Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 27.06.2019, Az.: 6 A 4916/17

Alkoholhändler; Alkoholverkäufer; Irak; bestimmte soziale Gruppe; Yeziden; Christen

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
27.06.2019
Aktenzeichen
6 A 4916/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69774
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Im Hinblick auf die mit der Berufstätigkeit einhergehende er-hebliche soziale Stigmatisierung stellen Alkoholhändler zumindest auf dem der zentralirakischen Regierung unterstehenden Herrschaftsgebiet eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar.
2. Alkoholhändler werden im Irak nicht allein deshalb sozial ausgegrenzt, weil sie – wie im Regelfall – Angehörige der christli-chen oder yezidischen Minderheit sind, sondern, weil sie von islamisch-konservativen Glaubensvorstellungen abweichen, wobei zum Teil aus diesem isolierten Umstand auf eine religiöse Zugehörigkeit des Betreffenden zum Christen- oder Yezidentum geschlossen wird
3. Eine Tätigkeit als Alkoholhändler führt nur dann zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, wenn sie dem Betreffenden als nachhaltiges soziales Stigma anhaftet, weil er sie nicht nur kurzfristig-gelegentlich ausgeübt hat, sondern als eine auf Dauer angelegte Tätigkeit zur Schaffung und Erhaltung einer Lebens-grundlage.
4. Einem muslimischen Iraker schiitischer Konfession, der als (nicht-lizenzierter) Alkoholhändler tätig ist, kann darüber hinaus auf dem Gebiet des Zentralirak religiöse Verfolgung durch schiitische PMF-Milizen drohen.



Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und schiitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angaben zufolge im September 2015 aus dem Irak aus und im Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte er, er stamme aus Diwaniyya, der Hauptstadt der irakischen Provinz al-Qadisiyya. Sein Vater sei verstorben; seine Mutter und seine Schwester lebten noch gemeinsam im Haus der Familie in seiner Heimatstadt. In derselben Stadt bzw. den umliegenden Dörfern lebten außerdem noch ein Bruder sowie seine verheirateten Schwestern, ferner weitere Mitglieder seiner Großfamilie. Zu seinem Werdegang gab der Kläger an, er habe die Schule bis zur zehnten Klasse sowie im Anschluss noch die Abendschule besucht, letztere jedoch ohne Abschluss. Im Anschluss habe er ohne formale Berufsausbildung als Metzger gearbeitet, zunächst als Angestellter, dann ab Juli 2014 gemeinsam mit einem Freund als Selbständiger. Sie hätten jedoch nicht selbst geschlachtet, sondern lediglich Fleisch verkauft. Die Kühltruhen des Fleischhandels hätten zudem als Tarnung dafür gedient, dass sie auch Alkohol verkauft hätten. Der Gewinn habe für ihn und seinen Geschäftspartner jeweils durchschnittlich zwischen 800,00 und 1.000,00 US-Dollar betragen. Den Alkohol hätten sie von einem anderen Händler bezogen, welcher der Bruder eines bekannten Politikers gewesen sei.

Zu den Gründen seiner Flucht erklärte der Kläger, verschiedene religiöse Milizen hätten ihn töten wollten, da er Alkohol verkauft habe. In seinem Stadtteil habe die Irakische Islamische Wertepartei (Ḥizb al-Fadhila al-Islāmiyya al-Iraqi bzw. Fadila-Bewegung/Fadhela-Partei) erheblichen Einfluss besessen. Zudem seien zahlreiche Milizen aktiv gewesen, darunter die sogenannten Friedenskompanien (Sarāyā al-Salām bzw. Jaish al-Mahdi/Mahdi-Armee), ferner die Badr-Organisation (Munaẓẓama Badr) und Asa’ib Ahl Al-Haqq (Liga der rechtschaffenen Leute).

Bereits vor den Vorfällen, die zu seiner Ausreise geführt hätten, habe er Nachteile wegen des Konsums von Alkohol erlitten. Für den Besitz einer kleinen Dose Whiskey habe er einmal 130,00 US-Dollar Strafe zahlen müssen. An einem anderen Tag seien er und sein Freund mit dem Auto unterwegs gewesen und hätten Alkohol getrunken, als Unbekannte sie angehalten hätten. In Reaktion auf die Frage, wer die Betreffenden seien, hätten diese ihn, den Kläger, geschlagen und das Auto massiv beschädigt.

