Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 06.05.2024, Az.: 10 WF 35/24

Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe (VKH) im Gewaltschutzverfahren

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
06.05.2024
Aktenzeichen
10 WF 35/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 15552
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2024:0506.10WF35.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Hannover - 28.02.2024 - AZ: 607 F 609/24

Fundstellen

  • FamRB 2024, 340-341
  • FamRZ 2024, 1629
  • FuR 2024, 549
  • MDR 2024, 907-908
  • NJW-RR 2024, 941-943
  • NZFam 2024, 813

Amtlicher Leitsatz

In Verfahren nach § 57 S. 2 Nr. 1 bis 5 FamFG, in dem die Hauptsacheentscheidung nur anfechtbar ist, wenn das Gericht aufgrund mündlicher Erörterung entschieden hat und in denen eine mündliche Erörterung (noch) nicht stattgefunden hat, darf die Statthaftigkeit der VKH-Beschwerde nicht von einer bereits durchgeführten mündlichen Verhandlung in der Hauptsache abhängig gemacht werden. Schildern beide Seiten eines Gewaltschutzverfahrens den maßgeblichen Vorfall aus ihrer Sicht und unter Darlegung der Begleitumstände hinreichend substantiiert und machen die eigene Darstellung durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung glaubhaft, besteht eine hinreichende Erfolgsaussicht der vom Antragsteller begehrten Rechtsverfolgung. Die Frage, ob der von dem Antragsteller geschilderte Geschehensablauf mit einer im einstweiligen Anordnungsverfahren zur richterlichen Überzeugungsbildung ausreichenden überwiegenden Wahrscheinlichkeit feststellbar ist, muss dem einstweiligen Anordnungsverfahren selbst, insbesondere auch einem aus der Anhörung der Beteiligten und der Vernehmung ggf. sistierter Zeugen gewonnenen Eindruck vorbehalten bleiben. Insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt, in denen es oft keine Zeugen gibt, würde eine VKH-Versagung mit dem bloßen Hinweis auf den widerstreitenden schriftlichen Sachvortrag der Beteiligten eine erhebliche Erschwerung effektiven Rechtsschutzes für Gewaltopfer bedeuten, was vor dem Hintergrund des Gesetzeszwecks und auch der sog. Istanbul-Konvention nicht hinnehmbar erscheint.

In der Familiensache
M. K.,
Antragsteller und Beschwerdeführer,
Verfahrensbevollmächtigte:
Rechtsanwältin ...
gegen
C.T.,
Antragsgegner,
Verfahrensbevollmächtigte:
Anwaltsbüro ...
hat der 10. Zivilsenat - Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht V., den Richter am Oberlandesgericht H. und die Richterin am Oberlandesgericht M. am 6. Mai 2024 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Hannover vom 28. Februar 2024 geändert.

Dem Antragsteller wird für die erste Instanz Verfahrenskostenhilfe (...) bewilligt.

(...)

Gründe

I.

Zu entscheiden ist über die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe (VKH).

Der Antragsteller hat erstinstanzlich Ende Januar 2024 den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz beantragt und dafür um VKH nachgesucht. Er hat vorgetragen und an Eides Statt schriftlich versichert, er habe am 16. Januar 2024 mit seinen beiden Kindern von 16.30 Uhr bis 18.30 Uhr Umgang gehabt und sie anschließend zu seiner getrenntlebenden Frau zurückgebracht. Der Freund seiner Frau, der Antragsgegner, sei auf ihn zugekommen und habe wörtlich zu ihm gesagt: "M, ich rate Dir, freundlicher zu ihr zu sein. Du könntest ein freier Mann sein. Du zeigst, dass Du gar kein Interesse/Bock auf Deine Kinder hast. Du benötigst gar keinen Anwalt. Ich kann jederzeit in K sein und Dich über den Zaun schlagen!"

Der Antragsgegner hat die Äußerung "Ich kann jederzeit in K sein und Dich über den Zaun schlagen!" bestritten. Er habe den Antragsteller lediglich aufgefordert, seine Frau freundlicher zu behandeln und sie nicht zu bedrohen. Mit keiner Silbe habe er irgendeine Bedrohung gegenüber dem Antragsteller ausgesprochen. Der Antragsgegner hat seine Schilderung des Vorfalls ebenfalls schriftlich an Eides Statt versichert und zudem eine eidesstattliche Versicherung der Frau des Antragstellers vorgelegt. Diese hat insoweit angegeben, sie habe das Gespräch durch das geöffnete Wohnzimmerfenster gehört. Von Schlägen sei zu keinem Zeitpunkt die Rede gewesen.

