Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 18.08.2008, Az.: 1 A 78/07

Rechtskraft, entgegenstehende; Restitutionsklage; Berufung; Rechtshängigkeit; Rechtsmittelverfahren; Prozesserklärung; Rücknahme; Prozessgericht; Asylantrag; Flüchtlingsanerkennung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
18.08.2008
Aktenzeichen
1 A 78/07
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 45911
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2008:0818.1A78.07.0A

Tatbestand

1

Die Beklagte will die Unwirksamkeit des Urteils vom 15. Januar 2007 - 1 A 115/04 - mit der Begründung erreichen, der Kläger habe seine Klage auch hinsichtlich der Anerkennung als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) wirksam zurückgezogen.

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Sie übersandte dem erkennenden Gericht mit Schreiben vom 18. Januar 2007 die Kopie einer "Verzichtserklärung" des Klägers vom 16. Januar 2007 "zur Kenntnis", nachdem tags zuvor in der mündlichen Verhandlung dessen Bevollmächtigter ebenfalls eine Klagerücknahme zu Protokoll erklärt hatte, u.zw. ausdrücklich beschränkt auf eine Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a Abs. 1 GG). Hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung war die Klage aufrechterhalten worden. Insoweit war ein stattgebendes Urteil der Kammer ergangen, der Beklagten am 22. Januar 2007 zugestellt. Mit Verfügung vom 22. Januar waren die Beteiligten sodann darauf hingewiesen worden, dass sich die Erklärungen vom 15. und 16. Januar 2007 wohl decken. Am 15. März 2007 beantragte die Beklagte, das ergangene Urteil für unwirksam zu erklären, da die Klage nach ihrer Auffassung insgesamt - auch hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung - durch die "Verzichtserklärung" zurückgenommen worden sei.

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Dieser aufrechterhaltene Antrag wurde unter dem Aktenzeichen 1 A 78/07 fortgeführt. Zu seiner Begründung trägt die Beklagte vor, der Kläger habe am 16. Januar sein gesamtes Asylbegehren beendet, um in den Genuss der Bleiberechtsregelung zu gelangen. Das werde durch § 13 Abs. 2 AsylVfG gestützt, da der Asylantrag stets auch die Feststellungen zu § 60 Abs. 1 AufenthG umfasse. Das Nds. OVG verfahre denn auch in der Berufungsinstanz so, dass das erstinstanzliche Urteil bei entsprechenden Erklärungen der Klägerinnen bzw. Kläger für unwirksam erklärt werde. Somit sei hier durch Beschluss - deklaratorisch - auszusprechen, dass das ergangene Urteil wegen der Rücknahme wirkungslos sei.

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Die Beklagte beantragt,

  1. das Urteil der Kammer vom 15. Januar 2007 (Az. 1 A 115/04) für wirkungslos zu erklären.

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Der Kläger tritt dem entgegen und beantragt sinngemäß,

  1. den Antrag zurückzuweisen.

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Er meint, seine "Verzichtserklärung" vom 16. Januar 2007, abgegeben nur einen Tag nach der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2007, in der nur der Asylantrag zurückgezogen worden sei, spreche ausdrücklich auch nur von dem "Asyl"-Antrag, so dass seiner Erklärung auch nicht etwa mehr zu entnehmen sei. Er habe eben das erklärt, was ihm aus der mündlichen Verhandlung vom Vortage bekannt gewesen sei.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Der Antrag der Beklagten bleibt ohne Erfolg.

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Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist allein die Frage, ob das Urteil der Kammer vom 15. Januar 2007 - 1 A 115/04 - noch nach Eintritt seiner Rechtskraft (§ 121 VwGO) für unwirksam erklärt werden kann. Das ist nicht der Fall.

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1. Ein rechtskräftig durch Urteil abgeschlossenes Verfahren kann nur nach den eng auszulegenden Vorschriften der ZPO wiederaufgenommen werden, § 153 VwGO iVm §§ 578 ff ZPO, also durch Nichtigkeitsklage oder durch Restitutionsklage. Die Voraussetzungen der gen. Bestimmungen liegen hier - abgesehen von ihrer Subsidiarität gegenüber Rechtsmitteln - nicht vor. Die Beklagte hätte ihr Begehren dadurch erreichen können, dass sie hinsichtlich des Urteils der Kammer - Einzelrichter - vom 15. Januar 2007 einen Antrag auf Zulassung der Berufung stellt. Das jedoch hat sie unterlassen. Ein Rechtsschutzbedürfnis für die gen. Klagen fehlt ihr damit.