Im Jahr 2014 seien dann erstmals bewaffnete Angehörige einer Miliz in seinen Laden gekommen und hätten festgestellt, dass er Alkohol verkaufe. Zum Glück habe er nur einen Liter Whiskey im Laden aufbewahrt, andernfalls, so der Kläger, hätten sie ihn sicherlich getötet. Die Milizionäre hätten die Whiskeyflasche zerstört, ihm zur Strafe 200.000,00 irakische Dinare weggenommen und ihm gesagt, dass sie ihn beim nächsten Vorfall dieser Art sofort töten würden. Dann hätten sie ihn verhaftet und in einen kleinen Raum eingesperrt. Dort hätten sie ihn ca. 120 Mal mit Kabeln auf die Fußinnenflächen geschlagen, die dadurch stark angeschwollen seien, so dass er nicht mehr habe normal laufen können. Anschließend habe man ihn hängend gefesselt, ihn bzw. seine Füße mit Wasser übergossen und ihn weiter geschlagen, wodurch er eine bleibende Narbe am Kopfbereich erlitten habe. Am folgenden Tag hätten die Milizionäre ihn freigelassen. Er habe den Laden daraufhin umgehend geschlossen und sei mit seinem Freund bzw. Geschäftspartner in einen anderen Stadtteil umgezogen.

Er sei nach dem Vorfall zur Polizei gegangen, aber die Polizisten hätten seine Anzeige nicht ernst genommen und auch nicht verfahrensmäßig dokumentiert. Es habe unter den Polizisten außerdem unterschiedliche Meinungen darüber gegeben, ob der Alkoholverkauf zulässig sei. Ein Teil der Polizisten sei der Meinung gewesen, dass es erlaubt sei, Alkohol zu verkaufen, andere hingegen, es sei verboten, und der Kläger solle dies unterlassen, weil er sonst bestraft werde. Er, der Kläger, habe die Letztgenannten im Wesentlichen dahingehend verstanden, dass man wohl Alkohol trinken dürfe, der Verkauf aber verboten sei. Letztendlich habe er sich jedoch entschieden, weiterhin Alkohol zu verkaufen, da er nicht nach den Vorschriften der Milizionäre habe leben wollen und beispielsweise auch privat regelmäßig Alkohol trinke.

Im neuen Stadtteil hätten sein Freund und er ein kleines Lager besessen, aus dem heraus sie Alkohol nach vorheriger telefonischer Bestellung an ausgewählte, ihnen bekannte Personen verkauft hätten. Dennoch hätten die Milizen auf irgendeine Weise erfahren, dass sie weiterhin im Alkoholhandel tätig gewesen seien. Anfang Juli 2015 hätten sie gehört, wie zwei Autos vor ihrem Laden vorfuhren. Milizionäre hätten begonnen, auf den Laden zu schießen. Er und sein Freund seien fortgelaufen, woraufhin man gezielt auf sie geschossen habe. Er habe seinen Freund noch aufschreien hören und einen Schock bekommen. Nach dem Vorfall habe er dann erfahren, dass sein Freund angeschossen worden sei. Ob sein Freund noch am Leben sei, wisse er bis heute nicht. Er selbst sei zu einem anderen Freund geflohen, dem er alles berichtet habe, und habe sich dort zwei Tage versteckt gehalten, weil er sich nicht nachhause getraut habe. Die Milizionäre hätten den Laden verwüstet und die gesamte Ware zerstört. Er habe zudem erfahren, dass die Milizionäre mehrfach bei nach seiner Familie nach ihm gesucht und seiner Mutter gedroht hätten, sie würden ihn töten, wenn sie ihn fänden. Seine Mutter hätte stets abgestritten, seinen Aufenthaltsort zu kennen. Die Angehörigen der Miliz hätten ihr mitgeteilt, dass sie ihn als Alkoholverkäufer zur Fahndung ausgeschrieben, d.h. sein Vergehen überall bekanntgemacht und seinen Namen an die Büros sämtlicher Milizen geschickt hätten. Er habe große Angst gehabt und vergeblich nach jemandem gesucht, der ihn ggf. beschützen könne. Von einem seiner Nachbarn habe er zudem erfahren, dass eine ihm namentlich bekannte Person aus der Nachbarschaft Zuträger der Miliz sei und Informationen über ihn sammle. Selbst nachdem er den Irak bereits verlassen habe, hätten die Milizionäre zweimal bei seiner Familie nach ihm gesucht. In einem Fall hätten sie sogar ein kleines Kind zu seiner Familie geschickt, um Erkundigungen über ihn einzuholen. Außerdem hätten die Milizionäre in Erfahrung gebracht, dass er jüdische Wurzeln habe, d.h. dass seine Großmutter jüdischen Glaubens gewesen sei. Sie würden derzeit wahrheitswidrig überall herumerzählen, dass er Jude sei, weil er jüdische Vorfahren habe und sich nicht an die religiösen Vorschriften des Islam halte.

