Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 20.06.2019, Az.: 6 A 5142/17

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
20.06.2019
Aktenzeichen
6 A 5142/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69770
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Anhänger des „Islamischen Staates“ (IS) stellen im Raum Mosul weiterhin eine ernstzunehmende Bedrohung für Personen dar, die in religiöser oder politischer Opposition zu der Organisation stehen.
2. Sunnitischen Arabern, die (zu Unrecht) als Sympathisanten oder Anhänger des IS eingestuft werden, droht im Raum Mosul ein beachtliches Risiko, durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure verfolgt zu werden.


Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glau-benszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angaben zufolge im September 2015 aus dem Irak aus und im Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bun-desamt) einen Asylantrag.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte er, seine letzte offizielle Anschrift im Irak sei in Mosul gewesen. Dort habe er seit 2013 ein Haus auf der linken Seite der Stadt besessen, d.h. in Ost-Mosul, welches auch auf seinen Namen im Grundbuch eingetragen worden sei. In Mosul lebe noch seine Mutter; sein Vater sei verstorben. Im Irak hielten sich noch sein Bruder und seine vier Schwestern auf. Zu seinem Werdegang erklärte der Kläger, er habe das Studium des Bauingenieurwesens im Jahr 2004 abgeschlossen. Seitdem habe er überwiegend als Gutachter für die Baubehörde gearbeitet und zum Teil auch private Gutachten erstellt. Sein Büro habe im Zentrum von Mosul gelegen, d.h. auf der rechten Seite der Stadt (West-Mosul).

Zu den Gründen seiner Ausreise gab der Kläger an, er sei aus Furcht vor der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) aus dem Irak geflohen. Nach dem Einmarsch des IS in Mosul habe man ihn innerhalb mehrere Tage mehrfach erfolglos aufgefordert, mit dem IS zusammenzuarbeiten. Der IS habe geplant, sein Büro zu einem Rekrutierungsbüro umzubauen, weil es direkt in der Innenstadt gelegen habe. Beim letzten Vorfall sei ein junger Mann, ein Mitglied des IS, in der Mittagszeit zu ihm ins Büro gekommen, habe ihn in Anwesenheit seiner Kunden beleidigt und auch ins Gesicht gespuckt. Daraufhin habe er, der Kläger, den Mann mehrmals geschlagen, der sich körperlich gewehrt, vor allem aber laut geschimpft habe. Das Ganze habe nur wenige Sekunden gedauert. Nachbarn seien herbeigeeilt, hätten die Streitenden getrennt und ihm empfohlen, sich zu entfernen, da der IS-Anhänger sicherlich Verstärkung holen werde. Er habe daraufhin sofort sein Büro verlassen und es seitdem nie wieder betreten. An diesem Abend habe er bei seiner Mutter übernachtet, am Folgetag sei er mit dem Auto nach Bagdad gefahren. Dort habe er sich jedoch lediglich zwei bis drei Tage aufgehalten, weil er als Sunnit bereits Schwierigkeiten gehabt habe, überhaupt ein Hotelzimmer buchen zu können. Anschließend sei er nach Dohuk gegangen, wo er bis September 2015 in der Stadt in einem Hotel gelebt habe. Einer Berufstätigkeit habe er jedoch nicht nachgehen können, weil er als Araber keine Arbeitserlaubnis erhalten habe. Auch im Übrigen habe er in der kurdischen Autonomieregion als Araber ein schlechtes Ansehen besessen und der Umstand, dass er ohne familiären Rückhalt dort gelebt habe, sei oft ausgenutzt worden. Ursprünglich habe er vorgehabt, wieder nach Mosul zurückzukehren, doch irgendwann habe er die Hoffnung auf die Befreiung der Stadt aufgegeben. Als er dann auch noch erfahren habe, dass der IS sowohl sein Büro als auch sein Privathaus beschlagnahmt habe, sei ihm bewusst geworden, dass er in Gefahr sei, und er habe den Irak verlassen. Mittlerweile habe er erfahren, dass die irakische Armee im Zuge der Rückeroberung der Stadt sein in West-Mosul befindliches Büro zerstört habe. Dass die irakische Armee die vom IS besetzten Immobilien zerstöre, entspreche auch ihrem üblichen Vorgehen. Sein in Ost-Mosul befindliches Privathaus werde gegenwärtig von Soldaten bewohnt, wie er von einem Nachbarn über Facebook erfahren habe. Er habe jedoch Sorge, dass die Soldaten sein Privathaus ebenso wie sein Büro auch noch zerstören würden. Abschließend erklärte der Kläger, er wolle in den Irak zurückkehren, sobald dort die erforderliche Sicherheit gegeben sei. Gegenwärtig befürchte er, dass die IS-Anhänger ihn im Falle seiner Rückkehr nach Mosul als Ungläubigen ansehen, weil er die Zusammenarbeit mit ihnen verweigert habe. Außerdem habe er Angst vor Geheimdiensten, die dort immer noch Menschen verschwinden lassen würden.

Mit Bescheid vom 22. Mai 2017, dem Kläger zugestellt am 24. Mai 2017, erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu (Nr. 1); im Übrigen lehnte es den Asylantrag ab (Nr. 2). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dem Kläger drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Aus dem Sachvortrag des Antragstellers sei jedoch weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 24. Mai 2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen vor dem Bundesamt. Der IS habe nach Eroberung der Stadt schräg gegenüber von seinem Büro seine Zentrale eingerichtet. Anhänger des IS seien täglich bei ihm und seinen Mitarbeitern vorstellig geworden. Da er sich standhaft geweigert habe, die Organisation zu unterstützen, und sogar ein IS-Mitglied geschlagen habe, habe die Organisation ihn auf eine der Listen ihrer Gegner gesetzt. Bis zur vollständigen Auflösung des IS sei er im Falle seiner Rückkehr unmittelbar gefährdet, denn die IS-Anhänger würden ihn finden und töten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. Mai 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 27. Februar 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen. Dieser hat den Beteiligten Gelegenheit gegeben, zu einer beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid Stellung zu nehmen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Gemäß § 84 S. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Beteiligten hatten zudem Gelegenheit, zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid Stellung zu nehmen (§ 84 Abs. 1 S. 2 VwGO).

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingsei-genschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 22. Mai 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12), kommt dem Kläger die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 -, juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A -, juris Rn. 38). Für die Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist unerheblich, ob dem Ausländer vor der Ausreise eine interne Schutzmöglichkeit zur Verfügung gestanden hat. Die Beweiserleichterung greift vielmehr auch dann ein, wenn sich der Ausländer vor seiner Ausreise aus dem Heimatland nicht landesweit in einer ausweglosen Lage befunden hat (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08 - juris Rn. 18; VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 27).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, fällt der Kläger in den persönlichen Anwendungsbereich der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie. Der Kläger war vor seiner Ausreise aus dem Irak aufgrund seiner Religion und seiner politischen Überzeugung von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Eine Verfolgung wegen politischer Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG liegt vor, wenn diese an eine abweichende Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zu Fragen des öffentlichen Staats- oder Gesellschaftslebens angeknüpft, unabhängig davon, auf welchen Lebensbereich sich diese bezieht. Entscheidend ist, ob Opposition im weiteren Sinne bekämpft wird, und sei es auch nur durch „normale“ Strafverfolgung mit Politmalus (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3b AsylG, Rn. 2). Als Verfolgungen gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfol-gung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfol-gers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, welche der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Vorausset-zungen einer religiösen und politischen Verfolgung vor (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2, Var. 4 AsylG). Das Gericht ist aufgrund der substantiierten Ausführungen des Klägers in seiner Anhörung beim Bundesamt, deren Glaubhaftigkeit die Beklagte nicht in Frage gestellt hat, zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im Irak aufgrund seiner Konfession sowie seiner politischen Haltung unmittelbar von Verfolgung bedroht war, weil er sich weigerte, sich der Organisation anzuschließen und Anhängern des IS sein Büro in West-Mosul als Rekrutierungszentrale zur Verfügung zu stellen.

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel setzen die Anhänger des IS zum Ausbau und zur Konsolidierung ihrer Machtposition seit jeher auf die Strategie, in den von ihnen beanspruchten Gebieten Personen anzugreifen, die in oppositioneller Haltung zur Organisation stehen könnten. Dieses betrifft insbesondere Personen, die mit der irakischen Zentralregierung zusammengearbeitet haben, etwa Politiker, Regierungsmitarbeiter oder (ehemalige) Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte oder der örtlichen Polizei (siehe hierzu ausführlich: EASO, Country of Origin Information Report: Iraq. Targeting of Individuals, März 2019, S. 118 ff. m.w.N.). Auch nach dem Zusammenbruch des IS als territoriale Einheit mit dem Anspruch eines Staatsgebildes greift der IS weiterhin (ehemalige) Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte oder sonstige Oppositionelle an (EASO, a.a.O., S. 120 f.). Des Weiteren toleriert der IS auch im sonstigen gesellschaftlichen Leben keine religiösen Anschauungen und Praktiken, die von seiner eigenen fundamentalistischen Ideologie abweichen, seien sie sunnitischen oder schiitischen Ursprungs, und geht gewaltsam gegen derart Andersgläubige vor (EASO, a.a.O., S. 109 ff.).

Diese Erkenntnismittellage findet ihre sachliche Entsprechung in den glaubhaften Schilderungen des Klägers bei seiner Anhörung beim Bundesamt. Die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts im Einzelnen dokumentierte Aussage des Klägers enthält hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Der Kläger hat hierbei insbesondere glaubhaft geschildert, unter welchen situativen Umständen es zur körperlichen Auseinandersetzung mit dem IS-Mitglied kam und weshalb die Organisation gerade sein günstig gelegenes Büro als Rekrutierungsstelle nutzen wollte. Eine Verfolgung des Klägers stand auch unmittelbar bevor, weil dieser einen Anhänger des IS vor Zuschauern körperlich angegriffen und gedemütigt hatte, so dass dieser davonlief, um Verstärkung zu holen. Das unmittelbare Risiko körperlicher Vergeltungsmaßnahmen gegen den Kläger bestand auch deshalb, weil sich der IS in Mosul zu diesem Zeitpunkt in der Phase seiner Machkonsolidierung befand und ein besonderes Interesse daran hatte, etwaige Oppositionsbestrebungen bereits im Keim mit drastischen Maßnahmen zu ersticken. Auch der Umstand, dass der IS nach der überhasteten Flucht des Klägers nicht nur dessen Büro besetzte, sondern auch sein Privathaus, zeigt, dass die Organisation ein nachhaltiges Interesse am Kläger gefasst hat und seine Weigerung zur Zusammenarbeit sanktionieren wollte.

Die Annahme einer Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie entfällt auch nicht dadurch, dass der Kläger zunächst nach Dohuk floh und später ausreiste. Für die Frage, ob die Ausreise im Zusammenhang mit der Verfolgung stand, ist auf die Herkunftsregion des Klägers bzw. seinen dauerhaften freiwilligen Wohnort abzustellen, nicht hingegen auf ein Gebiet, in das er sich gerade gezwungenermaßen im Rahmen seiner Flucht begab und in dem er sich im Anschluss keine zumutbare Lebensgrundlage bilden konnte. Ob inländische Fluchtalternativen bestehen, betrifft zudem, wie dargestellt, nicht die Frage, ob eine Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie tatbestandlich überhaupt vorliegt, sondern die Prüfung, ob die Vermutungswirkung der Norm ausnahmsweise widerlegt ist.

Es liegen ferner derzeit keine stichhaltigen Gründe vor, welche aus der Sicht des Einzelrichters die Annahme rechtfertigen könnten, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak keinen religiös oder politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen mehr ausgesetzt sein würde (Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie). Die Gefährdung, welche nach Maßgabe der vorgenannten Erkenntnismittel von Anhängern des IS für Andersdenkende ausgeht, entfällt insbesondere nicht aufgrund des Umstandes, dass der damalige irakische Regierungschef Haider al-Abadi am 9. Dezember 2017 den Krieg gegen die IS-Terrormiliz in seinem Land für beendet erklärt hat (Artikel der Zeit vom 09.12.2017: „Irak verkündet Ende des Krieges gegen den IS“; siehe hierzu ausführlich: VG Hannover, Urteil vom 06.11.2018 – 6 A 5053/17, juris Rn. 26 ff.). In Bezug auf die Provinz Ninawa und deren Hauptstadt Mosul führt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem Länderbericht betreffend den Irak beispielsweise aus (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 20):

„Die Organisation IS („Islamischer Staat“) wurde zwar massiv zurückgedrängt (s. Länderinformationsblatt inkl. bisherige Kurzinformationen), befindet sich aber weiterhin in Teilen der Provinzen Ninewa, Salah Al-Din und Anbar. Es muss dort weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen IS-Verbündeten und den irakischen Sicherheitskräften, regional-kurdischen Peschmerga, Milizen und auch mit US-Luftschlägen gerechnet werden. In der Provinz Ta’mim kommt es regelmäßig zu Kämpfen zwischen terroristischen Gruppen und kurdischen Peschmerga (AA 24.10.2017). Veröffentlichungen von Audiobotschaften des IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi zielen darauf ab, die Gerüchte rund um seinen Tod zu entkräften und die IS-Kämpfer in Syrien und Irak zur Standhaftigkeit aufzurufen. In Mosul etwa wurde der IS zwar vor drei Monaten besiegt, die Organisation stellt dort jedoch noch immer eine Bedrohung dar. Alleine im Zeitraum 19.9.2017 bis 13.10.2017 wurden dort zwölf Selbstmordattentäter getötet.“

Eine Studie der Militärakademie West Point aus Juni 2017 verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass das Risiko von Aktivitäten IS-Aufständischer in den großen Städten des Irak variiert, wobei Ost-Mosul im Berichtszeitraum in Bezug auf die Häufigkeit von Anschlägen den ersten Platz unter 16 formell vom IS befreiten Städten einnahm. Hier kam es innerhalb der ersten 96 Tage nach der Befreiung der Stadt zu 417 registrierten Angriffen durch IS Anhänger mit insgesamt 52 Todesopfern, d.h. durchschnittlich 130,3 Angriffen pro Monat (Milton/al-`Ubaydi, The Fight Goes On: The Islamic State’s Continuing Military Efforts in Liberated Cities, Combating Terrorism Center at West Point United States Military Academy, Juni 2017, S. 4).

Bei Beurteilung der Frage, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie widerlegt wird, ist zudem maßgeblich in Rechnung zu stellen, dass die Organisation des IS im Irak bereits zweimal, d.h. in den Jahren 2008 und 2011, vermeintlich zerstört wurde, sich jedoch tatsächlich jeweils in den Untergrund verlagerte und allmählich wieder erstarkte. Nach Einschätzung eines Vertreters des irakischen Geheimdienstes halten sich zwischen 5.000 und 7.000 Kämpfer des IS weiterhin im Land auf (The Associated Press, Artikel vom 13. Mai 2019, „Iraqis remain fearful of ‘defeated‘ Islamic State militants“, S. 2 der Druckversion). Auch in der gegenwärtigen Situation gehen Beobachter, u.a. Vertreter der US-Militärkoalition, davon aus, dass die Terrororganisation IS sich die personelle und finanzielle Basis für einen erneuten Aufstieg zu einem günstigen Zeitpunkt, d.h. bei einem Machtvakuum, einem Bürgerkrieg oder einer Unterdrückung der sunnitischen Minderheit, dadurch aufrechterhält, indem sie – wie in der Anfangsphase der Organisation bzw. seiner Vorgängerorganisationen - Drogenschmuggel, Menschenhandel, Entführungen oder illegale Finanzgeschäfte betreibt, parallel ihre religiöse Ideologie im Internet verbreitet und Anschläge gegen den irakischen Staat und ihre sonstigen Gegner verübt. Derartige Aktivitäten kann der IS auch ohne einen territorialen Geltungsanspruch durchführen (The Associated Press, a.a.O., S. 2; Zeit Online, Artikel vom 27.12.2017, „Dschihad der Staatenlosen“). Hiermit korrespondierend nimmt die Bundesregierung in ihrem Bericht zur Lage in Irak und zum deutschen Irak-Engagement vom 4. September 2018 zur fortdauernden Gefährdung durch den IS wie folgt Stellung (BT-Drucks. 19/4070, S. 4, 14):

„Irak steht vor großen Herausforderungen. Das Ende der territorialen Kontrolle bedeutet nicht das Ende der Bedrohung durch IS. Die Terrororganisation existiert in Irak weiterhin im Untergrund und verübt Anschläge. Ihre Propagandamaschinerie läuft weiter. Die militärischen Erfolge im Kampf gegen IS müssen gesichert und ein Wiedererstarken der Terrororganisation dauerhaft verhindert werden.“

„Nach wie vor stellt IS für Irak, die Region und weltweit eine terroristische Bedrohung dar. […] In Irak ist die Terrororganisation inzwischen zu einer Kampfweise mit verstärkt asymmetrischen Mitteln aus dem Untergrund heraus übergegangen. Sie ist in ihren ehemaligen Kerngebieten (insbesondere Provinz Anbar, Raum Kirkuk, nördlich von Bagdad) weiter aktiv. Daher muss IS weiter entschlossen und nachhaltig bekämpft werden – auch mit militärischen Fähigkeiten. Ein Wiedererstarken von IS würde Sicherheitsinteressen Deutschlands, Iraks und der internationalen Staatengemeinschaft bedrohen. Ein vorzeitiger Abbruch der irakischen und internationalen Bemühungen im Kampf gegen IS würde das Erreichte bei der zivilen Stabilisierung und den Übergang zum Wiederaufbau gefährden.“

Die Aussage, dass die Ziele des IS weiterhin erhebliche Unterstützung bei der sunnitisch-arabischen Bevölkerung des Irak genießen – insbesondere in Mosul, dem historischen Zentrum des sunnitisch-arabischen Nationalismus – findet eine weitere Bestätigung in einer Feldstudie der Militärakademie West Point aus April 2018, in deren Rahmen 70 sunnitische Araber im Alter von 18 bis 31 Jahren (Durchschnittsalter: 23,81 Jahre), die sich auf fünf Camps für Binnenvertriebene zwischen Mosul und der Kurdischen Autonomieregion verteilten, für durchschnittlich zwei Stunden unter Zusicherung der Gewährung von Anonymität befragt wurden (Atran u.a., The Islamic State’s Lingering Legacy among Young Men from the Mosul Area, Combating Terrorism Center at West Point, April 2018, Volume 11, Issue 4, S. 3 der Druckversion). Auf die Frage hin, was die örtliche Gemeinschaft an der Herrschaft des IS positiv bewertete, antworteten sieben Prozent der Befragten (n = 5) mit: „Nichts.“. 93 Prozent der Interviewpartner (n = 65) erwähnten hingegen das „Gute“, was der IS zumindest zu Beginn seiner Herrschaft bewirkt habe, insbesondere im Hinblick auf die Landesverteidigung, das Engagement für die Religion, die Implementierung des Rechts der Scharia sowie die Gewährleistung von Sicherheit, Stabilität und persönlicher Bewegungsfreiheit (Atran u.a., a.a.O., S. 5 der Druckversion). Bei der Frage, für welches Ziel die Interviewpartner am ehesten bereit wären, Opfer zu bringen (d.h. in Gestalt des Verlustes des Arbeitsplatzes oder von Einkommen, der Hinnahme der Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe, des Einsatzes von Gewalt, der Opferung des eigenen Lebens sowie der Hinnahme der körperlichen Bestrafung der eigenen Kinder), belegte das Ziel der Herrschaft der Scharia den ersten Rangplatz, die Verteidigung der Demokratie hingegen den letzten (Altan u.a., a.a.O., Figure 5, S. 9 der Druckversion).

Das größte Problem Mosuls besteht dabei im allgegenwärtigen Mangel an rechtsstaatlicher Ordnung (siehe hierzu ausführlich: VG Hannover, Urteil vom 07.06.2018 – 6 A 7652/16, juris Rn. 35 ff.). Sicherheitsprobleme sind weitverbreitet und reichen von signifikanten Kriminalitätsmeldungen, Plünderungen, Berichten über Vergeltungsmaßnehmen durch unbekannte bewaffnete Gruppen, Angriffen von IS-Kämpfern in West-Mosul und Drohungen von extremistischen Schläferzellen in Ost-Mosul. Obgleich die irakische Regierung technisch die Kontrolle über die Stadt ausübt, erweisen sich die faktische Herrschaft und die Präsenz der staatlichen Sicherheitskräfte im Straßenalltag als äußerst begrenzt (Global Public Policy Institute (GPPI), Report: Mosul, 21. August 2017, S. 9 ff. der Druckversion). Ost-Mosul befindet sich nominell unter der Kontrolle der irakischen Bundespolizei und der regulären ISF-Truppen, die von einer Handvoll der „Tribal Mobilization Forces“ (TMF) unterstützt werden, d.h. den von der US-Militärkoalition ausgebildeten sunnitischen Stammestruppen der PMF-Milizen. Die tatsächliche Kontrolle dieser Truppen über das Gebiet ist schwach, da sie lediglich eine begrenzte Anzahl verstreuter Checkpoints in der Stadt unterhalten. In West-Mosul kommen ebenfalls TMF-Truppen zum Einsatz. Die Sicherheit in der Stadt wird nahezu vollständig durch die Armee gewährleistet. Nahezu sämtliche Polizeistützpunkte wurden zerstört. Berichten zufolge sollen mittlerweile mehrere tausend Polizeikräfte rekrutiert worden seien; das Vertrauen der örtlichen Bevölkerung in die Polizei ist jedoch äußerst gering (GPPI, a.a.O., S. 10 f.). Ob die zwischenzeitlich neueingestellten Polizisten der Kontrolle schiitischer Milizen unterliegen, wird von örtlichen Auskunftspersonen unterschiedlich beurteilt (Rise-Foundation, Post-ISIS Mosul Context Analysis, Juli 2017, S. 13). In der Stadt operieren zahlreiche lokale, hybride und sub-staatliche Sicherheitskräfte („Local, hybrid and sub-state security forces“ (LHSF), GPPI, a.a.O., S. 10). Der Mangel an staatlicher Kontrolle reicht soweit, dass es nach Auskunft einer örtlichen Auskunftsperson gegenüber der Rise-Foundation schwierig ist, überhaupt zu sagen, welche Gruppen in Ost-Mosul aktiv sind, wobei die Vermutung bestehe, dass zahlreiche Fälle von Kidnapping und Gewaltausübung auf das Wirken von PMF-Milizen zurückgehe (GPPI, a.a.O., S. 12 f.).

Vor diesem Hintergrund warnen aktuell zahlreiche irakische Parteien vor der prekären Sicherheitslage in Mosul und verweisen darauf, dass die Umstände deutlich denjenigen ähneln, welche dem IS im Jahr 2014 die Übernahme der Stadt ermöglichten (The Jamestown Foundation – Terrorism Monitor, Artikel vom 11. Januar 2019, „Conditions in Mosul Ripen for Return of Islamic State“, S. 1 der Druckversion). Dieses betrifft insbesondere die weiterhin bestehenden sunnitisch-schiitischen Spannungen, die grassierende Korruption unter den irakischen Sicherheitskräften, sektiererische Gewalt insbesondere durch die vorwiegend schiitischen PMF-Milizen sowie die Vernachlässigung des Wiederaufbaus der Stadt durch die schiitisch-dominierte irakische Zentralregierung (The Jamestown Foundation, a.a.O., S. 1-3). Der IS erweist sich gegenwärtig zwar als zu schwach, um ein seiner bisherigen Herrschaft vergleichbares System der Kontrolle über die Stadt zu errichten, ist jedoch fest entschlossen, die Herrschaft über Mosul zurückzuerlangen. Die dargestellte Korruption, ein Mangel an Aussöhnung und die Abwesenheit einer geordneten Gerichtsbarkeit bilden hierfür ein ebenso günstiges Umfeld wie der Umstand, dass die US-Streitkräfte sich aus Syrien zurückziehen, da Mosul bereits im Jahr 2014 von IS-Truppen überrannt wurde, die sich zuvor in Syrien eine feste Basis errichtet hatten (The Jamestown Foundation, a.a.O., S. 3 f.). Seit der Eroberung der Stadt Baghouz, dem letzten Stützpunkt des IS in Syrien, sollen bereits mindestens 1.000 Kämpfer des IS die Grenze zum Irak überschritten haben, wo sie über gut ausgebaute und ausgerüstete Tunnelsysteme verfügen und in Schläferzellen von fünf bis zehn Personen operieren (Foreign Policy, Artikel vom 28. Mai 2019, „How ISIS Still Threatens Iraq“, S. 1 f. der Druckversion). Derartige Zellen existieren insbesondere in den abgelegenen ländlichen Gebieten der Provinz Ninawa (Foreign Policy, a.a.O., S. 4). Im Januar 2019 ermordeten Anhänger des IS beispielsweise in dem am Rand von Mosul gelegenen Ort Badoush, in welchem seit der Befreiung der Stadt bereits 20 Terrorangriffe zu verzeichnen waren, drei Angehörige einer Familie, weil diese Informationen an die irakischen Sicherheitskräfte geliefert hatten (The Associated Press, Artikel vom 13. Mai 2019, „Iraqis remain fearful of ‘defeated‘ Islamic State militants“, S. 1 f. der Druckversion). Im Mai 2019 setzten Anhänger des IS zwölf Häuser in einer Ortschaft in West-Mosul in Brand, in der sie zuvor bereits den örtlichen Bürgermeister und fünf seiner Angehörigen ermordet hatten (Iraqi News, Islamic State militants set fire to 12 houses in Mosul, Artikel vom 18. Mai 2019). Ebenfalls im Mai 2019 töteten irakische Sicherheitskräfte drei IS-Selbstmordattentäter in Mosul (Iraqi News, Artikel vom 13. Mai 2019, „Iraqi Troops kill three Islamic State suicide bombers in Mosul“) und verhafteten den „Emir“ der Mörser-Brigade des IS (Iraqi News, Artikel vom 19. Mai 2019, „Security forces arrest IS Mortar Brigade Emir in Mosul“). Ende Mai 2019 töteten irakische Sicherheitskräfte überdies in Gefechten 14 Anhänger des IS im Südwesten von Mosul (Iraqi News, Artikel vom 29. Mai 2019, „14 Islamic State terrorists killed in clashes with security forces in Mosul“).

Unabhängig von der bereits erlittenen Vorverfolgung durch Anhänger des IS besteht für den arabischstämmigen Kläger im Falle einer Rückkehr nach Mosul des Weiteren das beachtliche Risiko, in Anknüpfung an seine sunnitische Konfession bzw. die ihm zugeschriebene politische Haltung zu Unrecht als Unterstützer des IS beschuldigt und durch PMF-Milizen oder andere lokale Akteure verfolgt zu werden (siehe hierzu ausführlich: VG Hannover, Urteil vom 07.06.2018 – 6 A 7652/18, Rn. 37 ff.). Gegenwärtig bestehen in der Stadt massiven Spannungen bezüglich des Verbleibs von Familien, deren Mitglieder (zu Recht oder zu Unrecht) dem Umfeld des IS zugeschrieben werden. Viele Iraker sehen die Einwohner Mosuls als willfährige Kollaborateure der Organisation während ihrer dreijährigen Herrschaft über die Stadt (The Independent, Artikel vom 13. Juli 2017, „Mosul’s Sunni residents face mass persecution als Isis ‘collaborators‘“, S. 1, 4). Die Wut über die erheblichen Verluste bei der Rückeroberung der Stadt sowie der Hass, den sowohl sunnitische als auch schiitische Gruppierungen gegen den IS als gemeinsamen Feind verspüren, manifestieren sich nunmehr in Repressionen und Racheaktionen gegen diejenigen, deren Familien als mit dem IS affiliiert angesehen werden (Rise-Foundation, Post-ISIS Mosul Context Analysis, Juli 2017, S. 3,). Diese reichen von Protesten der örtlichen Bevölkerung mit dem Ziel, die irakischen Sicherheitskräfte zur gewaltsamen Vertreibung der betroffenen Familien zu animieren, bis hin zur außergerichtlichen Tötung von Personen, welche der IS-Zugehörigkeit verdächtigt werden, wobei sich die Täter in den Reihen der Zivilisten, der Mitglieder der regulären Streitkräfte oder der PMF-Milizen finden (Rise Foundation, a.a.O., S. 22). Nach Erkenntnissen von Human Rights Watch kann nahezu jeder als potentieller Kollaborateur oder Sympathisant des IS angesehen werden, wobei (zu Unrecht) Beschuldigten unter Folter Geständnisse abgepresst werden und Standgerichte die Betreffenden zu Tausenden ohne rechtsstaatliches Verfahren aburteilen, im Regelfall basierend auf keinerlei tatsächlichen Beweisen mit Ausnahme der vorgenannten Geständnisse oder der Zeugenaussagen anonymer Informanten (The Associated Press, Artikel vom 13. Mai 2019, „Iraqis remain fearful of ‘defeated‘ Islamic State militants“, S. 3 der Druckversion). Als Anlass zur Einstufung als Anhänger oder Sympathisant des IS, welche die Sicherheitsbehörden anhand einer Vielzahl, sich zum Teil überlappender Faktoren vornehmen, kann es dabei bereits ausreichen, dass eine Person alleinstehend und im wehrfähigen Alter ist oder in einer Gegend gelebt hat, deren Bewohner vorwiegend mit dem IS sympathisierten (VG Hannover, a.a.O., Rn. 41 ff.). Dieses Risiko verwirklicht sich auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Fall des alleinstehenden Klägers, da sein Geschäftsbüro nach seiner Flucht als Stützpunkt bzw. Rekrutierungsbüro des IS diente und infolgedessen nach der Befreiung Mosuls von der Armee zerstört wurde, wobei Soldaten zusätzlich sein in Ost-Mosul befindliches Privathaus besetzten.

Die dem Kläger (weiterhin) drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung von staatlichen Akteuren wie den regulären irakischen Sicherheitskräften oder den PMF-Milizen ausgehen (Nr. 1), aber auch von nichtstaatlichen Akteuren wie dem IS (Nr. 3), sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen – wie im vorliegenden Fall – erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Dem Kläger steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/18, juris Rn. 52 ff.) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus Ap-ril 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwär-tigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gege-ben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2; ebenso: Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigen-schaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.