Der Antragsteller hat angekündigt, zu einem etwaigen Verhandlungstermin die Zeugin J sistieren zu wollen. Hierbei handele es sich um seine Lebensgefährtin, die am 17. Januar 2024 gegen 13.30 Uhr von seiner Ehefrau angerufen worden sei. In diesem Telefonat habe seine Frau mitgeteilt, von dem Vorfall am 16. Januar 2024 nichts gehört und gesehen zu haben, weil sie sich um die Kinder gekümmert habe.

Das Amtsgericht hat den VKH-Antrag des Antragstellers durch Beschluss vom 28. Februar 2024, auf den Bezug genommen wird, wegen Mutwilligkeit und fehlender Erfolgsaussicht zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Amtsgericht im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller müsse die von ihm vorgetragene Bedrohung glaubhaft machen, so dass das Gericht davon ausgehen könne, dass eine Voraussetzung des § 1 GewSchG erfüllt sei. Vorliegend stünden sich die eidesstattlichen Versicherungen konträr gegenüber. In einem solchen Fall würde das Gericht keine einstweilige Anordnung erlassen, da eine Bedrohungslage nicht erwiesen sei.

Gegen diese Entscheidung hat der Antragsteller form- und fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt, mit der er sein erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt.

Das Amtsgericht hat der Beschwerde durch Beschluss vom 12. März 2024 nicht abgeholfen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen.

II.

Die sofortige Beschwerde des Antragstellers hat nach Maßgabe des Tenors Erfolg.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie gem. §§ 76 Abs. 2 FamFG, 567 bis 572, 127 Abs. 2 bis 4 ZPO statthaft.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. BGH FamRZ 2005, 790f; 2011, 1138ff) ist allerdings ein Rechtsmittel im Verfahrenskostenhilfeverfahren wegen Versagung mangels Erfolgsaussicht über den Wortlaut des § 127 Abs. 2 ZPO hinaus auch dann nicht statthaft, wenn in der Hauptsache ein Rechtsmittel aus anderen Gründen als der nicht erreichten Wertgrenze nicht statthaft ist. Dies gilt insbesondere in Verfahren der einstweiligen Anordnung.

Vorliegend handelt es sich um ein Verfahren nach § 57 S. 2 Nr. 1 bis 5 FamFG, in dem die Hauptsacheentscheidung nur anfechtbar ist, wenn das Gericht aufgrund mündlicher Erörterung entschieden hat. Eine mündliche Erörterung hat hier (noch) nicht stattgefunden.

Ob in dieser Verfahrenslage eine auf fehlende hinreichende Erfolgsaussicht gestützte ablehnende VKH-Entscheidung anfechtbar ist, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beantwortet (vgl. zum Streitstand ausführlich OLG Frankfurt FamRZ 2014, 676f; MDR 2019, 695f). Der Senat ist insoweit der Auffassung, dass die Statthaftigkeit der VKH-Beschwerde nicht von einer bereits durchgeführten mündlichen Verhandlung in der Hauptsache abhängig gemacht werden darf (vgl. OLG Frankfurt a. a. O.; OLG Hamburg FamRZ 2021, 296ff; OLG Brandenburg FamRZ 2023, 71f; OLG Hamm FamRZ 2023, 1894f; Zöller/Feskorn, ZPO, 35. Aufl., § 57 FamFG Rn 5 m. w. N.). Dies gilt jedenfalls, sofern - wie hier - der/die Beschwerdeführer/in eine Entscheidung in der Hauptsache noch erstrebt und eine solche auf Betreiben des/der Beschwerdeführers/-führerin in die nächste Instanz gelangen kann (vgl. Senatsbeschluss vom 3. November 2010, FamRZ 2011, 918f). Denn die Einschränkung des Rechtsmittels in VKH-Verfahren dient vor allem dem Zweck zu vermeiden, dass eine im VKH-Verfahren ergangene Entscheidung des Rechtsmittelgerichts der - nicht anfechtbaren - Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts in der Hauptsache widerspricht oder diese präjudiziert. Diese Gefahr besteht indes nur bei Verfahren, die in der Hauptsache nicht in die zweite Instanz gelangen können. Sachentscheidungen, welche die im Katalog des § 57 Satz 2 FamFG genannten Verfahrensgegenstände betreffen, sind hingegen anfechtbar, wenn auch erst nach von den Beteiligten erzwingbarer mündlicher Verhandlung. Für die Frage, ob die Gefahr widerstreitender Entscheidungen besteht, müssen die Instanzen vollständig in den Blick genommen werden. Ist die Rechtsmittelinstanz in der Sache grundsätzlich eröffnet, besteht kein Grund, den Instanzenzug im Rahmen des VKH-Verfahrens zu verkürzen. Vielmehr erfordert das aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot der weitgehenden Gleichbehandlung von Bemittelten und Unbemittelten, in einer solchen Konstellation den Instanzenzug für die VKH dem grundsätzlich eröffneten Instanzenzug für die Hauptsache gleichzustellen. Andernfalls könnte die/der bedürftige Beteiligte nicht in gleicher Weise wie ein/e nicht bedürftige/r Beteiligte/r ihre/seine Interessen wahrnehmen, sondern müsste die erzwungene mündliche Verhandlung zunächst ohne die erforderlichen finanziellen Mittel und damit ggf. ohne anwaltliche Vertretung bestreiten (vgl. OLG Frankfurt a. a. O.).

