Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 28.06.2019, Az.: 6 A 5295/17

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
28.06.2019
Aktenzeichen
6 A 5295/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69514
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt 2/3, der Kläger 1/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, sofern nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glau-benszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angaben zufolge Ende September 2015 aus dem Irak aus und im Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte er, er sei verheiratet und habe drei Kinder. Seine letzte offizielle Anschrift in seinem Heimatland sei der Ort Samara in der Provinz Salah Ad Din gewesen. Im Irak hielten sich noch sein Bruder sowie seine vier Schwestern auf. Zu seinem Werdegang erklärte der Kläger, er habe die Schule bis zur neunten Klasse besucht und danach als Friseur und Taxifahrer gearbeitet.

Zu den Gründen seiner Flucht gab der Kläger an, er habe im Irak bereits seit vielen Jahren an den dort vorherrschenden Religionskonflikten gelitten. Nach dem Sturz Saddam Husseins habe er bis zum Jahr 2004 insgesamt neun Monate für eine amerikanische Hilfsorganisation gearbeitet. Nach dem Aufkommen der Religionskonflikte zwischen Sunniten und Schiiten im Jahr 2006 habe seine Familie 2007 wegen religiöser Diskriminierungen das schiitisch-dominierte Bagdad verlassen müssen und sei nach Samara umgezogen. Dort habe ihn aber die Organisation Al Qaida im Irak bedroht und auch nach ihm gesucht, weil er in der Vergangenheit für eine US-Organisation gearbeitet habe. Daraufhin sei er nach Tikrit gegangen, um im Dezember 2008 nach Syrien zu auszureisen, im Jahr 2009 sodann nach Ägypten. Nachdem die Lage in Ägypten wegen der dortigen Revolution schwierig geworden sei, sei er mit seiner Frau und seinen Kindern Anfang Juni 2014 nach Sulaimaniyya gereist. Wegen der anschließenden Gebietsgewinne des IS im Sommer 2014 habe er nicht nach Samara reisen können, sondern sei nach Erbil gegangen, zumal sein Vater ihm mitgeteilt habe, dass Mitglieder des IS in Samara nach ihm suchten. Nach der Befreiung Samaras vom IS sei er mit seiner Frau und den Kindern im Februar 2015 von Erbil nach Bagdad geflogen und von dort aus zu seinem Vater und seiner Stiefmutter nach Samara gereist.

Ursprünglich habe er geplant, sich wieder in Samara niederzulassen; dies habe jedoch ein Vorfall im März 2015 unmöglich gemacht. Sein Vater habe ein Hotel gegenüber einer schiitischen Moschee besessen, welche im Jahr 2006 von sunnitischen Terroristen gesprengt worden sei. Schiitische Soldaten hätten das Hotel seines Vaters nach der Befreiung der Stadt besetzt und als ihre Kriegsbeute betrachtet. Anfang März 2015 sei er, der Kläger, zum Hotel gegangen, um sein Eigentum herauszuverlangen. Die schiitischen Soldaten, denen seine sunnitische Konfession bekannt gewesen sei, hätten ihm jedoch den Zutritt verweigert, ihn mit ihren Waffen auf die Brust geschlagen und sein linkes Bein gebrochen. Er sei deshalb ohnmächtig und in ein Krankenhaus gebracht worden. Dort habe er einen Bericht über seine Verletzungen angefordert und auch an das irakische Innenministerium geschickt, ohne eine Reaktion hierauf zu erhalten.