Auf die Nachfrage des Anhörenden, weshalb er nicht umgezogen sei, erklärte der Kläger, dass er sich nirgends sicher gefühlt habe, weil die Milizen überall Macht hätten. In Bagdad seien sie sogar noch mächtiger und präsenter als in seinem Heimatort; zudem agierten sie dort wesentlich strenger gegenüber Alkoholverkäufern. Er habe seine Tätigkeit auch nicht mehr einfach aufgeben können, weil es bereits zu spät gewesen sei, denn man habe ihn ja bereits als Alkoholverkäufer identifiziert. Der Kläger ergänzte überdies, er sei ein friedlicher Mensch und habe einfach ein normales Leben und Geld verdienen wollen. Dies sei ihm im Irak nicht möglich gewesen, weil die Milizionäre gewollt hätten, dass er sich an ihre religiösen Regeln halte. Von dem Leben im Westen habe er immer geträumt; im Irak habe er das Gefühl gehabt, außer Stande zu sein, ein normales Leben zu führen. Im Falle seiner Rückkehr in den Irak, so der Kläger abschließend, befürchte er, getötet zu werden. Er leide immer noch an den Konsequenzen der Misshandlungen und stelle sich oft vor, wie ihn die Entführer zwei Tage lang geschlagen hätten. Gerade abends vor dem Schlafengehen tauchten diese Bilder oft auf.

Mit Bescheid vom 23. Mai 2017, dem Kläger zugestellt am 27. Mai 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie auf Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 2) ab und erkannte dem Kläger den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 5). Zur Begründung trug es im Wesentlichen vor, der Genuss und der Verkauf von Alkohol gehörten nicht zu den durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützten Grundrechten. Es gäbe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung drohe. Der Kläger habe im Wesentlichen vorgebracht, aufgrund des Alkoholverkaufs und -konsums verfolgt zu werden. Er habe jedoch nichts dazu vorgetragen, dass er nicht imstande sei, auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Soweit der Kläger vorbringe, in seiner Heimatstadt wegen seines zurückliegenden Umgangs mit Alkohol bereits gesucht und verfolgt zu werden, stehe ihm als Angehörigen der schiitischen Glaubensrichtung im Zentral- und Südirak die Möglichkeit offen, durch Umzug in eine anonyme Großstadt weiteren Nachstellungen zu entgehen.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 9. Juni 2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen. Im Falle einer Rückkehr in den Irak sehe er sich einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt. Aufgrund seiner Tätigkeit als Alkoholhändler sei er in den Fokus der örtlichen Niederlassung der Islamischen Wertepartei geraten, nachdem ihn Unbekannte dort angezeigt hätten. Hierbei handele es sich um eine der großen irakischen Parteien schiitischer Ausrichtung, die in enger Verbindung zum iranischen Regime stehe. Es seien mit dieser Partei assoziierte Milizen gewesen, die ihn wegen des Alkoholhandels inhaftiert und verfolgt hätten. Im Falle einer Rückkehr drohe ihm insbesondere religiöse Verfolgung.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 27. Februar 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen; dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom selben Tag Prozesskostenhilfe bewilligt.

Mit Schriftsatz vom 7. März 2019 hat sich der Kläger mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Beklagte hat bereits mit Generalerklärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Mai 2017 zu verpflichten,

1. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

1.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 23. Mai 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12), kommt dem Kläger die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer grundsätzlich nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 -, juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A -, juris Rn. 38). Für die Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist unerheblich, ob dem Ausländer vor der Ausreise eine interne Schutzmöglichkeit zur Verfügung gestanden hat. Die Beweiserleichterung greift vielmehr auch dann ein, wenn sich der Ausländer vor seiner Ausreise aus dem Heimatland nicht landesweit in einer ausweglosen Lage befunden hat (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08 - juris Rn. 18; VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 27).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, fällt der Kläger in den persönlichen Anwendungsbereich der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie. Der Kläger war vor seiner Ausreise aus dem Irak aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (lit. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (lit. b). Im Falle der Alkoholverkäufer bzw. -händler im Irak, wobei dieser Begriff sowohl Importeure erfasst als auch Produzenten, Zwischen- und Endhändler, sind diese Voraussetzungen nach Einschätzung des Einzelrichters zumindest in dem Gebiet erfüllt, welches der Herrschaft der zentralirakischen Regierung untersteht. Eine ehemalige bzw. fortdauernde Tätigkeit als Alkoholhändler stellt im Hinblick auf die damit einhergehende gesellschaftliche Stigmatisierung einen nicht mehr veränderbaren Hintergrund dar, wobei die irakische Gesellschaft die Betroffenen nicht nur als andersartig im Sinne einer abgrenzbaren Identität betrachtet, sondern darüber hinaus auch als gesellschaftlichen Fremdkörper (a.A.: VG Berlin, Urteil vom 16.04.2019 – 25 K 234.17 A, juris Rn. 30; vgl. auch BayVGH, Beschluss vom 08.02.2013 – 13a ZB 12.30468, https://www.asyl.net/rsdb/M20438/). Hiermit einher geht eine besondere Verletzlichkeit bzw. Anfälligkeit gegenüber den in § 3a AsylG bezeichneten Verfolgungshandlungen.

