Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 07.08.2008, Az.: 1 B 45/08

deutsche Ehefrau; Einbehalt des Passes; Ernsthaftigkeit des Familiennachzugs; Familie; Familienangehöriger; Familiennachzug; Familiennachzugsvisum; rechtmäßiger Aufenthalt; Scheinehe; Schiebebeschluss; Trennung; Verdacht

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
07.08.2008
Aktenzeichen
1 B 45/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 54974
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Widersprüche des Antragstellers gegen die Ausreiseaufforderung nebst Festsetzung einer Ausreisefrist unter Einbehalt des Passes (Grenzübertrittsbescheinigung) des Antragsgegners vom 29. Juli 2008 wird vorläufig - bis zu einer Entscheidung der Kammer - angeordnet.

Sämtliche Vollzugsmaßnahmen - aller Art - haben damit zu unterbleiben bzw. sind rückgängig zu machen. Die festgelegte Ausreisefrist ist obsolet, eine Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht entfällt (§ 50 Abs. 3 AufenthG).

Eine Kostenentscheidung bleibt dem Kammerbeschluss vorbehalten.

Gründe

1

1. Der Antragsteller wendet sich gegen eine Ausreiseaufforderung des Antragsgegners vom 29. Juli 2008, mit der eine Ausreisefrist (bis zum 17. August 2008) festgelegt, sein Pass mit gültigem Visum einbehalten, eine Grenzübertrittsbescheinigung ausgestellt sowie schließlich aufenthaltsbeendende Maßnahmen angekündigt wurden.

2

Er reiste am 19. Juni 2008 mit einem Familiennachzugsvisum zu seiner deutschen Ehefrau B. P. in das Bundesgebiet ein, die ihm die Flugkosten in sein Heimatland überwiesen und ihm so die Einreise nach Deutschland ermöglicht hatte. Am 23. Juni sprach er gemeinsam mit seiner Ehefrau bei der Antragsgegnerin vor. Ende Juni erklärte seine Ehefrau gegenüber dem Antragsgegner schriftlich, es sei eine Trennung erfolgt. Aufgrund der deshalb aufgetauchten Zweifel an der "Ernsthaftigkeit des Familiennachzugs" forderte der Antragsgegner den Antragsteller mit Verfügung vom 29. Juli 2008 gem. § 50 Abs. 1 AufenthG auf, das Bundesgebiet bis spätestens zum 17. August 2008 (Ablauf der Gültigkeitsdauer des Visums) zu verlassen und bis zum 8. August 2008 ein Flugticket für den Rückflug vorzuweisen. Der Antragsteller wurde zugleich aufgefordert, bis zum 8. August 2008 beim Antragsgegner vorzusprechen: Andernfalls würden umgehend aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet. Ihm wurde mitgeteilt, dass sein einbehaltener Reisepass an die entsprechende Bundespolizei-Dienststelle übersandt werde, sobald die Flugdaten nachgewiesen worden seien.

3

2. Der bei der Kammer am 6. August 2008 eingegangene Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat einstweilen in der Weise Erfolg, wie das dem Tenor zu entnehmen ist.

4

1. Diese Rechtsschutzgewährung ist im Interesse der verfassungsrechtlich gebotenen Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) erforderlich, um die Rechtsstellung des Antragstellers als Ehepartner einer deutschen Staatsangehörigen zu wahren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin einen Verhaltens-, Organisations-, Verfügungs- und Durchsetzungsvorsprung hat, der durch einen entsprechend ausgestalteten effektiven Rechtsschutz der 3. Gewalt stets effektiv auszugleichen ist (vgl. dazu die Rechtsprechung des BVerfG, so BVerfGE 88, 185 = NVwZ 1993, 767 und BVerfG - 1. Kammer des 2. Senats - NVwZ-Beilage 2/1996 A 1; OVG Sachsen-Anhalt, InfAuslR 2005, S. 421). Zur Aufrechterhaltung der Entscheidungsfähigkeit ist es daher geboten, einen sog. "Schiebebeschluss" zu erlassen, um eine gerichtliche Überprüfung der Sache möglich zu machen.

5

Die Zuständigkeit der Kammer geht auf § 52 Nr. 3 S. 1 VwGO zurück, da der Verwaltungsakt des Antragsgegners im Gerichtsbezirk des VG Lüneburg erlassen wurde.