Ende Juni 2015 sei er zur Polizei gegangen und habe wegen des Vorfalls Anzeige erstattet. Die Polizisten hätten ihn jedoch lediglich gefragt: „Wollen Sie die Regierung anzeigen?“, und hätten ihn weggeschickt. Bereits in der darauffolgenden Nacht seien Angehörige der Streitkräfte zu ihm nachhause gekommen. Diese hätten ihn und seine Tochter geschlagen und versucht, seine Frau unsittlich zu berühren; ferner hätten sie das gesamte Geld der Familie sowie das Familiengold seiner Frau gestohlen. Ihm habe man eine Tüte über den Kopf gezogen und ihn mit Strom gefoltert. Dann habe man ihn an einen unbekannten Ort verbracht, ihn abermals geschlagen, mit Urin benässt, ausgezogen und kopfüber aufgehängt. Man habe ihm vorgeworfen, ein Terrorist sowie IS-Mitglied zu sein, ferner, die vorgenannte Moschee gesprengt zu haben. Ein Offizier habe ihm gesagt: „Du bist unerzogen, und wir werden Dich erziehen.“ Er sei mit Gewalt gezwungen worden, seinen Fingerabdruck auf dem Verhörprotokoll abzugeben. Bis Mitte September 2015 sei er inhaftiert gewesen und während dieser Zeit auch wiederholt gefoltert worden. Nachdem ein Soldat ihm seine Freilassung gegen Zahlung eines Bestechungsgeldes angeboten habe, welches sein Bruder auch gezahlt habe, sei er mit Hilfe dieses Soldaten während eines Gefangenentransports geflohen. Nach seiner Freilassung sei er – aus Sicherheitsgründen ohne seine Frau und Kinder – mit Hilfe seiner Cousine mit dem Auto nach Erbil gefahren, weil er sich wegen der Sicherheitskontrollen nicht getraut habe, mit dem Flugzeug zu reisen. Noch am Tag seiner Ankunft in Erbil sei er mit dem Bus in die Türkei ausgereist. Später hätten die Soldaten, wie er gehört habe, auch seine beiden Brüder verhaftet. Das Bein eines Bruders sei in der Haft ebenfalls gebrochen worden. Nachdem die Soldaten ihn wegen seines schlechten Gesundheitszustandes entlassen hätten, habe sein Vater ihn zur Behandlung nach Jordanien geschickt. Dort sei er gestorben. Was mit seinem anderen Bruder passiert sei, wisse er gegenwärtig nicht. Seine eigene Frau und Kinder hielten sich nunmehr, ebenso wie sein Vater und seine Stiefmutter, in der Türkei auf. Im Falle einer Rückkehr in den Irak, so der Kläger abschließend, befürchte er, getötet zu werden. Wegen der Vorfälle könne er nachts nicht schlafen und sei in Behandlung.

Mit Bescheid vom 23. Mai 2017, den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 29. Mai 2017 zugestellt, erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu; im Übrigen lehnte es den Asylantrag ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dem Kläger drohe aufgrund des ermittelten Sachverhalts ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen demgegenüber nicht vor. Es sei nicht dargelegt, dass die Soldaten den Kläger allein wegen seines sunnitischen Glaubens angegriffen hätten.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 12. Juni 2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 11. Dezember 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen, dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom selben Tag Prozesskostenhilfe bewilligt. Der Kläger hat sich mit Schriftsatz vom 17. Januar 2019 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Beklagte hat bereits mit Generalerklärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 23. Mai 2017 zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

1.

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten (§ 101 Abs. 2 VwGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat zum überwiegenden Teil Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 23. Mai 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12), kommt dem Kläger die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifi-kationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ersteres ist hier der Fall. Das Gericht ist aufgrund der substantiierten Ausführungen des Klägers in seiner Anhörung beim Bundesamt, deren Glaubhaftigkeit die Beklagte nicht in Frage gestellt hat, zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im Irak aufgrund seiner Religion sowie der ihm zugeschriebenen politischen Haltung massiven Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt war, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Eine Verfolgung wegen politischer Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG liegt vor, wenn diese an eine abweichende Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zu Fragen des öffentlichen Staats- oder Gesellschaftslebens angeknüpft, unabhängig davon, auf welchen Lebensbereich sich diese bezieht. Entscheidend ist, ob Opposition im weiteren Sinne bekämpft wird, und sei es auch nur durch „normale“ Strafverfolgung mit Politmalus (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3b AsylG, Rn. 2). Als Verfolgungen gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, welche der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Eine Verfolgung wegen der Religion kann insbesondere auch dann vorliegen, sofern staatliche Sicherheitskräfte des Irak sunnitische Araber aufgrund ihrer Konfessionszugehörigkeit pauschal oder in Verbindung mit anderen Anknüpfungspunkten der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) zurechnen (siehe hierzu ausführlich: Urteil des Einzelrichters vom 7. Juni 2018 – 6 A 7652/16 -, juris Rn. 32, 37 ff.).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Vorausset-zungen einer religiösen bzw. politischen Verfolgung vor, weil Angehörige der irakischen Streitkräfte den Kläger körperlich misshandelten, rechtswidrig inhaftierten und folterten, da sie ihn wegen seiner sunnitischen Konfession als Terroristen bzw. Unterstützer des IS einstuften, ferner als politischen Gegner der irakischen Regierung, weil er nach dem ersten körperlichen Übergriff auf ihn eine Strafanzeige gegen die hierfür verantwortlichen Soldaten gestellt hatte.

Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:

„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“

Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 84 f.). Arabische Sunniten sind aufgrund ihrer ethno-religiösen Herkunft verstärkt der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt, weil sie oftmals unter dem Pauschalverdacht leiden, mit dem IS zu sympathisieren (BFA, a.a.O., S. 116, 157). Die Behörden des Irak sowie der Kurdischen Regionalregierung schränken die Bewegungsfreiheit vertriebener arabischer Sunniten willkürlich und in diskriminierender Weise ein (BFA, a.a.O., S. 150). An Orte zurückzukehren, an denen Sunniten in Nachbarschaft mit Schiiten oder Kurden gelebt hatten, ist für Sunniten besonders schwierig. Hunderttausenden war dies nicht möglich, obwohl der IS dort bereits verdrängt wurde (BFA, a.a.O., S. 157). Allgemein gibt es Berichte internationaler Menschenrechtsgruppen, die den Regierungskräften und den schiitischen Popular Mobilization Forces (PMF) vorwerfen, Gefangene und Untersuchungshäftlinge - vorwiegend Sunniten – zu misshandeln (BFA, a.a.O., S. 123). Die große Zahl der Binnenvertriebenen im Irak und die weitverbreitete Pauschal-Auffassung, dass sunnitische Araber IS-Mitglieder sind oder mit dem IS sympathisieren, hat Berichten zufolge dazu geführt, dass immer mehr sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die nicht vertrieben wurden und in Bagdad und anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten leben, nach dem Anti-Terror-Gesetz von 2005 verhaftet werden. Diese wurden in behelfsmäßige Hafteinrichtungen oder provisorische Auffanglager gebracht, in denen sie Tage oder sogar Monate ausharren mussten, häufig unter extrem harten Bedingungen. Terrorverdächtige wurden an Sicherheitsbehörden wie die Abteilung für Verbrechensbekämpfung, die Abteilung für Terrorismusbekämpfung oder die Geheimdienstabteilung des Innenministeriums überstellt, wo ihnen Folter und andere Misshandlungen drohten. Regelmäßig wurde ihnen der Kontakt zu ihren Familien oder Rechtsbeiständen verwehrt. Sicherheitskräfte und Milizen nahmen mutmaßliche Terrorverdächtige ohne Haftbefehl in ihren Wohnungen, an Kontrollpunkten und in Lagern für Binnenvertriebene fest und informierten weder die Betroffenen noch deren Angehörige über die Gründe für die Festnahme. Zwar werden manche Personen nach einigen Tagen wieder entlassen, andere werden jedoch Berichten zufolge wochen- oder gar monatelang festgehalten, bis sie schließlich freigelassen oder in die Obhut der zuständigen Sicherheitsbehörden überstellt werden (BFA, a.a.O., S. 108 f.).

Diese Erkenntnismittellage findet ihre sachliche Entsprechung in den glaubhaften Schilderungen des Klägers bei seiner Anhörung beim Bundesamt. Die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts im Einzelnen dokumentierte Aussage des Klägers enthielt hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Aus den glaubhaften Schilderungen wird insbesondere ersichtlich, dass der Kläger, entgegen der Darstellung im streitgegenständlichen Bescheid, nicht lediglich Opfer kriminellen Unrechts wurde, sondern das Ziel einer religiösen wie politischen Verfolgung. Zum einen haben ihm die ihn inhaftierenden Soldaten explizit – und ohne irgendeinen tatsächlichen Anknüpfungspunkt jenseits seiner sunnitischen Konfession – vorgeworfen, ein Terrorist sowie IS-Mitglied zu sein und die dem Hotel seines Vaters gegenüberliegende Moschee gesprengt zu haben. Zum anderen hat ein vernehmender Offizier dem Kläger gegenüber ausdrücklich geäußert: „Du bist unerzogen, und wir werden Dich erziehen.“, womit er an die vorangegangene Anzeigeerstattung gegen irakische Regierungssoldaten und eine dem Kläger zugeschriebene politisch oppositionelle Haltung gegenüber der irakischen Zentralregierung anknüpfte.

Dem Kläger steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/18, juris Rn. 52 ff.) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwär-tigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gege-ben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2). Insbesondere bietet sich für den Kläger keine zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad, denn die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigen-schaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

2.

Der Kläger hat demgegenüber keinen Anspruch, gemäß Art. 16a Abs. 1 GG als Asylberechtigter anerkannt zu werden, weil er ausweislich seiner Angaben in der Anhörung beim Bundesamt gemäß Art. 16a Abs. 2 GG über einen Mitgliedstaat der Europäischen Union in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S. 1 VwGO.

Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.