In Bezug auf die Akzeptanz des Verkaufs von Alkohol blickt der Irak auf eine wechselseitige Geschichte zurück, d.h. von einer weitgehenden freigiebigen Toleranz des Alkoholhandels in den 70er und 80er Jahren über ein religiös aufgeheiztes, gegen Alkoholhändler gerichtetes Klima insbesondere zu Beginn der 1990er Jahre und abermals in der Periode von 2006 bis 2008 bis hin zur Entscheidung des irakischen Parlaments im Jahr 2016, den Verkauf von Alkohol zu verbieten (Artikel der Associated Press vom 15. September 2007, „Alcohol business dangerous in chaotic Baghdad“; Artikel von TheNewArab vom 13. Juni 2017, „Battle of the bottle: Iraq’s love-hate relationship with booze“).

Alkoholverkäufer sahen sich im Irak seit jeher Übergriffen durch religiöse Extremisten ausgesetzt. So galt beispielsweise die Provinz Basra im Süden des Irak lange Jahre als Ziel des „Alkoholtourismus“ der Angehörigen benachbarter arabischer Staaten, bis die durch den Iran unterstützten Badr-Brigaden (Badr-Organisation) im März 1991 einen (nach kurzer Zeit niedergeschlagenen) Aufstand der schiitischen Araber gegen das Regime Saddam Husseins anzettelten, zu dessen Beginn sie sogleich das Basra International Hotel zusammen mit den Bars und Casinos der Stadt niederbrannten (Artikel von TheNewArab vom 13. Juni 2017, „Battle of the bottle: Iraq’s love-hate relationship with booze). Im Gegenzug begann Saddam Hussein nach der irakischen Niederlage im Zweiten Golfkrieg in den frühen 90er Jahren damit, Bars und Nachtclubs zu schließen, den Verkauf von Alkohol streng zu regulieren, den öffentlichen Alkoholkonsum zu untersagen und religiöse Ansprachen an die Mitglieder der säkularen Ba’ath-Partei und die übrige Bevölkerung zu halten, um sich u.a. hierdurch der Unterstützung derjenigen arabischen Stämme zu vergewissern, welche er mit dem Kuwait-Feldzug gegen sich aufgebracht hatte. Einer weiterhin gültigen gesetzlichen Regelung aus dem Jahr 2001 zufolge setzt die Erteilung einer Lizenz als Alkoholverkäufer voraus, dass der Bewerber älter als 21 Jahre, irakischer Staatsangehöriger und nicht muslimischen Glaubens ist. Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 erlebte das Alkoholgeschäft einerseits einen schwunghaften Aufstieg, andererseits waren Alkoholverkäufer eine der ersten Gruppen, die insbesondere in den Jahren nach 2006 Angriffen von religiösen Extremisten ausgesetzt war, die sich dem Ziel verschrieben hatten, alle Lebensbereiche des irakischen Staates dem islamischen Recht zu unterwerfen. Hierbei kam es zu zahlreichen Bedrohungen, Tötungen und Brandstiftungen. Läden, die sich über diese Zeit hinaus halten konnten, waren in Bagdad im Regelfall strategisch günstig in der Nähe von Checkpoints oder in hochgesicherten Bereichen der Stadt untergebracht, etwa unmittelbar angrenzend an die schwer gesicherte Grüne Zone (siehe zum Vorgenannten im Einzelnen: Artikel der New York Times vom 21. August 1994, „Iraq Bans Public Use Of Alcohol“; Artikel der Associated Press vom 15. September 2007, „Alcohol business dangerous in chaotic Baghdad“; Artikel des Independent vom 9. Juli 2008, „Alcohol returns to Baghdad“; Artikel des Institute for War and Peace Reporting vom 18. Januar 2008, „Iraq: Baghdad liqor stores reopen“; Artikel von TheNewArab vom 13. Juni 2017, „Battle of the bottle: Iraq’s love-hate relationship with booze“; Artikel der Iraqi News vom 20. September 2017, „Baghdad Iraq: Alcoholics seller killed in IED blast northeast of Baghdad“).

In den letzten Jahren erlebte der Irak einen weiteren deutlichen Rückschritt in Bezug auf die Akzeptanz des Alkoholkonsums, welcher noch nicht dieselbe Intensität erreicht wie etwa die Ächtung des Verkaufs und Genuss alkoholischer Getränke im (schiitischen) Iran, sich jedoch deutlich an dessen Rigidität orientiert. Dies betrifft sowohl die schiitische Mehrheitsgesellschaft als auch die sunnitische Bevölkerungsminderheit (Artikel von TheNewArab vom 13. Juni 2017, „Battle of the bottle: Iraq’s love-hate relationship with booze“).

So duldet(e) die sunnitische Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) in den von ihr beherrschten Gebieten keine (religiösen) Anschauungen und Praktiken, die – wie der Konsum von Alkohol – von ihrer eigenen fundamentalistischen Ideologie abweichen, und geht gewaltsam gegen die betroffenen Personen vor (vgl. EASO, Country of Origin Information Report: Iraq. Targeting of Individuals, März 2019, S. 109 ff. m.w.N.; Artikel der Daily Mail vom 2. Mai 2015, „Pictures of men being whipped for drink and drugs published“; Artikel der Japan Times vom 4. Dezember 2018, „With the jihadis gone, booze is back in Iraq's Mosul“). Aufgrund einer parlamentarischen Initiative schiitischer Islamisten, welche eine Regelung über das Verbot des Verkaufs von Alkohol in einem Gesetzesentwurf mit Bestimmungen über kommunale Gebietskörperschaften getarnt hatten, beschloss das irakische Parlament darüber hinaus im Oktober 2016 überraschend und ohne nähere Beratung ein landesweites Verbot des Imports, der Produktion und des Verkaufs von Alkohol (Artikel der AfP vom 23. Oktober 2016, „Iraq‘s surprise ban on alcohol sparks political backlash“; Artikel des Independent vom 23. Oktober 2016, „Iraq parliament bans alcohol in surprise vote“; EASO, a.a.O., S. 85 m.w.N.), wobei noch unklar ist, wie effektiv das Verbot tatsächlich durchgesetzt wird (Artikel von TheNewArab vom 13. Juni 2017, „Battle of the bottle: Iraq’s love-hate relationship with booze“; Artikel von AL-Monitor vom 12. Oktober 2018, „Arak distillery promotes ambitious new brand in defiance of alcohol ban“). So ordnete beispielsweise die örtliche Gesundheitsbehörde in Bagdad noch im März 2019 unter Verhängung hoher Bußgelder die zeitlich begrenzte Schließung zahlreicher Cafés und Restaurants mit der Begründung an, diese wiesen nicht die „notwendigen Lizenzen“ für den Ausschank von Alkohol auf (Artikel von Kurdistan24 vom 18. März 2019, „Baghdad authorities shut down businesses selling alcohol without permit“).

Erkenntnissen des US Departments of State zufolge soll das Verbot, welches von politischen Vertretern religiöser Minderheiten massiv kritisiert wird, allerdings bereits „in vielen Teilen des Irak“ durchgesetzt werden, etwa in der Provinz Salah al-Din, deren Gouverneur im Juli 2018 alle Alkoholläden schloss, nachdem er von örtlichen Räten, unterstützt durch konservative sunnitische Geistliche und Mitgliedern örtlicher Stämme, dazu aufgefordert worden war. Das Verbot wurde auch durch konservative Kräfte der örtlichen Gesellschaft unterstützt, welche Alkohol ebenso als kulturell inakzeptabel brandmarkten wie als Ursache der Desintegration sozialer Gemeinschaften und Einfallstor für westliche Gebräuche und Traditionen (EASO, a.a.O., S. 85 m.w.N.; Artikel der AfP vom 23. Oktober 2016, „Iraq‘s surprise ban on alcohol sparks political backlash“). Umgekehrt hat die Regierung der kurdischen Autonomieregion bekräftigt, das Alkoholverbot in den kurdischen Territorien – unabhängig von der Frage der Gesetzgebungskompetenz der Zentralregierung – weder anzuwenden noch durchzusetzen (EASO, a.a.O., S. 85 m.w.N.; Artikel von The National vom 27. Oktober 2016, „In Iraqi Kurdistan, little regard for Baghdad alcohol ban“; Artikel der Asia News vom 25.10.2016, „For Christian lawmaker, anti-alcohol law "Islamises” Iraq“). Auch auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion war es jedoch beispielsweise bereits im Jahr 2011 zu Ausschreitungen gegenüber Alkoholverkäufern gekommen, als Muslime auf den Aufruf eines extremistischen Imams hin mindestens 13, nach anderen Angaben bis zu 30 Geschäfte niederbrannten, die Alkohol verkauften (Artikel der Asia News vom 12. März 2011, „Zakho, Iraqi Islamic extremists attack Christian-owned shops and properties“). Aus anderen Teilen des Irak, etwa aus mittelgroßen Städten der Provinz Anbar oder Mosul, der Hauptstadt der Provinz Ninawa, wird nach dem Wegfall der offiziellen Gebietsherrschaft des IS ebenfalls über ein sprunghaftes Wiederaufleben des Alkoholhandels berichtet, demzufolge zahlreiche nichtlizenzierte Alkoholhändler in Konkurrenz zu lizenzierten Geschäften treten. Dieselben Artikel berichten jedoch zugleich über die deutliche Ablehnung des Alkoholhandels durch Teile der örtlichen Bevölkerung und die damit einhergehenden Sicherheitsmaßnahmen der Geschäftsinhaber (Artikel der Japan Times vom 4. Dezember 2018, „With the jihadis gone, booze is back in Iraq's Mosul“; Artikel von Niqash vom 6. Dezember 2017, „In Anbar, Liquor Shops Are An Unlikely New Sign Of Hope“).