6

Gegen die Statthaftigkeit des Antrags bestehen keine Bedenken. Diese setzt voraus, dass der angefochtene Verwaltungsakt vom 29. Juli 2008 eine den Antragsteller selbstständig belastende und vollziehungsfähige Regelung enthält. Das ist bei der an den Antragsteller gerichteten Ausreiseaufforderung unter Bestimmung einer Ausreisefrist nebst Einbehalt des Passes (unter Ausstellung einer Grenzübertrittsbescheinigung) zweifellos der Fall.

7

Bei der im Verfahren des § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung und unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Unterlagen ergibt sich, dass die Erfolgsaussichten der Widersprüche des Antragstellers (vgl. u.a. Schreiben vom 7. August 2008 an den Antragsgegner) zumindest offen sind und dass sein Interesse an einem einstweiligen Verbleib im Bundesgebiet ein behördliches Vollzugsinteresse derzeit überwiegt.

8

Im Rahmen der summarischen Prüfung der Sachlage im Eilverfahren ist es bei Abwägung der widerstreitenden Interessen nach Aktenlage zur Annahme offener Erfolgsaussichten hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis - in der Form eines Visums (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) - nach den §§ 27 Abs. 1, 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG geltend machen kann bzw. derzeit hat, was für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs hinsichtlich der Ausreiseaufforderung nebst Fristsetzung und der Androhung "aufenthaltsbeendender Maßnahmen" genügt. Die Umstände des hier zu beurteilenden - noch nicht gänzlich aufgeklärten - Sachverhalts lassen die beim Antragsgegner aufgetauchten Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Familiennachzugs in den Hintergrund treten.

9

Die vom Antragsgegner festgelegte Ausreisefrist - unter Einbehalt des Passes und Ausstellung einer Grenzübertrittsbescheinigung - dürfte im Zusammenhang mit der ihm zugleich abverlangten Vorlage eines Flugtickets bis zum 8. August 2008 unverhältnismäßig, nämlich zu kurz sein, da der Antragsteller derzeit nicht ausreisepflichtig ist, vielmehr sein Aufenthaltstitel in der Form eines Visums (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) noch bis zum 17. August 2008 gültig ist und z.Z. noch ungeklärt ist, ob er ggf. gem. § 81 Abs. 3 u. Abs. 4 AufenthG auch noch danach aufenthaltsberechtigt ist. Zudem erscheint für den Regelfall der Ausreisepflicht nach rechtmäßigem Aufenthalt - wie hier - allgemein eine Frist von wenigstens einem Monat erforderlich. Umstände, die hier eine Abkürzung der Frist gebieten könnten, sind nicht ersichtlich. Diese Monatsfrist ist dem Antragsteller als ausländischem Ehegatten einer Deutschen nicht gewährt worden.

10

Dem Antragsteller ist im Übrigen gem. § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG als ausländischem Ehegatten einer Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn die deutsche Ehefrau ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Davon ist hier auszugehen. Da seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes v. 19.8.2007 (BGBl. I S. 1970) erhöhte Anforderungen an die behördlichen Nachweise und Darlegungen zum Verdacht einer Scheinehe zu stellen sind (vgl. § 27 Abs. 1 a Nr. 1 AufenthG), nämlich in Übereinstimmung mit Art. 16 Abs. 2 lit. b der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betr. das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. EU L 251/12) eindeutig "feststehen" muss, dass die Ehe ausschließlich zu dem Zweck geschlossen oder begründet wurde, dem Nachziehenden die Einreise ins und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen, kann im vorliegenden Fall der vom Antragsgegner lediglich geäußerten bloßen "Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Familiennachzugs" (vgl. Bescheid vom 29.7.2008) nicht vom erforderlichen Nachweis der ausschließlichen Zweckbestimmung seitens des Antragsgegners ausgegangen werden. Der Antragsgegner ist seiner diesbezüglichen Nachweispflicht bislang nicht nachgekommen. Die schriftliche Erklärung der Ehefrau vom 30.6.2008 liegt dem Gericht nicht vor. Dem Fax des Antragstellers vom 7. August 2008 ist zu entnehmen, dass sich die Eheleute zwar wohl "in einer Krise" befinden, sie jedoch miteinander freundlich Kontakt aufgenommen haben und demnächst ein gemeinsames Treffen in L. geplant ist. Die tieferen Gründe für die angebliche Trennung sind unklar. Dass es in allen Ehen einmal Streitigkeiten und Zerwürfnisse gibt, ist jedoch bekannt und noch kein Grund, den gesetzlich missbilligten Zweck mit seiner geforderten Ausschließlichkeit als feststehend anzunehmen. Vgl. dazu VG Sigmaringen, Beschl. v. 12.1.2008 - 6 K 2712/07 -:

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"Anders als etwa bei sog. „Zwangsehen“ (§ 27 Abs. 1 a Nr. 2 n.F.: „tatsächliche Anhaltspunkte“) fordert der Gesetzgeber nunmehr für den speziellen Anwendungsbereich der Scheinehen bewusst (vgl. BT-Ds. 16/5065, S. 170, re. Sp.) und trotz der im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich vorgetragenen „Warnungen“ in Bezug auf eine mit der Gesetzesänderung ggf. verbundene Verlagerung der Darlegungslasten (vgl. nur Dienelt, Sachverständigenanhörung des Innenausschusses vom 21.03.2007 - A-Drs. 16(4)209 H -, S. 2 f.), dass die missbilligte Zweckbestimmung der Eheschließung „feststeht". Auch wenn die Gesetzesänderung die in § 27 Abs. 1 AufenthG niedergelegten Grundsätze unverändert gelassen hat, spricht nunmehr vieles dafür, dass für den speziell geregelten Fall der Scheinehen abschließend die Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 a AufenthG vorliegen müssen (..)."

12

Beim derzeitigen Sachstand ist unklar und nicht mit hinreichender Sicherheit erkennbar, dass die Ehe des Antragstellers ausschließlich zu dem gesetzlich missbilligten Zweck geschlossen wurde, zumal seine deutsche Ehefrau ihm die Reise nach Deutschland bezahlt und ihn dazu ermuntert hat, zu ihr in das Bundesgebiet zu kommen. Die Eheleute haben nach dem Fax vom 7. August 2008 inzwischen freundlich miteinander Kontakt aufgenommen und ein Treffen in L. vereinbart. Abgesehen davon, dass dem Antragsgegner ein tiefer gehendes Eindringen in die ehelichen Beziehungen und Lebensverhältnisse durch Art. 6 GG versagt ist, hat er heute auch die Vielgestaltigkeit der Ausgestaltung ehelicher Lebensverhältnisse zu akzeptieren. Vgl. VG Sigmaringen, Beschl. v. 12.1.2008 - 6 K 271/07 -:

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"Darüber hinaus hat der Staat - wie dargelegt - die Vielgestaltigkeit der Ausgestaltung von (ehelichen) Lebensverhältnissen zu respektieren und zu akzeptieren. Eine Ehe geht des aus Art. 6 GG folgenden Schutzes weder durch das Fehlen einer Geschlechtsgemeinschaft verlustig noch durch den Umstand, dass in der Ehewohnung (auch) Dritte wohnen. Die rechtliche Ausgestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft in § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB verzichtet angesichts der heutigen Auffächerung früher wie selbstverständlich befolgter Ehemodelle darauf, fest umrissene Eheinhalte vorzuschreiben oder auch nur leitbildartig zu empfehlen, vielmehr bestimmen die Ehegatten für ihre Ehe den Inhalt des der Ausfüllung bedürftigen Begriffs der Lebensgemeinschaft weitgehend selbst (vgl. dazu Hahn, in: Bamberger/Roth, BeckOK BGB, § 1353, Rn 2).

14

Unter diesen Umständen hat der Antragsgegner auch dafür zu sorgen, dass sich der Antragsteller, der mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist, innerhalb der EU mit seiner Ehefrau frei bewegen und unbehelligt aufhalten kann: Nach dem Urteil des EuGH v. 25.7.2008 - C -127/08 - ist EU-Bürgern in Anwendung der Richtlinie über die Freizügigkeit der Unionsbürger (Nr. 2004/38 EG) nämlich das Recht einzuräumen, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates frei zu bewegen und aufzuhalten. Das gelte nach dem gen. Urteil des EuGH auch für Familienangehörige eines EU-Bürgers, u.zw. unabhängig davon, wann oder wo die Ehe geschlossen wurde oder wie der betreffende Drittstaatsangehörige in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist ist. Unerheblich sei es, ob der Drittstaatsangehörige in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sei, bevor oder nachdem er Familienangehöriger des Unionsbürgers wurde. Die Richtlinie verlange auch nicht, dass bereits eine Familie gegründet worden sei.

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Da der Antragsteller hier mit einem gültigen Visum gem. §§ 4 Abs. 1 Nr. 1, 6 AufenthG eingereist ist, hat ihm der Antragsgegner ohne Verstoß gegen die gen. Richtlinie 2004/38 EG derzeit zu ermöglichen, sich mit seiner deutschen Ehefrau im deutschen Hoheitsgebiet frei zu bewegen.

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Eine Kostenentscheidung bleibt dem Kammerbeschluss vorbehalten.

17

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.