Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.08.1991, Az.: 4 L 1941/91
Notwendiger Lebensunterhalt; Fernsehgerät; Hilfe zum Lebensunterhalt; Sozialhilfe
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 12.08.1991
- Aktenzeichen
- 4 L 1941/91
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1991, 13108
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1991:0812.4L1941.91.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover - 26.03.1991 - AZ: 3 A 475/90
- nachfolgend
- BVerwG - 24.02.1994 - AZ: BVerwG 5 C 34.91
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer Hannover - vom 26. März 1991 wird zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Den Antrag der Klägerin, ihr eine einmalige Leistung zu gewähren, damit sie sich ein Fernsehgerät beschaffen könne, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. August 1990 ab. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Bescheid vom 15. November 1990 zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, ein Fernsehgerät zähle nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht zum notwendigen Lebensunterhalt gemäß § 12 BSHG.
Mit Urteil vom 26. März 1991 hat das Verwaltungsgericht der Klage teilweise stattgegeben (einmalige Leistung, um ein Schwarz-Weiß Fernsehgerät zu beschaffen). Es hat sich auf die Rechtsprechung des Senates berufen.
Mit ihrer Berufung beantragt die Beklagte,
das Urteil des Verwaltungsgerichtes zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung, über die der Senat nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130 a VwGO durch Beschluß entscheidet, ist nicht begründet. Der Senat hält an seiner vom Verwaltungsgericht referierten
Rechtsprechung fest, wonach ein Fernsehgerät (Schwarz-Weiß-Gerät) zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne von § 12 BSHG zählt. Die abweichende Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes (Urt. v. 3. Nov. 1988, FEVS 38, 89) teilt der Senat nicht.
Mit der Begründung dieses Urteils hat sich der Senat in seinem Urteil vom 12. Juli 1989 (4 OVG A 200/88) kritisch auseinandergesetzt. Der Senat hat dazu ausgeführt:
"Nach der ständigen Rechtsprechung des Senates orientiert sich der Begriff des notwendigen Lebensunterhaltes an dem in § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG festgelegten Grundsatz, daß dem Hilfesuchenden die Führung eines der Menschenwürde entsprechenden Lebens ermöglicht werden soll. Dies ist nicht schon dann gewährleistet, wenn das physiologisch Notwendige vorhanden ist; es ist vielmehr zugleich auf die jeweiligen Lebensgewohnheiten und Erfahrungen der Bevölkerung, insbesondere der Bürger mit niedrigem Einkommen, abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22. 4. 1970, BVerwGE 35, 178 [BVerwG 22.04.1970 - V C 98/69] = FEVS 17, 241). Dem Hilfesuchenden soll es ermöglicht werden, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben (vgl. BVerwG, Urt. v. 11. 11. 1970, BVerwGE 36, 256 [BVerwG 11.11.1970 - V C 32/70] = FEVS 19, 86). Der Senat vermag sich nicht dem Hinweis des Bundesverwaltungsgerichtes (Urt. v. 3. 11. 1988, FEVS 39, 89) anzuschließen, er habe bei den erstgenannten Urteilen "unter Außerachtlassung der den Entscheidungen zugrundeliegenden Sachverhalte Sinn und Tragweite von aus ihrem Zusammenhang gelösten Ausführungen ... verkannt". Mag das Bundesverwaltungsgericht in den genannten Urteilen auch bestimmte Konstellationen beurteilt haben, so hat es doch über die Beurteilung des Einzelfalls hinausgehende Überlegungen niedergelegt (die der Senat nach wie vor für richtig hält), und es hat diese Überlegungen zudem noch in seinem Urteil vom 12. April 1984 (BVerwGE 69, 146 = FEVS 33, 441) erneut bekräftigt. In der letztgenannten Entscheidung, die das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 3. November 1988 nicht erwähnt hat, hat es nämlich nochmals ausgeführt, für die Bestimmung des "notwendigen Lebensunterhaltes" i.S. von § 12 BSHG komme es auf die herrschenden Lebensgewohnheiten und Erfahrungen der Bevölkerung an. Dabei hat es diese Auffassung noch durch die Wendung verstärkt, der "allgemeine Lebenszuschnitt" sei ein Bezugspunkt für die Leistungen der Sozialhilfe, von dem die Träger der Sozialhilfe nicht abweichen dürften. Auch diese Überlegungen, denen sich der Senat und andere Oberverwaltungsgerichte (vgl. Giese/Rademacker, Ausgewählte Fragen des Sozialhilferechts, NWVBl 1989, 163 m.w.Nachw.) angeschlossen haben, hält der Senat nach wie vor für zutreffend.
Für die Beantwortung der Frage, ob ein Gegenstand zum notwendigen Lebensunterhalt gehört, ist es also von erheblicher Bedeutung, ob Personen mit niedrigem Einkommen häufig oder gar durchweg mit solchen Gegenständen ausgestattet sind. Der Senat hebt an dieser Stelle hervor, daß er dabei in ständiger Rechtsprechung allein auf die Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen abgestellt hat, so daß der Hinweis des Bundesverwaltungsgerichtes (Urt. v. 3. 11. 1988, aaO), der "Begriff 'Nichthilfeempfänger'" umfasse einen überaus unbestimmten Kreis von Personen, deren Einkommen "zwischen dem durchschnittlichen Nettoarbeitseinkommen unterer Lohngruppen (vgl. § 22 Abs. 3 Satz 2 BSHG, § 4 Regelsatzverordnung) und dem Einkommen eines Millionärs" liege, dieser Rechtsprechung nicht entgegensteht. Die "Dichte" der Versorgung mit Gütern des Bedarfs ist als Indiz für die in der Bevölkerung herrschende Auffassung über deren Notwendigkeit sowie über die diesbezüglichen Lebensgewohnheiten und Erfahrungen anzusehen. Nur dieser Anknüpfungspunkt ist geeignet, den Strukturprinzipien des Bundessozialhfegesetzes gerecht zu werden. Die Besonderheiten des Einzelfalles bzw. dieser Begriff lassen es nicht allein und durchweg zu, den Begriff des "notwendigen Lebensunterhaltes" sachgerecht auszulegen. Was zum notwendigen Lebensunterhalt rechnet, steht nach allgemeiner Auffassung (vgl. BVerwG, Urt. v. 30. 11. 1966, BVerwGE 25, 357 = FEVS 14, 243; Schulte/Trenk-Hinterberger, Sozialhilfe, 2. Aufl., S. 11 f.) nicht ein für allemal fest, sondern hängt von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Nur die Betrachtung der Verhältnisse in der Gesellschaft führt dazu, daß auch der Mangel an höher bewerteten Gütern erfaßt wird, deren Besitz in der Gesellschaft "unabdingbar" geworden ist. Die Auslegung des Begriffes des "notwendigen Lebensunterhalts" hat keine soziale Adäquanz mehr, wenn sie auf einem bestimmten Niveau festgehalten wird, obwohl sich das Verhalten der Verbraucher grundlegend geändert hat (vgl. Galperin, Stand und Blockade der "Warenkorb-Reform", NDV 1983, 118). Da sich der Begriff des "notwendigen Lebensunterhaltes" nicht ohne Bezug zu den Verhältnissen der Gesellschaft bestimmen läßt, muß also auch auf die "Dichte" der Versorgung mit Verbrauchs- und anderen Gütern abgestellt werden. Jeder andere Ansatz führt zur Beliebigkeit dieser Begriffsbestimmung (vgl. Trenk-Hinterberger, Würde des Menschen und Sozialhilfe - Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, zu § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG, ZfSH 1980, 46).
Allerdings ist mit der Bestimmung der "Versorgungsdichte" der "notwendige Lebensunterhalt" i.S. von § 12 BSHG nicht bereits abschließend beschrieben. Es läge ein Mißverständnis vor, wenn die Rechtsprechung des Senates dahin verstanden würde, es komme nur auf die "Dichte der Ausstattung" der Haushalte mit einem Gegenstand des Bedarfs an. Der Senat hat vielmehr in ständiger Rechtsprechung angenommen, daß ein bestimmter Gegenstand trotz einer hohen "Versorgungsdichte" dann nicht zum "notwendigen Lebensunterhalt" rechnet, wenn er nur eine Annehmlichkeit darstellt, etwa dann, wenn der Hilfeempfänger auf den Gegenstand nicht angewiesen ist, weil er einen anderen für denselben Zweck verwenden kann und ihm dies auch zuzumuten ist, weil dessen Gebrauch beispielsweise nur geringen zeitlichen und körperlichen (Mehr-)Aufwand erfordert. Insoweit hat der Senat in ständiger Rechtsprechung bedacht, daß "es... nicht Aufgabe der Sozialhilfe" ist, "eine höchstmögliche Ausweitung der Hilfen zu gewährleisten" (vgl. BVerwG, Urt. v. 26. 1. 1966, BVerwGE 23, 149 = FEVS 14, 81). In ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urt. v. 8. 3. 1989 - 4 VG A 121/87 -) hat der Senat zudem bei der Bestimmung des "notwendigen Lebensunterhaltes" § 3 Abs. 1 BSHG angewandt und (aaO) beispielsweise ausgeführt, für einen Hilfesuchenden sei eine eigene Waschmaschine dann nicht notwendig, wenn er in einem Mehrfamilienhaus lebe, in dem der Vermieter eine Gemeinschaftswaschanlage eingerichtet habe, und es dem Hilfesuchenden zuzumuten sei, diese zu benutzen. Jedoch ist nur dann auf § 3 Abs. 1 BSHG einzugehen, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles dazu Anlaß geben. Geht es darum, (sozial-)typische Sachverhalte zu betrachten, und weicht der vom Gericht zu beurteilende Fall nicht von einer typischen Fallkonstellation ab, so hilft § 3 Abs. 1 BSHG nicht weiter, also etwa dann, wenn zwischen dem Haushalt eines Hilfeempfängers und den Haushalten der Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen keine entscheidungserheblichen Unterschiede bestehen. Dementsprechend wird in dem "Statistikmodell", das in Zukunft der Bemessung der Regelsätze zugrunde liegen soll, auf das typische Verbraucherverhalten der Referenzgruppe abgestellt."
Daran hält der Senat fest. Das bedeutet hier:
Da nahezu alle Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland, auch die mit geringem Einkommen, mit Fernsehgeräten ausgestattet sind (Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1989, S. 461), ist also auch Sozialhilfeempfängern, wenn sie es wünschen, zu ermöglichen, ihre Bedürfnisse nach Information, Bildung und Unterhaltung über das Medium Fernsehen zu decken, zumal gebrauchte Schwarz-Weiß-Fernsehgeräte zu sehr niedrigen Preisen gehandelt werden und nicht teurer sind als ein neues Rundfunkgerät (vgl. Senat, Beschluß vom 17. Mai 1990 - 4 M 45/90 -).
Auch wenn man bei der Auslegung des § 1 Abs. 2 S. 1 BSHG vornehmlich auf die Zumutbarkeit abstellt (so jetzt BVerwG, Urteil v. 14. 3. 1991 - 5 C 70/86 -), gelangt man zu keinem anderen Ergebnis. Denn der Besitz eines Fernsehgerätes gilt in der Bevölkerung - abgesehen von wenigen Personen, die eine besondere Einstellung zu dem Medium Fernsehen haben - heutzutage als Selbstverständlichkeit.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.
Der Senat läßt gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zu, weil er von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 3. November 1988 (aaO) abgewichen ist.
Jacobi
Klay
Atzler