Jenseits der Frage der rechtlichen Wirksamkeit und tatsächlichen Anwendung eines formal-gesetzlichen Verbots des Alkoholverkaufs sind Alkoholhändler im Irak gegenwärtig (zumindest) auf dem der irakischen Zentralregierung unterstehenden Herrschaftsgebiet mit einem spürbaren gesellschaftlichen Stigma behaftet, mit dem ein erhebliches Risiko einhergeht, Opfer gewaltsamer Übergriffe religiöser Extremisten zu werden. Der öffentliche Verkauf von Alkohol sieht sich nämlich nach Auskunft des Irak-Sachverständigen Mark Lattimer gegenüber dem European Asylum Support Office im April 2017 einer deutlichen Missbilligung in weiten Teilen der irakischen Gesellschaft ausgesetzt, und dies ungeachtet des Umstandes, dass zahlreiche Iraker selbst Alkohol konsumieren (EASO, a.a.O., S. 85):

„Es gibt einige Gemeinschaften, welche mit dieser Praxis in Verbindung gebracht werden – Christen und Ka’kai – was als Grund für ihre Verfolgung angegeben wurde. Es ist so, dass der Vorwurf, ein Alkoholverkäufer zu sein, jemanden mit einem Stigma behaftet, aus Gründen der ethnischen oder religiösen Identität – es existiert auch ein Muster, dass diejenigen, welche Alkohol verkaufen, von schiitischen Milizen in Basra und Bagdad angegriffen werden – Asaib Ahl al-Haqq hat Mordanschläge verübt, Todesdrohungen ausgesprochen und Leuten aus der örtlichen Gemeinschaft vertrieben, oder in manchen Fällen den Vorwurf nur als bloße Unterstellung verwendet, um Menschen zum Wegzug zu bewegen oder zur Aufgabe ihres Grundeigentums zu veranlassen.“

Zugleich wird aus den vorgenannten sowie den dem Gericht im Übrigen vorliegenden Erkenntnismitteln ersichtlich, dass Alkoholverkäufer nicht allein deshalb stigmatisiert werden, weil sie – wie im Regelfall – Angehörige der christlichen oder yezidischen Minderheit im Irak sind (a.A.: VG Berlin, Urteil vom 16.04.2019 – 25 K 234.17 A, juris Rn. 30), sondern, weil sie von islamisch-konservativen, vornehmlich schiitischen Glaubensvorstellungen abweichen, wobei zum Teil aus diesem isolierten Umstand auf eine religiöse Zugehörigkeit des Betreffenden zum Christen- oder Yezidentum geschlossen wird (s.o.). In diesem Zusammenhang ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass die irakische Gesellschaft den Alkoholverkauf durch Muslime per se als anstößig ansieht, was sich auch in der vorgenannten gesetzlichen Regelung des Jahres 2001 niedergeschlagen hat, wonach muslimischen Irakern keine Lizenz zum Alkoholverkauf erteilt werden darf (Artikel der Japan Times vom 4. Dezember 2018, „With the jihadis gone, booze is back in Iraq's Mosul“). Hiernach verbleibt muslimischen Irakern nur die Möglichkeit, einen nicht-lizenzierten Verkaufsladen zu eröffnen. Nach Auskunft eines weiteren Sachverständigen gegenüber dem European Asylum Support Office gehören Alkoholhändler zudem gemeinsam mit LGBT-Personen und Christen zu einer der fünf großen Gruppen, welche schwerpunktmäßig von PMF-Milizen angegriffen werden, d.h. derjenigen Gruppe, deren Verhalten im Widerspruch zu schiitischen Glaubensvorstellungen steht (EASO, a.a.O., S. 22 m.w.N.). Auch das jüngst verhängte Alkoholverkaufsverbot wird nicht lediglich als islamisch-fundamentalistisch motivierte Aktion gegen religiöse Minderheiten gedeutet, sondern zugleich als Maßnahme gegen säkulare muslimische Iraker (Alkinani, Artikel vom 22. Januar 2017, „ Iraqi alcohol ban: eradication of secularism“; Artikel der AfP vom 23. Oktober 2016, „Iraq‘s surprise ban on alcohol sparks political backlash“).

Importeure und Verkäufer von Alkohol sahen sich dabei auch in den letzten Jahren weiterhin gewaltsam Angriffen der vornehmlich schiitischen Milizen der Volksmobilisierungseinheiten (al-Haschd asch-Schaʿbī bzw. Popular Mobilisation Forces/PMF-Milizen) ausgesetzt, zum Teil mit expliziter Billigung der schiitischen Gemeinschaft, und müssen mit massiver Diskretion bzw. unter erheblichen Sicherheitsvorkehrungen agieren (EASO, a.a.O., S. 84, 86 m.w.N.). So setzten beispielsweise Milizionäre im Februar 2017 einen Bagdader Alkoholshop in Brand und töteten zwei der Angestellten. Nachdem der Inhaber, ein Angehöriger des christlichen Glaubens, seinen Laden mangels beruflicher Alternativen wiedereröffnet hatte, musste er erhebliche Bestechungsgelder an örtliche Milizen und die Polizei zahlen. Zudem wurden im Juli 2017 in Bagdad zwei yezidische Alkoholhändler durch nicht identifizierte Täter erschossen (EASO, a.a.O., S. 86). Im September 2017 wurde ebenfalls in Bagdad ein Alkoholhändler, dessen Konfession nicht genannt wurde, durch eine an der Unterseite seines Autos angebrachte Haftbombe getötet (Artikel der Iraqi News vom 20. September 2017, „Baghdad Iraq: Alcoholics seller killed in IED blast northeast of Baghdad“).

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Erkenntnisquellen führt allerdings auch eine Tätigkeit als Alkoholhändler nur dann zu einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, wenn sie dem Betreffenden als nachhaltiges soziales Stigma anhaftet, weil er diese Tätigkeit nicht nur kurzfristig-gelegentlich ausgeübt hat, sondern als eine auf Dauer angelegte Tätigkeit zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage (vgl. zu diesem Kriterium im Kontext des Art. 12 Abs. 1 GG: Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, hrsgg. v. Epping/Hillgruber, Stand: Mai 2019, Art. 12 GG, Rn. 40 m.w.N.). Dem steht es gleich, wenn diese Eigenschaft dem Betroffenen von Verfolgerseite zu Unrecht zugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Nach Maßgabe dieses rechtlichen Maßstabs wurde der Kläger im Irak von schiitischen Milizen aufgrund seiner Zugehörigkeit zur bestimmten sozialen Gruppe der Alkoholhändler verfolgt. Die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts im Einzelnen dokumentierte Aussage des Klägers, deren Glaubhaftigkeit das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid auch nicht in Zweifel gezogen hat, enthält hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf das ausführliche Anhörungsprotokoll des Bundesamts verwiesen.

Es steht hiernach insbesondere zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass der Kläger der vorgenannten bestimmten sozialen Gruppe unterfällt, weil er die berufliche Tätigkeit als selbständiger, nicht lizenzierter Alkoholhändler muslimischen Glaubens als eine auf Dauer angelegte Tätigkeit zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage ausübte, da er diese in der Zeit von Mai 2014 bis Juli 2015 wahrnahm und hierbei Einnahmen von durchschnittlich 800,00 bis 1.000,00 US-Dollar erzielte. Der Kläger ist auch mit dem sozialen Stigma behaftet, welches mit einer Tätigkeit als Alkoholhändler im Irak einhergeht, da er im Jahr 2014 erstmals von Angehörigen einer religiösen Miliz zweifelsfrei als Alkoholverkäufer identifiziert und zur Strafe über einen Zeitraum von zwei Tagen massiv körperlich misshandelt bzw. gefoltert wurde. Selbst wenn man zu Ungunsten des Klägers – in wenig lebensnaher Weise – unterstellte, dass sein beruflicher Hintergrund hierdurch noch nicht allgemein bekannt wurde, so ist er spätestens nach dem Feuerüberfall der Milizionäre auf sein Ladengeschäft im Juli 2015 sowie die anschließend eingeleitete „Öffentlichkeitsfahndung“ in seiner Heimatstadt als Alkoholverkäufer stigmatisiert. Der Feuerüberfall auf den Kläger sowie die anschließend ihm gegenüber ausgesprochenen Todesdrohungen stellen auch (Vor-)Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1 AsylG dar, welche in kausaler Weise an die Zugehörigkeit des Klägers zur bestimmten sozialen Gruppe der Alkoholhändler anknüpften (§ 3a Abs. 3 AsylG).

Die dem Kläger widerfahrene Verfolgung ist zudem flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung u.a. vom Staat (Nr. 1) oder auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (Nr. 3), sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, denn die in der Heimatstadt des Klägers operierenden schiitischen Milizen Friedenskompanien (Sarāyā al-Salām) bzw. Mahdi-Armee (Jaish al-Mahdi), Badr-Organisation (Munaẓẓama Badr) und Asa’ib Ahl Al-Haqq (Liga der rechtschaffenen Leute) stellen ebenso wie die übrigen PMF-Milizen staatliche Organisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG dar (ausführlich hierzu: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris LS 1, Rn. 41 ff.; Urteil vom 07.06.2018 – 6 A 7652/16, juris Rn. 52-61). Selbst wenn man im Übrigen zu Ungunsten des Klägers unterstellte, dass er nicht von einer der drei vorgenannten Milizen inhaftiert, gefoltert und mit dem Tode bedroht wurde, sondern von einer sonstigen, mit der Islamische Wertepartei (Ḥizb al-Fadhila al-Islāmiyya al-Iraqi bzw. Fadila-Bewegung/Fadhela-Partei) assoziierten Miliz, welche keine staatliche Unterstützung genießt, wäre die widerfahrene Verfolgung durch Private mangels effektiven staatlichen bzw. polizeilichen Rechtsschutzes nach § 3c Nr. 3 AsylG beachtlich. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, die sich zudem mit den glaubhaften Schilderungen des Klägers betreffend seine Anzeigeerstattung decken, ist die irakische Polizei nämlich nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2076), 12. Februar 2018, S. 9; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70). Ohnehin existiert kein Polizeigesetz, womit die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten zum (Nicht-)Handeln sehr weitgehend sind. Die Schwäche der irakischen Sicherheitskräfte hat es darüber hinaus vornehmlich schiitischen Milizen erlaubt – etwa den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, Asa’ib Ahl a-Haq und Kata’ib Hisbollah – Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen (AA, a.a.O., S. 9). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es vor allem in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad außerdem besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23).

Insbesondere unter Berücksichtigung der vom Kläger glaubhaften vorgetragenen Fahndungs- bzw. Suchmaßnahmen, welche die Milizen auch nach seiner Ausreise aus dem Irak gegen ihn einleiteten, liegen derzeit schließlich keine stichhaltigen Gründe vor, welche aus der Sicht des Einzelrichters die Annahme rechtfertigen könnten, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak keinen durch seine Zugehörigkeit zur bestimmten sozialen Gruppe der Alkoholhändler motivierten Verfolgungsmaßnahmen mehr ausgesetzt sein würde (Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie).

Im Übrigen besteht – und zwar unabhängig von der Einstufung von Alkoholhändlern als bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG – im vorliegenden Fall die zusätzliche beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak einer Verfolgung durch staatliche bzw. nichtstaatliche Akteure wegen seiner Religion nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG ausgesetzt wäre. Dieser Begriff umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Für den Kläger besteht nach Maßgabe dieses rechtlichen Maßstabs ein separates Verfolgungsrisiko, weil die schiitischen Milizionäre, die ihn mit Waffengewalt angriffen und seitdem nach ihm fahnden, ihn deshalb bedrohten, weil er sich als Schiit nicht an die Vorschriften des Islam hielt und Alkohol trank sowie verkaufte. In diesem Zusammenhang hat der Kläger insbesondere glaubhaft geschildert, dass die Milizionäre nach Auskunft seiner Verwandten überall in seinem Heimatort herumerzählen würde, er sei kein Muslim, sondern Jude, weil seine Großmutter jüdischen Glaubens gewesen sei und er sich nicht an die religiösen Vorschriften des Islam halte. Dabei kann dahinstehen, ob die Betreffenden mit dieser Aussage das Ausmaß des Verstoßes des Klägers gegen islamische Verhaltensvorschriften beschreiben wollen oder ob sie dem Kläger tatsächlich im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG die Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben zuschreiben.

Dem Kläger steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/18, juris Rn. 52 ff.) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien, wobei im Falle der Stadt Bagdad zusätzlich die schlechte Sicherheitslage und der erhebliche Einfluss schiitischer PMF-Milizen zu berücksichtigen sei (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2; ebenso: Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.). Das letztgenannte Risiko besteht insbesondere im Falle des Klägers, der ausweislich seiner glaubhaften Bekundungen in das Visier von drei der mächtigsten, landesweit agierenden PMF-Milizen des Irak geraten ist und sich in der Stadt Bagdad – im Einklang mit den obigen Erkenntnisquellen – als im Wege der Öffentlichkeitsfahndung identifizierter Alkoholhändler einem nochmals gesteigerten Risiko ausgesetzt sieht.

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

2.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.