Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 08.09.2022, Az.: L 8 SO 91/18

Eingliederungshilfe; Erstattungsanspruch; Folgeantrag; Geschäftsführung ohne Auftrag; gesetzlicher Auftrag; gleichartige Leistungen; Grundsatz der Leistungskontinuität; Heimerziehung; Hilfe für junge Erwachsene; Hilfe zur Erziehung; Jugendhilfeträger; notwendige Beiladung; Rehabilitationsträger; selbstständige Lebensführung; Sozialhilfeträger; Sozialleistung iSd § 104 SGB X; Verhältnis von Jugend- und Sozialhilfe; Vorrang-Nachrang-Verhältnis; Weiterleistungspflicht nach § 86c Abs 1 S 1 SGB VIII; wesentliche geistige Behinderung; Zurechnung von Sozialleistungen; Zuständigkeit, örtliche; Zuständigkeitswechsel

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
08.09.2022
Aktenzeichen
L 8 SO 91/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59298
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 21.03.2018 - AZ: S 19 SO 76/17 WA

Fundstelle

  • JAmt 2023, 141-147

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers für ein einheitliches Rehabilitationsgeschehen ist bei einem sog. Weitergewährungs- bzw. Folgeantrag nicht nach § 14 SGB IX neu zu bestimmen (vgl. BSG v. 28.11.2019 - B 8 SO 8/18 R - juris Rn 14 f.).

2. Für die Beurteilung, ob neben dem jugendhilferechtlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (Heimerziehung) auch ein inhaltlich entsprechender Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe besteht, ist es unerheblich, ob die stationäre Maßnahme bei entsprechenden familiären Ressourcen nicht erforderlich gewesen wäre. Eine gegenüber Leistungen nach dem SGB VIII vorrangige Leistungsverpflichtung des sachlich und örtlich zuständigen Sozialhilfeträgers besteht unabhängig davon, welche Behinderung im Vordergrund steht und ob für die konkrete Maßnahme eine Behinderung oder ein Erziehungsdefizit in der Herkunftsfamilie ursächlich war (Anschluss an BSG, Urteil v. 4.4.2019 - B 8 SO 11/17 R - juris Rn 14).

3. Gegenstand eines Erstattungsverfahrens iSd §§ 102 ff SGB XII sind nur Sozialleistungen, die der Erstattung fordernde Sozialleistungsträger selbst erbracht hat oder die ihm wegen eines Vertretungs- oder Auftragsverhältnisses kraft individueller oder genereller rechtsgeschäftlicher Vereinbarung zwischen Sozialleistungsträgern oder kraft Gesetzes rechtlich zuzurechnen sind (vgl. BSG, Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R - juris Rn. 22). Die einem bisher zuständigen Jugendhilfeträger nach § 89c Abs 1 S 1 SGB VIII von dem nunmehr zuständigen Jugendhilfeträger erstatteten Leistungen sind diesem in einem Erstattungsstreit gegen einen möglicherweise vorrangig zuständigen Sozialhilfeträger nicht als (eigene) Sozialleistungen iSd § 104 S 1 SGB X zuzurechnen.

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 21. März 2018 geändert.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 1.359,17 € zu zahlen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 386.133,54 € festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von für die Zeit von Ende Februar 1999 bis Mitte August 2008 angefallenen Aufwendungen der Jugendhilfe für Frau G. H., geb. I. J. (Hilfeempfängerin), i.H.v. etwa 386.000,00 €. Der klagende Landkreis, der diese Aufwendungen als Jugendhilfeträger der (vorleistenden) Stadt W erstatten musste, verlangt nun unter Berufung auf den Nachrang der Jugendhilfe seinerseits Kostenerstattung von dem beklagten bayerischen Bezirk, einem überörtlichem Sozialhilfeträger.

Anfang 1995 veranlasste das Jugendamt der Stadt W im Rahmen der Hilfe zur Erziehung die Unterbringung der am 24.7.1989 geborenen Hilfeempfängerin in einem Heim der Stiftung K. Katholischen Kinderpflege (später umbenannt in Jugendhilfe L., unter Trägerschaft des Diakonischen Werkes W) in W (Bescheid vom 26.1.1995); in der Einrichtung lebten bereits drei ältere Geschwister der Hilfeempfängerin, weil aufgrund der persönlichen Verhältnisse ihrer Eltern, insbesondere der chaotischen Wohnungssituation, das geistige und leibliche Wohl der Kinder gefährdet war. Anlass der Heimaufnahme der Hilfeempfängerin war insbesondere die Trennung ihrer Eltern; die Mutter lebte mit ihrem neuen Partner und einer weiteren Person in einer kleinen Einzimmerwohnung und war - auch wegen einer intellektuellen Minderbegabung - mit der Bewältigung der Trennung, Wohnungssuche, Arbeit, neuen Partnerschaft und der (alleinigen) Erziehung der ebenfalls bei ihr lebenden Hilfeempfängerin völlig überfordert.

Nachdem bei der Hilfeempfängerin wegen erheblicher Sprachentwicklungsstörungen in mehreren Bereichen (verzögerte Sprachentwicklung, multiple Stammelfehler, Dysgrammatismus, ein reduzierter Wortschatz, Verdacht auf Teilleistungsstörungen) eine körperlich wesentliche Behinderung i.S. des § 1 Nr. 6 Eingliederungshilfe-Verordnung (EingH-VO) festgestellt worden war (vgl. die landesärztlichen Stellungnahmen des Prof. Dr. M., W, vom 2.11.1994 und 11.7.1995), gewährte ihr der Beklagte bis Juli 1996 sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe durch Kostenübernahme für eine (zusätzliche) Betreuung in einer Tagesstätte (Bescheide vom 23.1. und 20.10.1995). In dem im Juni 1995 vom Jugendamt erstellten Hilfeplan (§ 36 SGB VIII) wurden deutliche Entwicklungsdefizite im motorischen und sprachlichen Bereich sowie im emotional-sozialen Bereich (spezielle Ängste, geringes Selbstvertrauen, unterentwickelte soziale Kompetenz) und eine körperliche Vernachlässigung (obere Zahnreihe abgefault) festgehalten. Ähnliche Defizite sind auch in dem Hilfeplan aus Januar 1997 genannt, erstmals aber auch eine geistige Behinderung (ebenfalls in dem Hilfeplan aus Juni 1999). Im April 1998 wurden wegen eines „Entwicklungsrückstands“ der Hilfeempfängerin ein Grad der Behinderung von 80 sowie die Merkzeichen G und B festgestellt (vgl. Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung W - Versorgungsamt - vom 28.4.1998; die Feststellung war zunächst befristet bis April 2002 und später bis Juli 2011).

Am 28.2.1999 zog die seit der Scheidung Ende 1997 allein sorgeberechtigte Mutter der Hilfeempfängerin in den im Kreisgebiet des Klägers liegenden Ort N.. Der Aufforderung der Stadt W aus April 1999, den Hilfefall als nun örtlich zuständiger Jugendhilfeträger zu übernehmen und die ab dem Zuzug der Mutter entstandenen Kosten der Jugendhilfe zu erstatten, kam der Kläger unter Hinweis auf die Zuständigkeit des Beklagten für die vorrangige Sozialhilfe - Eingliederungshilfe für geistig behinderte junge Menschen - wiederholt nicht nach. In den in diesem Zusammenhang vom Jugendamt der Stadt W eingeholten Gutachten der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der J-X-Universität W (Universitätsklinikum) vom 9.10.2000 (ein kinder- und jugendpsychiatrisches Fachgutachten sowie ein psychologisches Zusatzgutachten) wurde u.a. eine intellektuelle Leistungsfähigkeit im deutlich unterdurchschnittlichen Bereich i.S. einer leichten Intelligenzminderung mit einem IQ von 57 entsprechend einer leichtgradigen, aber wesentlichen geistigen Behinderung (§ 2 EingH-VO) festgehalten. Eine seelische bzw. eine Mehrfachbehinderung wurde ausgeschlossen. Allerdings sei die Unterbringung in dem Kinderheim vorwiegend aus erzieherischen Gründen notwendig geworden, weil in Bezug auf die geistige Behinderung bei entsprechenden familiären Ressourcen eine teilstationäre Maßnahme hätte ausreichen können. Durchaus möglich sei es aber, dass die Hilfeempfängerin aufgrund der geistigen Behinderung auch bei weiteren Fortschritten in ihrer Entwicklung nicht zu einer selbstständigen Lebensführung befähigt sein werde. Eine entsprechende Beurteilung findet sich auch in dem Gutachten des Universitätsklinikums vom 29.6.2005, nach dem die Heimunterbringung weiterhin aus erzieherischen Gründen notwendig sei und die leichtgradige geistige Behinderung aufgrund der weit unterdurchschnittlichen intellektuellen Leistungsfähigkeit (Gesamt-IQ: 63) eine vollstationäre Maßnahme nicht erfordere, weil eine Betreuung in einem intakten familiären Umfeld ausreiche. Nach einer weiteren gutachterlichen Stellungnahme des Universitätsklinikums vom 2.8.2007 war die Hilfeempfängerin wegen ihrer wesentlichen geistigen Behinderung im lebenspraktischen als auch im sozialen Bereich kontinuierlich auf Hilfestellung angewiesen und nicht zu einer eigenständigen Lebensführung fähig.

Nachdem die Stadt W (Jugendamt) den Antrag der Hilfeempfängerin vom 7.8.2007 auf Verlängerung der Jugendhilfemaßnahme ab Volljährigkeit (ab dem 24.7.2007) an den Kläger weitergeleitet (Eingang am 14.8.2007) und dieser weiterhin die Übernahme des Falles abgelehnt hatte, übernahm die Stadt auch weiterhin (bis zum 31.7.2008) die Kosten für die Heimunterbringung im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) als bisher zuständiger Jugendhilfeträger nach § 86c SGB VIII (Bescheid vom 1.10.2007). Nach rechtskräftiger Verurteilung zur Erstattung der Jugendhilfeaufwendungen der Stadt W (für die Zeit ab 28.2.1999) und zur zukünftigen Fallübernahme in eigener Zuständigkeit (dazu gleich) übernahm der Kläger für die Hilfeempfängerin die vom 1. bis 14.8.2008 angefallenen Heimkosten der O. Jugendhilfe i.H.v. 1.359,17 € (durch Überweisung ohne schriftlichen Bescheid; vgl. die korrigierte Rechnung der Einrichtung Nr. 410333 vom 31.3.2019). Nach Abschluss der Schulausbildung wechselte die Hilfeempfängerin zum 15.8.2008 in das St. P., eine vollstationäre Einrichtung der Behindertenhilfe, sowie in eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM); die damit einhergehenden Kosten übernahm im Weiteren der Beklagte als (sozialhilferechtliche) Eingliederungshilfe (Bescheid vom 22.12.2008).

Auf die 2002 von der Stadt W beim Verwaltungsgericht (VG) Stade erhobene Klage wurde der Kläger dem Grunde nach verurteilt, der Stadt die Kosten für die Unterbringung der Hilfeempfängerin seit dem 28.2.1999 gemäß § 89c SGB VIII zu erstatten und die Jugendhilfe für die minderjährige Hilfeempfängerin zukünftig in eigener örtlicher Zuständigkeit zu erbringen (VG Stade, Urteil vom 26.5.2004 - 4 A 2150/02 -). Zu diesem Verfahren war der Beklagte notwendig beigeladen (Beschluss des VG vom 8.3.2004). Die vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht (OVG) zugelassene Berufung des Klägers (Beschluss vom 6.9.2005 - 12 LA 361/04 -) hatte keinen Erfolg (Urteil des OVG vom 25.7.2007 - 4 LB 90/07 -), ebenso die Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG; Beschluss vom 22.5.2008 - 5 B 22.07 -). Das OVG führte zur Begründung u.a. aus, die Stadt W habe der Hilfeempfängerin als bisher zuständiger Jugendhilfeträger i.S. des § 86c SGB VIII rechtmäßig Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34 SGB VIII gewährt, weil eine dem Wohl der Hilfeempfängerin entsprechende Erziehung im Haushalt ihrer Eltern bzw. Mutter seit Anfang 1995 nicht gewährleistet und die Heimerziehung für die Entwicklung des Kindes geeignet und notwendig gewesen sei. Dass die Hilfeempfängerin als nicht nur vorübergehend geistig wesentlich Behinderte i.S. des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG bzw. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII daneben auch einen (inhaltsgleichen) Anspruch auf Eingliederungshilfe gegen den Beklagten gehabt habe, berühre die Erstattungspflicht des mit dem Umzug der Mutter der Hilfeempfängerin nach § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII zuständig gewordenen Klägers nicht. Der Erstattungsanspruch nach § 89c SGB VIII gehe einer Kostenerstattung zwischen Jugend- und Sozialhilfeträgern vor. Der Kläger könne im Fall des Nachrangs der Jugendhilfe gegen den Beklagten einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X geltend machen, weil ihm die von der Stadt W erbrachten Jugendhilfeleistungen, deren Kosten er nach § 89c SGB VIII zu tragen hat, zuzurechnen seien.

Nach Abschluss des Gerichtsverfahrens machte der Kläger diesen Erstattungsanspruch beim Beklagten geltend, zunächst mit einem Schreiben aus September 2007, dessen Zugang vom Beklagten bestritten wird, und sodann unter dem 23.6.2008 (und mit weiteren Schreiben). Vorgerichtlich lehnte der Beklagte die Erstattung der Aufwendungen letztmalig im Februar 2009 ab.

Der Kläger hat gegen den Beklagten am 17.11.2009 beim Sozialgericht (SG) Stade Klage auf Zahlung der von ihm der Stadt W für die Zeit vom 28.2.1999 bis zum 31.7.2008 erstatteten Aufwendungen der Jugendhilfe i.H.v. insgesamt 384.774,37 € sowie der in eigener Zuständigkeit für die Zeit vom 1. bis 14.8.2008 erbrachten Leistungen i.H.v. 1.359,17 € erhoben (Gesamtbetrag: 386.133,54 €). Der daneben geltend gemachte Anspruch auf Prozesszinsen ist nicht mehr weiterverfolgt worden (Schriftsatz des Klägers vom 29.9.2017). Nach einem Ruhen des Verfahrens über einen langjährigen Zeitraum hat das SG die Klage abgewiesen und im Wesentlichen zur Begründung ausgeführt, aufgrund der vorliegenden Unterlagen (Hilfepläne des Jugendamtes der Stadt W, Berichte des Kinderheims, Gutachten des Universitätsklinikums W) lasse sich eine wesentliche geistige Behinderung der Hilfeempfängerin und damit ein der Jugendhilfe vorgehender sozialhilferechtlicher Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 39 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bzw. § 53 SGB XII nicht feststellen (Urteil vom 21.3.2018).

Gegen die am 13.4.2018 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers vom 3.5.2018. Er macht geltend, dass die der Hilfeempfängerin gewährte stationäre Jugendhilfe gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nachrangig gegenüber der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe sei, auf die als „deckungsgleiche“ Leistung ebenfalls ein Anspruch bestanden habe. Der erzieherische Aspekt und die Verselbstständigung der Hilfeempfängerin seien bei der Unterbringung im Kinderheim mehr und mehr in den Hintergrund getreten und es habe bei ihr nach den klinischen Gutachten sehr wohl eine wesentliche geistige Behinderung mit einem IQ von 57 vorgelegen. Dies belege auch ihre (Anschluss-)Unterbringung wegen ihrer wesentlichen geistigen Behinderung zum 15.8.2008, deren Kosten vom Beklagten aus Sozialhilfemitteln getragen worden sind. Die vom SG herangezogenen Heimberichte aus 1996 und 1997 seien für den streitigen Zeitraum (ab Februar 1999) nicht relevant. Dass die Jugendhilfe nicht vom Kläger selbst, sondern von der Stadt W gewährt worden ist, stehe einem Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X nicht entgegen, weil die von der Stadt nach § 86c SGB VIII wegen des (umstrittenen) Zuständigkeitswechsels fortgesetzt gewährten Hilfen dem Kläger zuzurechnen seien (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 25.7.2007 - 4 LB 90/07 -). § 86c Satz 1 SGB VIII enthalte insoweit einen gesetzlichen Auftrag (§ 93 SGB X), den Leistungsfall zunächst für den nunmehr örtlich zuständigen Träger - hier den Kläger - fortzuführen. Die gerichtliche Auseinandersetzung mit der Stadt W stehe dem nicht entgegen. Schließlich sei der Erstattungsanspruch nicht nach § 111 SGB X ausgeschlossen, weil der Kläger den Anspruch unbestritten im Juni 2008 und damit rechtzeitig, sogar noch vor Beendigung der stationären Hilfe (zum 15.8.2008) geltend gemacht habe.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des SG Stade vom 21.3.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm 386.133,54 € zu zahlen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und macht geltend, der stationäre Aufenthalt der Hilfeempfängerin sei nicht wegen einer - ohnehin nicht wesentlichen - geistigen Behinderung notwendig gewesen; dies habe sich erst mit dem Wechsel von der Schule zu der WfbM zum 15.8.2008 ergeben, mit der Folge der Übernahme der Kosten für die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe durch den Beklagten. Im Übrigen lägen keine erstattungsfähigen Sozialleistungen i.S. des § 104 Abs. 1 SGB X bzw. § 11 SGB I vor, sondern bloß vom Kläger erstattete Leistungen der Stadt W. Diese seien dem Kläger nicht i.S. selbst erbrachter Sozialleistungen zurechenbar, weil insoweit kein Auftragsverhältnis aus einer Vereinbarung oder aufgrund Gesetz nach § 93, § 89 Abs. 3 und 5 SGB X vorliege; hiergegen spreche auch die hartnäckige Verweigerung des Klägers betreffend die Fallübernahme. § 104 SGB X sei allenfalls anwendbar auf die vom Kläger selbst der Hilfeempfängerin gewährten Leistungen für die Zeit vom 1. bis zum 14.8.2008; Vorrang habe für diesen Zeitraum aber die Jugendhilfe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Mit dem Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere ohne Zulassung statthafte (§ 143, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG) Berufung ist zu einem Teil begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht in vollem Umfang abgewiesen. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 1.359,17 €.

1. Gegenstand des Verfahrens ist die Erstattung der für die Zeit vom 28.2.1998 bis zum 31.7.2008 der Hilfeempfängerin von der Stadt W erbrachten und von dem Kläger dieser - der Stadt - nach § 89c SGB VIII erstatteten Leistungen der Jugendhilfe (Heimerziehung) in einer Gesamthöhe von 384.774,37 € sowie der für die Zeit vom 1. bis 14.8.2008 in eigener Zuständigkeit von dem Kläger erbrachten Leistungen i.H.v. 1.359,17 €. Diesen Anspruch macht der Kläger in statthafter Weise mit der allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) geltend. Der Kläger hat schon im erstinstanzlichen Verfahren den Klageantrag sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch betragsmäßig dahingehend geändert, dass für die vom Einrichtungsträger ursprünglich für die Zeit vom 15. bis 24.8.2008 in Rechnung gestellten Leistungen (korrigiert durch Rechnung 410333 vom 31.3.2019; zur Höhe später) keine Erstattung verlangt wird (vgl. Schriftsatz vom 14.6.2010 sowie die vom Einrichtungsträger für den Rechnungsmonat August 2008 korrigierten Rechnungen).

2. Der Senat ist nicht an einer Sachentscheidung gehindert. Insbesondere sind weder die Hilfeempfängerin noch die Stadt W oder der Träger des Heimes, das Diakonische Werk W, notwendig beizuladen. Einer notwendigen Beiladung des Leistungsempfängers nach § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG bedarf es im Erstattungsstreit nur dann, wenn sich die Erfüllungsfiktion nach § 107 SGB X auf weitere seiner Rechte auswirkt. Hat der Berechtigte die Leistung aber bereits erhalten, kann er diese nicht noch einmal beanspruchen. Hat die Entscheidung über die Erstattungsforderung keine Auswirkung auf seine Rechtsposition, ist eine notwendige Beiladung nicht erforderlich (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2014 - B 1 KR 12/14 R - juris Rn. 9 m.w.N.; BSG, Urteil vom 25.4.2013 - B 8 SO 6/12 R - juris Rn. 10). So liegt der Fall hier, weil die Kosten für die Heimunterbringung in der Zeit vom 28.2.1999 bis zum 14.8.2008 bereits vollständig von der Stadt W bzw. ab 1.8.2008 von dem Kläger beglichen worden sind. Die Hilfebedürftige kann diese Leistungen (i.S. einer Kostenübernahme) - unabhängig vom Ausgang des vorliegenden Erstattungsrechtsstreits - weder nochmals von den hier Beteiligten beanspruchen, noch kommt in Betracht, dass sie der Stadt W bzw. dem Kläger wegen § 107 SGB X die erbrachten Leistungen erstatten muss. Die Rechtsposition der Stadt W ist vom vorliegenden Rechtsstreit ebenfalls nicht betroffen, weil ihr Rechtsverhältnis zu dem Kläger betreffend die Erstattung der für den o.g. Zeitraum entstandenen jugendhilferechtlichen Aufwendungen nach § 89c SGB VIII durch die rechtskräftige Entscheidung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (VG Stade, Urteil vom 26.5.2004 - 4 A 2150/02 -, Nds. OVG, Urteil vom 25.7.2007 - 4 LB 90/07 -, BVerwG, Beschluss vom 22.5.2008 - 5 B 22.07 -) geklärt ist und eine Erstattungspflicht der Stadt W gegenüber dem Beklagten - im Falle seiner Verurteilung - ausgeschlossen ist. Auch der Träger der Einrichtung ist nicht gemäß § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG notwendig beizuladen, weil sämtliche Forderungen für die von ihm im streitigen Zeitraum erbrachten Leistungen durch die Stadt W bzw. den Kläger (für die Zeit vom 1. bis 14.8.2008) erfüllt worden sind und die Höhe der Leistungen nicht im Streit steht; das Rechtsverhältnis zwischen Leistungsträger und -erbringer ist damit nicht berührt (zur notwendigen Beiladung des Leistungserbringers grundlegend BSG, Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 22/07 R - juris Rn. 13 ff.)

3. Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Erstattungsanspruch kommt allein § 104 SGB X (hier in der vom 1.1.2001 bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung vom 18.1.2001, a.F.) in Betracht. Die besondere Erstattungsvorschrift des § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX (in der Fassung vom 19.6.2001, a.F.), nach der Leistungen eines allein aufgrund eines weitergeleiteten Antrages nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX a.F. zuständig gewordenen bzw. vorläufig zuständigen Rehabilitationsträgers von dem an sich materiell-rechtlich zuständigen Rehabilitationsträger zu erstatten sind, ist nicht einschlägig, weil eine zuständigkeitsbegründende Weiterleitung eines Antrages nach § 14 SGB IX a.F. nicht vorliegt (zu dieser Voraussetzung vgl. etwa BSG, Urteil vom 20.4.2016 - B 8 SO 8/14 R - juris Rn. 9; Senatsurteil vom 29.10.2015 - L 8 SO 122/12 - juris Rn. 27). Da eine Prüfung der Zuständigkeit nach § 14 SGB IX a.F. und entsprechende Übergabe des Leistungsfalles seitens der Stadt W, die als örtlicher Träger der Jugend- und der Sozialhilfe zugleich Rehabilitationsträger i.S. des § 6 Abs. 1 Nr. 6 und 7 SGB IX a.F. gewesen ist, mit Inkrafttreten des § 14 SGB IX a.F. zum 1.7.2001 nicht stattgefunden hat (vgl. dazu BSG, Urteil vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R - juris Rn. 13), könnte eine Zuständigkeitsklärung i.S. des § 14 SGB IX a.F. allenfalls in der Weiterleitung des zunächst bei der Stadt eingegangenen Antrages der Hilfeempfängerin vom 7.8.2007 auf Verlängerung der Jugendhilfemaßnahme ab Volljährigkeit (ab dem 24.7.2007) an den Kläger (Eingang dort am 14.8.2007) - ebenfalls Rehabilitationsträger i.S. des § 6 Abs. 1 Nr. 6 und 7 SGB IX a.F. - zu sehen sein, soweit der Antrag nicht nur auf Hilfe zur (Heim-)Erziehung i.S. des §§ 41, 34 SGB VIII, sondern nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz - wegen der geistigen Behinderung der Hilfeempfängerin - auch auf die Gewährung von (sozialhilferechtlicher) Eingliederungshilfe (dazu ausführlich später) und damit auf eine Teilhabeleistung i.S. der §§ 4 Abs. 1, 5 Nr. 4 SGB IX a.F. gerichtet gewesen ist. § 14 SGB IX a.F. ist insoweit jedoch nicht anwendbar, weil dieser Antrag als sog. Weitergewährungs- bzw. Folgeantrag kein neues Rehabilitationsgeschehen betrifft; einer Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX a.F. steht damit der sog. Grundsatz der Leistungskontinuität entgegen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 28.11.2019 - B 8 SO 8/18 R - juris Rn. 14 f.). Der Heimaufenthalt der Hilfeempfängerin stellt nämlich - sowohl vor und als auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres - ein einheitliches Rehabilitationsgeschehen dar, das insbesondere durch die erst Mitte August 2008 abgeschlossene Schulausbildung geprägt gewesen ist. Ungeachtet dessen kommt es hier - im Rechtsstreit des Klägers gegen den Beklagten über den Vor- und Nachrang der Jugend- und Sozialhilfe - auf das umstrittene Verhältnis der Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis zum Menschen mit Behinderung nach §§ 86 ff. SGB VIII und § 14 SGB IX nicht entscheidend an (vgl. dazu etwa BVerwG Urteil 22.6.2017 - 5 C 3/16 - juris Rn. 11 sowie ausführlich Lange in jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 86d Rn. 6 ff. m.w.N.); die Frage der (örtlichen) Zuständigkeit für den Leistungsfall (nach § 86 SGB VIII) für die Zeit ab 28.2.1999 ist rechtskräftig - mit Bindungswirkung auch für den im Vorprozess notwendig beigeladenen (§ 65 Abs. 2 VwGO) Beklagten (§ 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG) - geklärt (VG Stade, Urteil vom 26.5.2004 - 4 A 2150/02 -; OVG Niedersachsen, Urteil des OVG vom 25.7.2007 - 4 LB 90/07 -; BVerwG; Beschluss vom 22.5.2008 - 5 B 22.07 -).

4. Die Voraussetzungen des § 104 SGB X a.F. liegen bezogen auf die für die Zeit vom 1. bis 14.8.2008 von dem Kläger erbrachten Leistungen für die stationäre Maßnahme durch Übernahme der Heimkosten i.H.v. 1.359,17 € vor. Die Vorschrift enthält folgende Regelung: Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (Satz 1). Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (Satz 2).

a) § 104 Satz 1 SGB X a.F. ist einschlägig, weil der Kläger für diesen Zeitraum selbst rechtmäßig „Sozialleistungen“ i.S. der Norm erbracht hat (zu diesem Tatbestandsmerkmal eingehend später) und diese Jugendhilfeleistungen nach dem SGB VIII nachrangig gegenüber den für den gleichen Zeitraum vom Beklagten insoweit auch geschuldeten Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII sind (sog. Kongruenz oder Gleichartigkeit der Leistungen). Die Leistungspflicht des Klägers als örtlich zuständiger Jugendhilfeträger ist nicht nachträglich entfallen i.S. des § 103 Abs. 1 SGB X.

b) Die Hilfeempfängerin hat sowohl gegen den Kläger als auch gegen den Beklagten einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die stationäre Maßnahme in dem Kinderheim der Jugendhilfe L., W.

aa) Über den Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (Heimerziehung) nach §§ 27, 34 SGB VIII (Bescheid der Stadt W vom 26.1.1995) ist jedenfalls für die Zeit der Minderjährigkeit der Hilfeempfängerin (vgl. Tenor des VG Stade, Urteil vom 26.5.2004 - 4 A 2150/02 -) dem Grunde nach rechtskräftig entschieden. Ungeachtet der Frage der Reichweite und des Umfangs der rechtskräftigen Verurteilung erstreckt sich der Leistungsanspruch der Hilfeempfängerin gegen den Kläger auch auf die Hilfe ab Vollendung des 18. Lebensjahres (ab dem 24.7.2007) nach §§ 41, 34 SGB VIII (Bescheid der Stadt W vom 1.10.2017) und damit auch auf den Zeitraum vom 1. bis zum 14.8.2008, in dem der Kläger die Jugendhilfeleistungen der Hilfeempfängerin durch Übernahme der Heimkosten selbst erbracht hat. Nach der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ist der Kläger für die Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung seit dem Umzug der allein sorgeberechtigten Mutter der Hilfeempfängerin in sein Kreisgebiet am 28.2.1999 („zukünftig“) örtlich zuständig (vgl. den Tenor des Urteils des VG Stade vom 26.5.2004 - 4 A 2150/02 -). An der Zuständigkeit des Klägers hat sich auch mit Einsetzen der Hilfe für junge Volljährige nach §§ 41, 34 SGB VIII für die Zeit vom 24.7.2007 bis zum 14.8.2008 nichts geändert, weil sich dessen örtliche Zuständigkeit insoweit aus § 86a Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB VIII ergibt (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 28.4.2016 - 5 C 13/15 - juris Rn. 18 f.). Nach Satz 1 der Vorschrift ist derjenige Träger örtlich zuständig, der bis zu diesem Zeitpunkt zuständig war, wenn der Hilfe für junge Volljährige eine Hilfe nach den §§ 27 bis 35a SGB VIII vorausgegangen ist, wobei nach § 86a Abs. 4 Satz 2 SGB VIII eine Unterbrechung der Hilfeleistung von bis zu drei Monaten außer Betracht bleibt. Hier ist die Hilfe nach § 34 SGB VIII (Heimerziehung) mit Vollendung des 18. Lebensjahres wegen der noch nicht abgeschlossenen Schulausbildung nahtlos erfolgt, so dass zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit des Klägers nach § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII (im Ergebnis ebenfalls) auf die rechtkräftige verwaltungsgerichtliche Entscheidung abzustellen ist. Die sachliche Zuständigkeit des Klägers als örtlicher Träger der Jugendhilfe (§ 1 Abs. 1 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum SGB VIII - Nds. AG SGB VIII - vom 5.2.1993, hier in der vom 31.12.2004 bis zum 23.12.2019 geltenden Fassung) ergibt sich aus § 85 Abs. 1 SGB VIII (in der Fassung vom 14.12.2006).

Die materiellen Voraussetzungen für die Hilfe für junge Volljährige haben ebenfalls vorgelegen. Nach § 41 SGB VIII (in der vom 1.1.2007 bis 31.12.2011 geltenden Fassung, a.F.) soll Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist (Abs. 1 Satz 1). Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt (Abs. 1 Satz 2 HS. 1). Die seit dem 10.6.2021 geltende Fassung des § 41 SGB VIII (Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen vom 3.6.2021) stellt dagegen maßgeblich auf eine nicht gewährleistete selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung ab (vgl. dazu von Koppenfels-Spies in jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 41 Rn. 10 m.w.N.). Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten § 27 Abs. 3 und 4 SGB VIII sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt. Ziel der in § 41 SGB VIII a.F. geregelten Hilfen ist, dass mit der formellen Vollendung der Volljährigkeit keine abrupte Beendigung von Hilfen eintreten soll (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2.9.2010 - 12 B 950/10 - juris Rn. 5). Nach § 34 Satz 1 SGB VIII soll Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Dass die Hilfeempfängerin mit Vollendung des 18. Lebensjahres aufgrund ihrer individuellen Situation noch Bedarf an der bislang gewährten stationären Hilfe hatte, ergibt sich u.a. aus der Hilfeplanfortschreibung des Jugendamtes der Stadt W vom 6.6.2007, nach dem sich die Hilfeempfängerin zwar „stark“ entwickelt hat und wesentlich selbstständiger geworden ist, sie aber neben einer gesetzlichen Betreuung zur Bewältigung behördlicher und finanzieller Angelegenheiten aufgrund ihrer Einschränkungen auch über die schulische Ausbildung hinaus - also für die Zeit ab dem 15.8.2008, in der der Beklagte die stationäre Hilfe aus Sozialhilfemitteln gewährt hat - einen relativ engen Rahmen der Betreuung bedurft hat. Dementsprechend hatte sich der Allgemeine Sozialdienst der Stadt W (Dipl. Sozialpädagoge W. Q.) mit Rücksicht auf den momentanen Lebensmittelpunkt und die Entwicklung der Hilfeempfängerin dafür ausgesprochen, dass sie die Werkstufe in der O. Kinder- und Jugendhilfe, R. -Schule, beenden soll. Bei dieser Beurteilung des Jugendhilfeträgers, der die Leistungsgewährung zu Grunde gelegen und die dem Anliegen der Hilfeempfängerin entsprochen hat, sind fachliche Maßstäbe beachtet worden und keine sachfremden Erwägungen eingeflossen (vgl. zum Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit einer Maßnahme nur BVerwG, Urteile vom 18.10.2012 - 5 C 21.11 - juris Rn. 31 ff. und vom 24.6.1999 - 5 C 24.98 - juris Rn. 39).

bb) Daneben hat die Hilfeempfängerin gegen den Beklagten (für die Zeit vom 1. bis 14.8.2008) einen inhaltlich entsprechenden Rechtsanspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe nach § 53, § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. i.V.m. § 55 SGB IX a.F.

Die Hilfeempfängerin hat die personenbezogenen Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. für eine Pflichtleistung erfüllt. Nach dieser Vorschrift wurden Pflichtleistungen nur an Personen erbracht, die durch eine Behinderung i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, die Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 SGB IX sind erfüllt, wenn - soweit einschlägig - die geistige Fähigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Wann eine geistige Behinderung wesentlich ist, ergibt sich aus § 2 EingH-VO. Er verlangt, dass infolge einer Schwäche der geistigen Kräfte in erheblichem Umfange die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist. Entgegen den Feststellungen des SG liegen diese Voraussetzungen vor. Die geistige Behinderung der Hilfeempfängerin ist bereits in den Hilfeplänen des Jugendamtes der Stadt W vom 14.1.1997 und 11.6.1999 dokumentiert worden. Eine eindeutige Diagnose ist durch das Gutachten des Universitätsklinikums W vom 9.10.2000 erfolgt; danach hat bei der Hilfeempfängerin eine leichte Intelligenzminderung bzw. eine leichtgradige geistige Behinderung mit einem Gesamt-IQ von unter 70 (nach dem Zusatzgutachten des Universitätsklinikums vom gleichen Tag von 57) vorgelegen. Ein späterer Test der R. Schule vom 17.6.2008 (nach HAWIE-R) hatte einen Gesamt-IQ von 54 als Ergebnis. Nach der bei einem IQ von 50 bis 70 erforderlichen Einzelfallprüfung (vgl. Wehrhahn in jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 99 1. Überarbeitung Rn. 32) ist die Hilfeempfängerin in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt und damit geistig wesentlich behindert i.S. des § 2 EingH-VO (gewesen); dies gilt auf jeden Fall für August 2008 (dazu auch gleich). Nach dem Hilfeplan vom 11.6.1999 hat die „geistig retardiert wirkende“ Hilfeempfängerin bei einer IQ-Testung (ohne Angabe des Gesamt-IQ) „in keinem Wahrnehmungsbereich“ ausreichende Leistungen erzielt. Sie hat in der Schule viel Unterstützung und Motivation - eine „intensive Betreuung“ - benötigt (zur besonderen Bedeutung des behinderungsbedingten Hilfebedarfs in der Grundschule für die Beurteilung einer wesentlichen Behinderung vgl. nur BSG, Urteil vom 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R - juris Rn. 19). Die insbesondere zum Vor- bzw. Nachrang von Hilfe zur Erziehung und sozialhilferechtlicher Eingliederungshilfe von der Stadt W eingeholten Gutachten des Universitätsklinikums W vom 9.10.2000 und 2.8.2007 bejahen eine geistige Behinderung, die ohne weitere Ausführungen auch als wesentlich i.S. des § 2 EingH-VO beurteilt worden ist. Soweit die Hilfebedürftige nach der Stellungnahme der Einrichtung (Jugendhilfe L.) vom 9.1.2001 nicht zum Personenkreis der geistig behinderten Leistungsberechtigten nach §§ 39, 40 BSHG gehört haben soll, weil ein Teil ihrer emotionalen und intellektuellen Defizite eher mit der starken Vernachlässigung und unterbliebenen Förderung im Elternhaus zusammenhängen würden, überzeugt diese in erster Linie nach der Ursache der geistigen Behinderung und nicht nach ihrem Umfang differenzierende Aussage nicht. Entgegen den dort festgehaltenen Einschätzungen zur schulischen Leistungsfähigkeit der Hilfeempfängerin ist nach der Hilfeplanfortschreibung vom 22.10.2002 der Wechsel zu der S. -Schule, W, einer Schule zur individuellen Lernförderung (früher Sonderschule für Lernbehinderte) zum Schuljahr 1999/2000 letztlich nicht erfolgreich gewesen; ab September 2002 hat die Hilfeempfängerin wieder die R. Schule, W, besucht, eine Schule zur individuellen Lebensbewältigung (früher Sonderschule für geistig Behinderte) mit einer stärkeren Förderung der lebenspraktischen Bereiche. Diese Schule hat die Hilfeempfängerin auch weiterhin besucht. In der Hilfeplanfortschreibung ist zur beruflichen Situation weiter ausgeführt, dass die Hilfeempfängerin immer einen geschützten Rahmen (z.B. in einer WfbM) benötigen werde. Für die Annahme einer wesentlichen geistigen Behinderung jedenfalls im August 2008 spricht maßgeblich die Beurteilung des Universitätsklinikums W vom 2.8.2007, nach der die Hilfeempfängerin aufgrund der geistigen Behinderung sowohl im lebenspraktischen als auch im sozialen Bereich kontinuierlich auf Hilfestellung angewiesen und eine eigenständige Lebensführung ausgeschlossen gewesen ist. Dementsprechend hat der Beklagte die stationäre Hilfe (in einer anderen Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung) nach Abschluss der Ausbildung in der Werkstufe der R. -Schule (ab dem 15.8.2008) als sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe fortgesetzt (vgl. Bescheid des Beklagten vom 22.12.2008).

Für die Beurteilung, ob neben dem jugendhilferechtlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (Heimerziehung) auch ein Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe besteht, ist es unerheblich, ob die stationäre Maßnahme „bei entsprechenden familiären Ressourcen“ nicht erforderlich gewesen wäre (so aber nach den Gutachten des Universitätsklinikums W vom 9.10.2000 und 29.6.2005 sowie dem Standpunkt des Einrichtungsträgers in der Stellungnahme vom 9.1.2001 und des Beklagten). Eine gegenüber Leistungen nach dem SGB VIII vorrangige Leistungsverpflichtung des sachlich und örtlich zuständigen Sozialhilfeträgers (dazu gleich) besteht unabhängig davon, welche Behinderung im Vordergrund steht und ob für die konkrete Maßnahme eine Behinderung oder ein Erziehungsdefizit in der Herkunftsfamilie ursächlich war (BSG, Urteil vom 4.4.2019 - B 8 SO 11/17 R - juris Rn. 14 m.w.N.). Bei einer stationären Unterbringung kann nicht darauf abgestellt werden, ob der körperlichen bzw. geistigen Behinderung isoliert gesehen mit ambulanten Maßnahmen begegnet werden könnte. Entscheidend ist auch hier, ob in der Einrichtung (oder Pflegefamilie) der behinderungsbedingte Bedarf gedeckt wird oder nicht (vgl. Schönecker/Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 10 Rn. 51 m.w.N.). Dies ist hier ohne Zweifel zu bejahen. Die Hilfeempfängerin ist auch wegen ihrer geistigen Behinderung nicht zu einer selbstständigen Lebensführung imstande gewesen und hat die entsprechende Unterstützung in dem Kinderheim erhalten. Die stationäre Hilfe war geeignet und notwendig, um die Teilhabe der Hilfeempfängerin am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen und zu sichern (vgl. § 55 Abs. 1 SGB IX a.F.). Ein fiktiver Sachverhalt (eines intakten Elternhauses etc.) ist insoweit nicht relevant (vgl. LSG NRW, Urteil vom 28.1.2013 - L 20 SO 170/11 - juris Rn. 61 m.w.N.).

Die Jugendhilfeleistung in Gestalt der vollstationären Heimunterbringung nach § 34 SGB VIII und die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe nach §§ 53, 54 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX sind nicht nur teilweise, sondern vollständig deckungsgleich. Die jugendhilferechtliche Heimunterbringung umfasst nach § 39 SGB VIII nicht nur die pädagogische Betreuung, sondern auch den laufenden Unterhalt. Dies gilt nach altem Recht (bis zum Inkrafttreten von Teil 2 des SGB IX zum 1.1.2020; vgl. § 93 Abs. 1 SGB IX, sog. Trennung von Fach- und Lebensunterhaltsleistungen, dazu etwa Eicher in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, Anhang zu § 19 SGB XII Rn. 45 ff.) auch für die vollstationäre Unterbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 - 5 C 6/11 - juris Rn. 16 f.).

Für die Erbringung der Leistungen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe ist der Beklagte als überörtlicher Träger der Sozialhilfe (§ 3 Abs. 1 und 3 SGB XII i.V.m. Art. 81 Abs. 1 des Bayerischen Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze - AGSG - vom 8.12.2006, GVBl. 2006, S. 942) sachlich (§ 97 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 SGB XII i.V.m. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 AGSG) und örtlich (§ 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII) zuständig (gewesen). Die Hilfeempfängerin hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung am 2.1.1995 in W - im Haushalt ihrer Mutter - und damit im Bezirksgebiet des Beklagten.

c) Die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe nach §§ 19 Abs. 3, 53 ff. SGB XII geht der jugendhilferechtlichen Hilfe zur Erziehung nach §§ 41, 34 SGB VIII als vorrangige Leistung vor.

Das Verhältnis des Jugendhilferechts zum Sozialhilferecht wird in § 10 Abs. 4 SGB VIII bestimmt. Danach gehen Leistungen nach dem SGB VIII Leistungen nach dem SGB XII vor (Satz 1), es sei denn, es besteht (zugleich) ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII für junge Menschen, die (auch) körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind (vgl. Satz 2; dazu etwa Senatsbeschluss vom 22.10.2013 - L 8 SO 241/13 B ER - juris). Dabei stellt § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII für die Abgrenzung zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen bzw. die hieraus folgende Leistungspflicht ab (st. Rspr., vgl. etwa BSG, Urteil vom 25.9.2014 - B 8 SO 7/13 R - juris Rn. 26; s. auch BVerwG, Urteil vom 13.6.2013 - 5 C 30/12 - juris Rn. 23 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 - 5 C 6/11 - juris Rn. 18). Im Fall bestehender Mehrfachbehinderungen ist damit nicht auf den Schwerpunkt der Behinderungen, sondern auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen abzustellen. Leistungen nach §§ 53 ff. SGB XII sind auch dann vorrangig, wenn die Leistungen zumindest auch auf den Hilfebedarf wegen geistiger/körperlicher Behinderung eingehen (st. Rspr. des Senats, vgl. Urteil vom 29.10.2015 - L 8 SO 122/12 - juris Rn. 43 m.w.N. oder Beschluss vom 15.1.2018 - L 8 SO 249/17 B ER - juris Rn. 22, jeweils m.w.N.; vgl. auch Luthe in jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 10 Rn. 101 m.w.N.). Dies ist hier nach den obigen Ausführungen der Fall.

d) Der Erstattungsanspruch ist nicht gemäß § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen. Danach ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Nach Satz 2 der Vorschrift beginnt der Lauf der Frist frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat. Für die Fristberechnung nach § 111 Satz 1 SGB X kommt es darauf an, wann der Leistungsanspruch des Hilfeempfängers nach § 40 Abs. 1 SGB I entstanden ist ("für den die Leistung erbracht worden ist"), und nicht darauf, wann die Leistung vom Leistungsträger tatsächlich bewirkt worden ist (statt vieler BSG, Urteil vom 18.11.2014 - B 1 KR 12/14 R - juris Rn. 16 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist hierbei im Jugendhilferecht bei wiederkehrenden Leistungen von einer ganzheitlichen Betrachtung auszugehen mit der Folge, dass die zwölfmonatige Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X mit Ablauf des letzten Tages beginnt, an dem die jeweilige Leistung i.S. dieser Vorschrift erbracht wurde (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015 - 5 C 9/15 - juris Rn. 14 ff.). Für die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe ergibt sich bei einer - wie hier - einheitlichen Leistung, die also kontinuierlich und ohne qualitative Veränderungen gewährt wird, nicht anderes (vgl. BSG, Urteil vom 4.4.2019 - B 8 SO 11/17 R - juris Rn. 17 ff., 22; zum einheitlichen Rehabilitationsgeschehen s. auch oben). Danach bestimmt sich hier der Beginn der Zwölf-Monatsfrist nach dem Ende der stationären Maßnahme mit Ablauf des 14.8.2008. Der Erstattungsanspruch ist noch vor Beendigung der Maßnahme (spätestens) am 23.6.2008 (unstreitig und nach den Akten des Beklagten feststellbar) rechtzeitig geltend gemacht worden.

e) Der für die Zeit vom 1. bis zum 14.8.2008 geltend gemachte Erstattungsanspruch ist der Höhe nach (§ 104 Abs. 3 SGB X) nicht zu beanstanden. Nach den vorliegenden Abrechnungen des Trägers der Einrichtung, dem Diakonischen Werk W, ist dem Kläger zunächst für die Zeit vom 1. bis 24.8.2008 ein Betrag von 2.231,17 € in Rechnung gestellt worden (Rechnung 407602 vom 31.8.2008). Dieser Betrag ist auf den klägerischen Einwand des Wechsels der stationären Einrichtung zum 15.8.2008 um 872,00 € auf 1.359,17 € verringert worden (Rechnung 410333 vom 31.3.2009; vgl. auch die Änderung des Klageantrages in erster Instanz sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch der Höhe nach durch Schriftsatz des Klägers vom 14.6.2010).

5. Dem Kläger steht die Klageforderung im Übrigen - bezogen auf die Leistungen für die Zeit vom 28.2.1999 bis zum 31.7.2008 - nicht zu.

a) Die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen nicht vor, weil der geltend gemachte Erstattungsanspruch keine „Sozialleistungen“ i.S. dieser Vorschrift betrifft. In diesem Zeitraum hat der Kläger der Hilfeempfängerin nicht selbst die Leistungen der Heimerziehung i.S. der §§ 27, 34 SGB VIII bzw. §§ 41, 34 SGB VIII erbracht, sondern die entsprechenden Aufwendungen der Stadt W aufgrund einer fortdauernden oder vorläufigen Leistungsverpflichtung (§ 86c SGB VIII) nach § 89c SGB VIII erstattet. Diese Erstattungsleistung ist kein tauglicher Gegenstand eines (weiteren) Erstattungsverfahrens nach § 104 SGB X.

Da sich der Begriff der Sozialleistungen i.S. des § 104 Satz 1 SGB X (bzw. i.S. sämtlicher Erstattungsvorschriften nach §§ 102 ff. SGB X) nach der Legaldefinition des § 11 Satz 1 SGB I bestimmt, also darunter nur die in diesem Gesetzbuch als Gegenstand sozialer Rechte (§§ 3 bis 10 SGB X) vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen zu verstehen sind, und kein Anhalt für eine abweichende Bedeutung dieses Begriffs in den Erstattungsvorschriften besteht, ist der die Erstattung fordernde Leistungsträger nur dann Sozialleistungserbringer i.S. der §§ 102 bis 105 SGB X, wenn er die Sozialleistung selbst erbracht hat oder sie ihm zumindest rechtlich zuzurechnen ist (vgl. BSG, Urteil vom 25.4.1989 - 4/11a RK 4/87 - juris Rn. 19; vgl. auch BSG, Urteil vom 2.11.1999 - B 2 U 39/98 R - juris Rn. 16). Für die rechtliche Zurechnung einer Sozialleistung ist notwendige Voraussetzung, dass der eigentlich leistende Sozialleistungsträger zu dem Leistungsträger, dem das Handeln zugerechnet werden soll, in einem Vertretungs- oder Auftragsverhältnis steht, das kraft individueller oder genereller rechtsgeschäftlicher Vereinbarung zwischen Sozialleistungsträgern (vgl. § 88 SGB X) oder kraft Gesetzes (vgl. § 93 SGB X) bestehen kann (BSG, Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R - juris Rn. 22). Für die Annahme eines gesetzlichen Auftrages - eine rechtsgeschäftliche Beauftragung scheidet hier von vorneherein aus - genügt es, dass das Gesetz die Aufgabe eines Trägers öffentlicher Verwaltung einem anderen Verwaltungsträger überträgt und hierbei die Verpflichtung des ursprünglichen Trägers dem Grunde nach fortbesteht (vgl. BSG, Urteil vom 17.6.2008 - B 1 KR 30/07 R - juris Rn. 11; BSG, Urteil vom 21.7.2009 - B 7 AL 49/07 R - juris Rn. 22). Wesentliches Kriterium ist hierbei, dass es sich (ebenso wie beim vertraglichen Auftrag) um ein Tätigwerden in fremdem Interesse, also um die Wahrnehmung einer trotz des Auftrages nach wie vor fremden Angelegenheit handelt. Kein Auftrag liegt vor bei einer Aufgabenübertragung, mit der sich die übertragende Stelle ihrer Verantwortlichkeit und Einflussmöglichkeit in vollem Umfang begibt (Herbst in Kasseler Kommentar, SGB X, Stand: März 2022, § 93 Rn. 14).

Ein solches - zurechenbarkeitsbegründendes - Auftragsverhältnis liegt bei der vorliegenden Konstellation, in der ein Jugendhilfeträger - der Kläger - einem anderen - der Stadt W - gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII Kosten erstattet hat und sich anschließend gegenüber einem an diesem Erstattungsverhältnis unbeteiligten Sozialhilfeträger - dem Beklagten - auf den Nachrang der Jugendhilfe beruft, nicht vor, weil die fortdauernde Leistungsverpflichtung eines Jugendhilfeträgers bei Zuständigkeitswechsel nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht kraft gesetzlichen Auftrags für den nunmehr zuständigen Jugendhilfeträger erfolgt (in diese Richtung auch BSG, Beschluss vom 18.8.2017 - B 8 SO 36/17 B - juris Rn. 7; anders bezogen auf diesen Fall in einem obiter dictum Nds. OVG, Urteil vom 26.5.2004 - 4 LB 90/07 - juris Rn. 48; Jans/Happe/Saurbier/Maas, SGB VIII, Stand: 2012, Erf. § 89c Art. 1 KJHG Rn. 33; a.A. auch BVerwG, Urteil vom 5.4.2007 - 5 C 25/05 - juris Rn. 11 ff. zu der Kostenerstattung bei fortdauernder Vollzeitpflege nach § 89a SGB VIII, bei der aber nicht auf den Begriff der Sozialleistung abgestellt wird, sondern bloß auf die Aufwendung von Kosten).

Gegen die Annahme eines gesetzlichen Auftrags in diesen Fällen sprechen der Wortlaut des § 86c SGB VIII sowie Sinn und Zweck der darin normierten Weiterleistungspflicht. Nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bleibt bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit für eine Leistung der bisher zuständige örtliche Träger so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Die Vorschrift entspricht weitgehend § 2 Abs. 3 SGB X (vgl. dazu Lange in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 86c Rn. 4; Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89c Rn. 16) und enthält keine Zuständigkeitsregelung, sondern setzt sie voraus und ergänzt sie bis zur Fallübernahme durch den nunmehr zuständigen Jugendhilfeträger um eine vorläufige (Weiter-)Leistungsverpflichtung (Kunkel/Kepert, a.a.O., Rn. 1; Lange, a.a.O., Rn. 16 m.w.N.). Dessen (neue) Zuständigkeit für die Leistungsgewährung nach einem Zuständigkeitswechsel gemäß §§ 86-86b SGB VIII bleibt dabei dem Grunde nach unberührt (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.1.2004 - 5 C 9/03 - juris Rn. 16).

§ 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII enthält schon nach seinem Gesetzestext eine (eigene) Leistungsverpflichtung des bisher zuständigen Leistungsträgers; dies wird zusätzlich durch § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hervorgehoben, der sich nach der Überschrift auf die Kostenerstattung bei „fortdauernder (...) Leistungsverpflichtung“ bezieht sowie inhaltlich auf Kosten, die ein örtlicher Träger „im Rahmen seiner Verpflichtung“ nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat (vgl. auch BSG, Beschluss vom 18.8.2017 - B 8 SO 36/17 B - juris Rn. 7). Auch wenn der bisherige Jugendhilfeträger im Verhältnis zu dem zuständig gewordenen bei Kenntnis von dem Zuständigkeitswechsel (dazu auch gleich) in gewisser Weise für diesen bis zur Übernahme des Leistungsfalles "in Vorleistung" tritt, bleibt die (Weiter-)Leistungsverpflichtung eine originär eigene des bisher zuständigen örtlichen Trägers. Die Leistungen nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind keine „vorläufigen“ Leistungen, sondern vom bisher örtlichen zuständigen Träger endgültig erbrachte (vgl. Lange, a.a.O., Rn. 23). Sie liegen ausschließlich in dessen Verantwortung. Erst mit der Übernahme der Fallverantwortung geht der neu zuständige Jugendhilfeträger ggf. unmittelbare rechtliche Verpflichtungen gegenüber der leistungsberechtigten Person und ggf. einem beteiligten (dritten) Leistungsempfänger und Leistungserbringer ein (Lange, a.a.O., Rn. 23). Gegen die Annahme eines gesetzlichen Auftragsverhältnisses spricht zudem, dass die Verpflichtung aus § 86 c SGB VIII die Kenntnis des bisher zuständigen Trägers vom Zuständigkeitswechsel nicht voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 14.11.2002 - 5 C 51/01 - juris Rn. 13) und es in den Fällen eines den Trägern unbekannten Zuständigkeitswechsels (z.B. wegen eines nicht mitgeteilten Umzugs der sorgeberechtigten Eltern) an einem „Fremdgeschäftsführungswillen“ insgesamt fehlt. Sinn und Zweck der (Weiter-)Leistungspflicht nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, an den § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII systematisch anknüpft, erschöpfen sich allein in einem verfahrensrechtlichen Schutz des Leistungsberechtigten, indem er die Lückenlosigkeit der Leistungsgewährung im Falle eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit sichert. Durch die Anordnung einer fortdauernden Leistungspflicht des bislang zuständigen örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe wird der Leistungsempfänger in verfahrensrechtlicher Hinsicht vor einer Unterbrechung oder Verzögerung der Jugendhilfeleistung bewahrt (BVerwG, Urteil vom 22.6.2017 - 5 C 3/16 - juris Rn. 29 m.w.N.; Streichsbier in jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 89c Rn. 6 m.w.N.).

Eine Zurechnung der Leistung des bisher zuständigen Jugendhilfeträgers nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in der Weise, dass sie im Verhältnis zu einem möglicherweise vorrangig zuständigen Sozialhilfeträger als Sozialleistung des nunmehr zuständigen Trägers der Jugendhilfe i.S. des § 104 Satz 1 SGB X anzusehen ist, oder gar eine analoge Anwendung des § 104 Satz 1 SGB X unter Annahme eines auftragsähnlichen Rechtsverhältnisses sind auch nicht aus dem Umstand gerechtfertigt, dass ein Erstattungsanspruch gegen den zuständig gewordenen Jugendhilfeträger nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bei im Verhältnis zum Hilfeempfänger rechtmäßiger Jugendhilfegewährung unberührt bleibt, wenn neben dem jugendhilferechtlichen Leistungsanspruch ein nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII an sich vorrangiger Anspruch gegen einen Sozialhilfeträger besteht (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 22.5.2008 - 5 B 203/07 - juris Rn. 3). Der Grundsatz, nach dem der materiell-rechtlich eigentlich zuständige Träger die Aufwendungen der Maßnahme zu tragen hat, gebietet jedenfalls in denjenigen Fällen, in denen der nunmehr zuständige Jugendhilfeträger - wie hier - seine Zuständigkeit gegenüber dem bisher zuständigen Träger bestreitet, keine vom Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Es ist höchstrichterlich geklärt, dass der durch einen Ortswechsel örtlich zuständig gewordene Jugendhilfeträger in eigener Zuständigkeit über die Hilfegewährung zu befinden und daher auch die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um einen aus seiner Sicht bestehenden Vorrang der Sozialhilfe durchzusetzen. Übernimmt er ungeachtet bestehender örtlicher Zuständigkeit den Jugendhilfefall nicht, kann er sich im Erstattungsrechtsverhältnis gegenüber dem deswegen nach § 86c SGB VIII fortdauernd leistungsverpflichteten Jugendhilfeträger nicht darauf berufen, dass dieser nach Maßgabe der Rechtsauffassung des örtlich zuständig gewordenen Jugendhilfeträgers gegenüber dem Sozialhilfeträger hätte tätig werden können oder müssen (BVerwG, a.a.O., Rn. 4). Zugleich trägt er bei einer - hier im Ergebnis zu Unrecht - verweigerten Fallübernahme das Risiko, einen Vorrang der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe mangels eigener Gewährung von Sozialleistungen über ein Erstattungsverfahren nach § 104 Satz 1 SGB X nicht durchsetzen zu können.

b) Die Voraussetzungen einer öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag - deren Anwendbarkeit neben den Erstattungsvorschriften nach §§ 102 ff. SGB X unterstellt (vgl. dazu BSG, Urteil vom 27.6.1990 - 5 RJ 39/89 - juris Rn. 26 ff.; BSG, Urteil vom 2.3.2000 - B 7 AL 36/99 R - juris Rn. 17 ff.) - liegen bereits tatbestandlich nicht vor. Der Kläger hat durch die Erstattung der Aufwendungen der Stadt W kein (objektiv oder subjektiv) fremdes Geschäft geführt, weil er durch die Tilgung der Schuld seiner eigenen Verpflichtung als örtlich zuständiger Jugendhilfeträger nachgekommen ist (vgl. auch BSG, Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R - juris Rn. 26).

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 und 3 VwGO. Weil der Beklagte nur zu einem geringen Teil unterlegen ist, erachtet es der Senat als ermessensgerecht, dass dem Kläger die Kosten ganz auferlegt werden.

7. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 2, § 52 Abs. 1 GKG.

8. Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zuzulassen. Dies betrifft zum einen die grundsätzliche Frage, unter welchen Voraussetzungen eine anderweitig erbrachte Sozialleistung einem am Sozialleistungsverhältnis nicht unmittelbar beteiligten Leistungsträger rechtlich zugerechnet werden kann bzw. zwischen Sozialleistungsträgern ein gesetzliches Auftragsverhältnis besteht (vgl. etwa zu den Leistungen der unechten Krankenversicherung nach § 264 SGB V einerseits BSG, Urteil vom 17.6.2008 - B 1 KR 30/07 R - juris Rn. 10 ff. und andererseits BSG, Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R - juris Rn. 23; dazu auch Sunder, NDV 2004, 320 ff.), und zum anderen die Frage der Durchsetzung des Vorrang-Nachrang-Verhältnisses i.S. des § 10 Abs. 4 SGB VIII durch den neu zuständigen örtlichen Träger der Jugendhilfe bei bestehender (Weiter-)Leistungspflicht des bisher zuständigen Jugendhilfeträgers nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (vgl. dazu etwa das DiJuF-Rechtsgutachten vom 25.8.2021 - SN 2020 1396 Se, JAmt 2021, 459).