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2. Auch eine Urteilsergänzung durch Teilurteil gem. § 120 VwGO ist von der Beklagten nicht fristgerecht, nämlich zwei Wochen nach Zustellung des Urteils (§ 120 Abs. 2 VwGO / zugestellt am 22. Jan. 2007), beantragt worden. Somit scheidet auch eine Urteilsergänzung aus. Denn eine Ergänzung von Amts wegen ist generell ausgeschlossen (Nds. OVG, NVwZ-RR 2002, 897).

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Das zulässige Rechtsmittel - Antrag auf Zulassung der Berufung - hat das beklagte Bundesamt hier aber nicht eingelegt. Daneben kommt eine Urteilsergänzung nicht in Betracht. Nach ungenutztem Ablauf der Rechtsbehelfsfrist erlischt die Rechtshängigkeit, so dass ein - ggf. auch fehlerhaftes - "Vollendurteil" in Rechtskraft erwächst (BVerwG, NVwZ 1994, 1116 [BVerwG 22.02.1994 - 9 B 510/93]; VGH München, Urt.v. 17.5.1993 - 24 B 88.30625 -). Vgl. insoweit auch BGH v. 5.2.2003 - IV ZR 149/02 -:

"Die Klägerin hätte einen solchen Fehler mit der Revision geltend machen können, die hier wegen der Höhe der nach altem Revisionsrecht allein maßgeblichen Beschwer zulässig gewesen wäre. Ungeachtet der Frage, ob die Voraussetzungen der Zulässigkeit des Rechtsmittels im Einzelfall gegeben sind, steht jedenfalls grundsätzlich der Weg in das Rechtsmittelverfahren offen, um das Übergehen der Einrede eines Leistungsverweigerungsrechts nach § 273 BGB geltend zu machen. Ist ein Rechtsmittel nicht zulässig, muß die beschwerte Partei dies hinnehmen. Eine planwidrige Lücke des Gesetzes, die über § 321 ZPO durch Analogie geschlossen werden könnte, liegt insoweit nicht vor. Es wäre im Gegenteil kaum verständlich, wenn für die Korrektur solcher Fehler neben dem Rechtsmittel und selbst bei dessen Unzulässigkeit die von anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen abhängige Urteilsergänzung zur Wahl stünde."

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3. Ein bereits ergangenes Urteil ist zudem (nur) dann für unwirksam zu erklären, wenn die entsprechende Klage durch eine Willenserklärung wirksam zurückgenommen wurde.

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Hieran fehlt es jedoch.

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Denn die Beklagte hat außerhalb des gerichtlichen Verfahrens von der zuständigen Ausländerbehörde unmittelbar die Kopie eines Schreibens vom 16. Januar 2007 "mit der Bitte um weitere Veranlassung" erhalten, der eine sog. "Verzichtserklärung" auf einem Vordruckformular beigefügt war, in der angeblich eine vollumfängliche Rücknahmeerklärung des anwaltlich vertretenen Klägers enthalten sein soll. Diese Kopien hat die Beklagte dem Gericht lediglich "zur Kenntnisnahme" zugesandt (Schr.v. 18.1.2007), ohne damit weitergehende Anträge oder Erklärungen zu verbinden. Hierzu sah sich die Beklagte auch in dem Moment noch nicht veranlasst, als ihr der Hinweis vom 22. Januar 2007 zuging, mit dem die Deckungsgleichheit der Erklärungen vom 15. und 16. Januar 2007 gerichtlich unterstrichen wurde, eine ausdrückliche Rücknahme - über den Antrag betr. Art. 16a GG hinaus - also in der sog. "Verzichtserklärung" vom 16. Jan. 2007 nicht gesehen wurde.

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Das Einreichen außergerichtlicher Erklärungen des Klägers durch die Beklagte stellt eine Prozesserklärung gerade des Klägers nicht dar. Denn die Rücknahme einer bei Gericht rechtshängigen Klage hat gegenüber dem Prozessgericht zu erfolgen, das heißt gegenüber dem Gericht, bei dem das Verfahren zum Zeitpunkt der Klagerücknahme anhängig ist ( NVwZ 1991, 60; VGH München, NVwZ-RR 2006, 735). Daran fehlt es hier.

