Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 13.05.2003, Az.: 2 B 29/03
Baueinstellung; bauordnungsrechtliche Duldung; baurechtswidrig; Duldung; formell illegal; Nutzungsuntersagung; ohne Baugenehmigung; Wohnhaus
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 13.05.2003
- Aktenzeichen
- 2 B 29/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48007
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 89 Abs 1 Nr 1 BauO ND
- § 89 Abs 1 Nr 5 BauO ND
Gründe
I. Der Antragsteller wendet sich gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Baueinstellungs- und Nutzungsuntersagungsverfügung.
Der Antragsteller ist Pächter des Flurstücks C. der Flur D. in der Gemarkung E. (F. Straße G.). Das Grundstück ist mit einem in zweiter Reihe bebauten Wohngebäude und mehreren Nebengebäuden bebaut. Das Wohnhaus soll in seiner Grundstruktur ca. 1910 errichtet worden sein. Baugenehmigungsvorgänge sind von den Beteiligten hierfür nicht vorgelegt worden. Die Erschließung erfolgt durch das Wegeflurstück H. zur F. Straße. Nach dem unwidersprochenen Vortrag des Antragstellers bewohnt er das Haus - zunächst zusammen mit seinem Vater - seit 1968. Im Januar 2000 trat er in den Pachtvertrag seines Vaters ein und übernahm Gebäude und Grundstück in eigene Verantwortung.
Im Sommer 1996 nahm die Antragsgegnerin Ermittlungen über nicht genehmigte Baumaßnahmen im Außenbereich der Gemarkung I. auf. In diesem Zusammenhang besichtigte sie auch das Grundstück des Antragstellers und dokumentierte seinen Zustand durch zahlreiche Fotos. Des Weiteren vermaß sie die dort vorhandenen Gebäude und stellte fest, dass auf dem Grundstück ein Wohnhaus, zwei Schuppen, ein Schuppenkomplex, eine Laube, ein gemauerter Grill sowie ein auf Dauer abgestellter Wohnwagen vorhanden seien. Mit Schreiben vom 1. August 1996 teilte sie dem Vater des Antragstellers mit, dass Baugenehmigungen für die aufgeführten baulichen Anlagen nicht vorliegen würden und es sich nach Aktenlage um illegale Bauvorhaben handeln würde. Dem Vater des Antragstellers wurde Gelegenheit gegeben, Baugenehmigungsunterlagen kurzfristig einzureichen. Dieses geschah nicht. Eine Reaktion der Antragsgegnerin erfolgte daraufhin nicht.
Im September 2002 setzte die Antragsgegnerin ihre Ermittlungen fort und führte am 6. Dezember 2002 und 10. Februar 2003 weitere Ortsbesichtigungen durch. Mit hier angefochtener Verfügung vom 11. März 2003 ordnete sie die sofortige Einstellung sämtlicher Bauarbeiten, die sofortige Nutzungsuntersagung sämtlicher baulicher Anlagen, die Versiegelung des Wohngebäudes zum 20. April 2003 sowie die Beseitigung sämtlicher baulicher Anlagen bis zum 31. März 2004 an. Gleichzeitig ordnete sie hinsichtlich der Einstellung der Bauarbeiten die sofortige Vollziehung an. Mit Bescheid vom 17. April 2003 ordnete sie nachträglich auch die sofortige Vollziehung der Nutzungsuntersagung sämtlicher baulicher Anlagen an.
Gegen die bauordnungsrechtliche Verfügung legte der Antragsteller Widerspruch ein und beantragte bei Gericht einstweiligen Rechtsschutz.
II. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat teilweise Erfolg. Die sofortige Vollziehung der angefochtenen bauordnungsrechtlichen Maßnahmen vom 11. März 2003 ist nur hinsichtlich der Baueinstellung im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit an der Wahrung der baurechtlichen Ordnung geboten.
Rechtsgrundlage der für sofort vollziehbar erklärten bauordnungsrechtlichen Maßnahmen in dem Bescheid vom 11. März 2003 ist § 89 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 1 und 5 NBauO. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde namentlich die Einstellung rechtswidriger Arbeiten verlangen und die Benutzung von baulichen Anlagen untersagen, insbesondere Wohnungen für unbewohnbar erklären, wenn bauliche Anlagen dem öffentlichen Baurecht widersprechen oder dies zu besorgen ist. Die Einstellung von Bauarbeiten und das Nutzungsverbot können bei genehmigungspflichtigen Vorhaben nach der ständigen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts regelmäßig bereits dann angeordnet werden, wenn eine Baugenehmigung nicht erteilt oder wenn das Vorhaben abweichend von der Baugenehmigung errichtet worden ist oder genutzt wird. Gleiches gilt, wenn ein früher einmal genehmigtes Vorhaben auf Grund von nicht genehmigten Umbau- und Erweiterungsmaßnahmen seine Identität verliert und es daher einer erneuten baurechtlichen Überprüfung bedarf, ob das – geänderte – Vorhaben mit den Vorschriften des öffentlichen Baurechts vereinbar ist (Große-Suchsdorf/ Lindorf/ Schmaltz/ Wiechert, Nds. Bauordnung, Komm., 7. Aufl. 2002, § 89 Rdn. 22 f)
Baugenehmigungen für die auf dem Grundstück des Antragstellers errichteten baulichen Anlagen liegen offensichtlich nicht vor. Weder sind sie in den bei der Antragsgegnerin enthaltenen Vorgängen, noch in den vom Landkreis Harburg der Antragsgegnerin 1988 übergebenen Vorgängen enthalten. Der Antragsteller hat ebenfalls keine Unterlagen vorgelegt, noch hat er welche über den Grundstückseigentümer vorlegen lassen. Letztlich bedarf diese Frage auch keiner abschließenden Entscheidung, weil nach den vorgelegten Fotos Überwiegendes dafür spricht, dass an dem Wohnhaus massive Veränderungen vorgenommen worden sind, die eine Identität des ursprünglich vorhandenen Gebäudes mit dem jetzt vorliegenden Gebäude haben entfallen lassen. Mithin ist bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur gebotenen summarischen Prüfung in jedem Fall von einer formellen Illegalität der baulichen Anlagen auszugehen, was für die Anordnung einer Nutzungsuntersagung regelmäßig ausreichend ist.
Die sofortige Vollziehung von Anordnungen, die wie die Baueinstellung und das Nutzungsverbot das Ergebnis der Hauptsache nicht vorwegnehmen, liegt in der Regel auch im besonderen öffentlichen Interesse. Denn nur auf diese Weise kann wirksam sichergestellt werden, dass das in der Niedersächsischen Bauordnung vorgeschriebene Baugenehmigungsverfahren eingehalten wird. Der Grundsatz, dass allein die formelle Baurechtswidrigkeit ausreicht, um die sofortige Vollziehung eines Nutzungsverbots zu rechtfertigen, gilt allerdings nicht ausnahmslos. In den Fällen, in denen eine bauliche Anlage offensichtlich genehmigungsfähig ist, verstößt bereits das sofortige Nutzungsverbot gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Auch die langfristige Duldung eines rechtswidrigen Zustandes kann unter besonderen Umständen die Anordnung der sofortigen Vollziehung ausschließen. Das gilt jedenfalls dann, wenn das Bauwerk der Bauordnungsbehörde seit längerem bekannt ist (Große-Suchsdorf/ Lindorf/ Schmaltz/ Wiechert § 89 Rdn. 93 f).
Im Gegensatz zur Auffassung des Antragstellers ist eine offensichtliche Genehmigungsfähigkeit des Wohnhauses und der weiteren baulichen Anlagen allerdings nicht gegeben. Die von dem Antragsteller behauptetet Lage der Gebäude im Innenbereich im Sinne des § 34 BauGB drängt sich nicht auf. Nach dem in den Verwaltungsvorgängen vorhandene Kartenmaterial drängt sich eher die Auffassung auf, dass es sich bei der Bebauung längs der F. Straße um einen - planungsrechtlich regelmäßig unerwünschten - Siedlungssplitter im Außenbereich handelt, an dem das klägerische Grundstück des Antragstellers noch nicht einmal teilnimmt. Es ist von dieser Bebauung deutlich abgesetzt in zweiter Reihe errichtet worden. Selbst wenn, wie der Antragsteller vorträgt, mittlerweile eine weitere Bebauung hinzugekommen sein sollte, ist angesichts dieser Lage in zweiter Reihe jedenfalls nicht von einer offensichtlichen Genehmigungsfähigkeit auszugehen.
Ob das weitere Bewohnen des Gebäudes mit einer Gesundheitsgefährdung verbunden ist, was die sofortige Vollziehung der Nutzungsuntersagung rechtfertigen würde, lässt sich an hand der vorliegenden Bauakten nicht eindeutig beantworten. Nach den in der Bauakte vorhandenen Fotografien erscheinen Grundstück und Gebäude überaus stark verwahrlost, doch wird eine Einsturzgefahr, die mit einer unmittelbaren Lebensgefährdung einherginge, auch von der Antragsgegnerin nicht behauptet. Eine Beheizung des Gebäudes scheint gesichert zu sein, wenn auch nicht über die bisher genutzte zentrale Anlage. Eine Klärgrube ist unstrittig vorhanden. Dass sie möglicherweise im letzten Jahr nicht geleert worden ist, rechtfertigt nicht die Annahme eines fehlenden Versorgungsanschlusses, sondern ggf. entsprechende Auflagen, die Grube ordnungsgemäß zu entleeren.
Nach Aktenlage spricht allerdings vieles dafür, dass der Antragsgegnerin und dem Landkreis Harburg - als bis 1988 zuständiger Bauordnungsbehörde - das Vorhaben seit langem bekannt ist und dass sie die Nutzung des Gebäudes als Wohnhaus über Jahrzehnte geduldet haben. Dieser Umstand rechtfertig vorliegend die Annahme einer Ausnahme von der sofortigen Vollziehung der ansonsten gebotenen Nutzungsuntersagung. Wie der Kammer aus anderen Verfahren hinlänglich bekannt ist und wie die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 22. April 2003 auch einräumt, sind in ihrem Zuständigkeitsbereich zahlreiche illegale Bauten vorhanden. Dagegen ist sie zunächst nicht eingeschritten. Die Bestandsaufnahme von 1996 - also vor gut sieben Jahren -, bei der auch das Grundstück des Antragstellers aufgenommen worden ist, hat zunächst zu keinerlei Maßnahmen geführt. Wie die seiner Zeit aufgenommenen Fotos zeigen, hat bereits zu dieser Zeit durchaus Anlass bestanden, jedenfalls bauordnungsrechtliche Ermittlungen einzuleiten, zumal der Vater des Antragsteller der Aufforderung nicht nachgekommen ist, „möglichst kurzfristig“ Genehmigungsunterlagen einzureichen. Bei dieser über Jahrzehnte währenden Duldung der baulichen Anlagen fehlt es am besonderen öffentlichen Interesse, mit sofortiger Wirkung ein weiteres Wohnen auf dem Grundstück zu untersagen. Der zeitliche Ablauf rechtfertigt die von der Kammer vorgenommene Interessenabwägung, jedenfalls für die Dauer des Hauptsacheverfahrens dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers Vorrang vor dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin einzuräumen.
Die in der angefochtenen Verfügung weiterhin mit Sofortvollzug versehene Anordnung, „sämtliche Bauarbeiten“ sofort einzustellen, begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Nach den vorliegenden Verwaltungsvorgängen spricht Überwiegendes dafür, dass die angefochtenen bauordnungsrechtlichen Maßnahmen im Hauptsacheverfahren Bestand haben werden, insbes. auch die Beseitigungsverfügung. Neben der formellen Illegalität erscheint das Vorhaben auch materiell illegal. Es ist weder von der planungsrechtlichen noch von der bauordnungsrechtlichen Seite her ersichtlich, dass eine nachträgliche Genehmigung in Betracht kommen könnte. Ausweislich der in den Ortsterminen aufgenommenen Fotos ist von dem ursprünglich einmal vorhandenen Wohnhaus nur noch wenig erkennbar und die vorgenommenen Bauarbeiten lassen nicht erkennen, wie daraus einmal ein genehmigungsfähiges Wohnhaus entstehen sollte. Angesichts dieser Situation sind dem Antragsteller - auch in seinem eigenen Kosteninteresse - alle weiteren Baumaßnahmen zu untersagen. Ausgenommen sind hiervor nur die Erhaltungsmaßnahmen, die ihm ein Wohnen während des Rechtsmittelverfahrens ermöglichen. Sollte es zu einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren kommen, wird die Kammer um eine frühzeitige Terminierung verbunden mit einer Ortsbesichtigung bemüht sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.