Die Beschwerde des Antragstellers ist auch begründet, insbesondere hat sein VKH-Antrag hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Die Erfolgsaussicht einer beabsichtigten Rechtsverfolgung ist hinreichend, wenn nach vorläufiger summarischer Prüfung der Rechtsstandpunkt des/der Antragstellers/-stellerin zumindest objektiv vertretbar erscheint und für den Verfahrenserfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (vgl. jeweils m. w. N. Zöller/Schultzky, ZPO, 35. Aufl., § 114 Rnn 19ff; Johannsen/Henrich/Althammer/Markwardt). Insoweit findet im VKH-Prüfungsverfahren eine Beweisaufnahme nicht statt. VKH ist vielmehr in der Regel bereits dann zu bewilligen, wenn der Erfolg der Rechtsverfolgung vom Ausgang einer Beweisaufnahme abhängt und eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt. Eine sog. Beweisantizipation ist nur dann zulässig, wenn die Gesamtwürdigung aller schon feststehenden Umstände und Indizien eine positive Beweiswürdigung zugunsten des/der Hilfsbedürftigen als nahezu ausgeschlossen erscheinen lässt und wenn ein/e vernünftige/r, wirtschaftlich denkende/r Beteiligte/r, welche/r die Kosten selbst bezahlen müsste, wegen des absehbaren Misserfolgs der Beweisaufnahme von einer Verfahrensführung absehen würde (vgl. Zöller/Schultzky, a. a. O. m. w. N.).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Vortrag des Antragstellers, der Antragsgegner habe ihm gegenüber geäußert, er - der Antragsgegner - könne jederzeit in K sein und ihn - den Antragsteller - über den Zaun schlagen, erfüllt ohne weiteres den Tatbestand des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GewSchG, wobei in Anbetracht regelmäßig stattfindender Umgangskontakte zwischen dem Antragsteller und seinen Kindern von einer Wiederholungsgefahr auszugegangen werden kann. Dies gilt umso mehr, als die bereits erfolgte Drohung weitere indiziert (vgl. BeckOGK/Schulte-Bunert, 1.4.2024, GewSchG § 1 Rn 30; MüKoBGB/Duden, 9. Aufl. 2022, GewSchG § 1 Rn 28). Der Antragsteller hat den Vorfall vom 16. Januar 2024 auch hinreichend substantiiert unter Darlegung der Begleitumstände geschildert und seine Darstellung durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemacht. Soweit der Antragsgegner die vorgenannte Äußerung bestreitet und seinerseits eidesstattliche Versicherungen vorgelegt hat, ändert dies nichts an der hinreichenden Erfolgsaussicht der vom Antragsteller begehrten Rechtsverfolgung. Vielmehr bleibt die Frage, ob der von dem Antragsteller geschilderte Geschehensablauf mit einer im einstweiligen Anordnungsverfahren zur richterlichen Überzeugungsbildung ausreichenden überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. BGHZ 156, 139ff; Sternal/Giers, FamFG, 21. Aufl. § 51 Rn 6) feststellbar ist, dem einstweiligen Anordnungsverfahren selbst vorbehalten. Insoweit wird nämlich der Anhörung der Beteiligten und der Vernehmung ggf. sistierter Zeuginnen voraussichtlich entscheidende Bedeutung zukommen (vgl. OLG Karlsruhe FamRZ 2016, 1193ff). Die Ablehnung von VKH im jetzigen Stadium würde dagegen auf eine unzulässige Beweisantizipation hinauslaufen. Insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt, in denen es oft keine Zeugen/Zeuginnen gibt, würde eine VKH-Versagung mit dem bloßen Hinweis auf den widerstreitenden schriftlichen Sachvortrag der Beteiligten eine erhebliche Erschwerung effektiven Rechtsschutzes für Gewaltopfer bedeuten, was vor dem Hintergrund des Gesetzeszwecks und auch der sog. Istanbul-Konvention nicht hinnehmbar erscheint.

(...).