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4. Hiervon abgesehen ist der Erklärungsgehalt der sog. "Verzichtserklärung" vom 16. Januar 2007 nicht der, welcher ihr von der Beklagten beizulegen versucht wird.

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Die Beklagte selbst ist der Ansicht, dass der Kläger "mit seiner Verzichtserklärung vom 16.1.2007 (auch) seinen Asylantrag zurücknehmen wollte" (Schr.v. 23.5.2007). Von der Rücknahme des auf eine Anerkennung als Flüchtling gerichteten Antrages (§ 60 Abs. 1 AufenthG) geht die Beklagte somit selbst nicht mehr aus. Angesichts dessen, dass mit der Erklärung vom 15. Januar 2007 "seitens des Bevollmächtigten des Klägers ... die Klage, soweit sie ursprünglich auch auf die Verpflichtung des Bundesamtes zur Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten nach Art. 16a GG gerichtet war, zurückgenommen" worden war, was nach eigener Einschätzung der Beklagten "auch Sinn machte", ist nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die nur einen Tag später vom Kläger auf einem vorformulierten Vordruck der zuständigen Ausländerbehörde enthaltene Erklärung nun einen gänzlich anderen Sinngehalt haben sollte, nämlich den, dass nun auch der Antrag auf Anerkennung als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) zurückgezogen worden sein soll. Mit Blick auf die Bleiberechtsregelung vom November 2006 ging es lediglich darum, dass ein entsprd. Verfahren "zum Abschluss gebracht" sein sollte (Pkt. 8 der Bleiberechtsregelung), was nach Auffassung des Klägers angesichts der Verhandlung vom Vortag von ihm auch so angenommen werden konnte. Die Erklärung kann somit im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit seiner Prozesserklärung vom 15. Januar 2007 nur so verstanden werden, dass (lediglich) nochmals deklaratorisch der "Asylantrag" - wie tags zuvor auch - zurückgezogen sein sollte, was der Kläger nochmals - in Übereinstimmung mit der Erklärung seines Prozessbevollmächtigten vom Vortage - unterstreichen und bestätigen wollte. Auch das "beim Verwaltungsgericht anhängige Klageverfahren (1 A 115/04) gegen den Ablehnungsbescheid" sollte in diesem Sinne natürlich, wie tags zuvor, von der Verzichtserklärung, die ausdrücklich ja nur den "Asylantrag" betraf, umfasst werden.

19

Schließlich kennt § 31 Abs. 2 AsylVfG mehrere Entscheidungsalternativen, die der Wahlmöglichkeit und Dispositionsbefugnis des Klägers entsprechen. Asyl- und Flüchtlingsanerkennung können danach zwar kumulativ beantragt werden, sind aber vom Bundesamt je für sich zu bewerten und auch gesondert zu entscheiden (§ 31 Abs. 2 AsylVfG). Daher stellt es im Zusammenhang mit Rücknahmen eine Verkürzung dar, wenn schlicht vom "Asylantrag" gesprochen und damit ggf. auch die Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG (mit-)gemeint wird. Das trägt der gesetzlichen Differenzierung in § 31 Abs. 2 AsylVfG nicht Rechnung.

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Angesichts der Unterschiede zwischen der Flüchtlingsanerkennung und einer Bleiberechtsregelung bestand auch ein Rechtsschutzinteresse des Klägers für die Feststellung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. dazu Nds. OVG v. 15.9.1998 - 11 L 4655/97 -). Von einer Identität der Bleiberechtsregelung und der Flüchtlingsanerkennung kann nämlich angesichts der unterschiedlichen Rechtsfolgen nicht gesprochen werden.

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5. Unter diesen Umständen verbleibt es bei dem rechtskräftig gewordenen Urteil der Kammer vom 15. Januar 2007, dessen Unwirksamkeit oder Wirkungslosigkeit nicht festgestellt werden kann. Auf das Urteil wird wegen der Gründe, die zur Anerkennung des Klägers als Flüchtling gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geführt haben, verwiesen. Sie gelten fort.

22

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG.