen Entlassung des Verurteilten gibt seine gesundheitliche Situation. Die Kammer ist nach den Ausführungen von sozialtherapeutischer Anstalt und Gefährlichkeitsgutachter und aufgrund ihres persönlichen Eindrucks von dem Verurteilten davon überzeugt, daß sein Leben schon jetzt entscheidend von seiner Lungenkrebserkrankung bestimmt ist, was auch den gegen ihn sprechenden Umstand der fehlenden Opferempathie und Reue relativiert. Zudem kann diese Krankheit nur noch palliativ behandelt werden; der Verurteilte hat nur noch eine geringe Lebenserwartung Es erscheint letztlich angemessen, ihn schon jetzt in die Freiheit zu entlassen, um ihm einen eingermaßen verträglichen Lebensabend zu ermöglichen. Hierfür spricht auch der Umstand, daß andernfalls seine Rückverlegung aus der sozialtherapeutischen Anstalt in den Regelvollzug zu erwarten ist, weil seine weitere sozialtherapeutische Behandlung nicht mehr möglich ist. Dies erscheint der Kammer angesichts der dargestellten Gesamtsituation des Verurteilten nicht sinnvoll zu sein; dies käme einem reinen Verwahrvollzug gleich.