Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 21.09.2022, Az.: L 13 AS 505/21
Übernahme der Kosten für ein elektronisches Wörterbuch; Einmalige Kosten; Tatbestandsmerkmal des laufenden Bedarfs
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 21.09.2022
- Aktenzeichen
- L 13 AS 505/21
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2022, 45389
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2022:0921.L13AS505.21.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 16.11.2021 - AZ: S 37 AS 1268/19
Rechtsgrundlagen
- § 21 Abs. 6 SGB II
- v. 13.05.2011 § 21 Abs. 6 S. 1 SGB II
- § 28 Abs. 3 SGB II
- § 193 SGG
Amtlicher Leitsatz
Bei einmaligen Kosten für die Beschaffung eines elektronischen Wörterbuchs für den Schulunterricht handelt es sich nicht um einen laufenden Bedarf i. S. des § 21 Abs. 6 SGB II in der bis zum 31.12.2020 gültigen Fassung.
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 16. November 2021 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Erstattung von im September 2019 entstandenen Kosten für ein elektronisches Wörterbuch in Höhe von 138,95 €.
Die 2003 geborene Klägerin stand mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern bei dem Beklagten im laufenden Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid vom 5. September 2019 bewilligte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Bewilligungszeitraum von September 2019 bis August 2020. Für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf bewilligte er der Klägerin mit diesem Bescheid für Februar 2020 einen Betrag von 50 € und für August 2020 einen Betrag von 100 € und mit weiterem Bescheid von 10. September 2019 auch für August 2019 einen Betrag von 100 € (Schulbedarfspauschale nach § 28 Abs. 3 SGB II). Schließlich bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Änderungsbescheid vom 29. Oktober 2019 weitere Leistungen unter Anerkennung eines Mehrbedarfs in Höhe von 112,39 € „für den zusätzlichen Schulbedarf“.
Die Klägerin besuchte seinerzeit die 11. Klasse der Berufsbildenden Schulen J. der Stadt K.. Die Schule gab für den Sprachunterricht verbindlich die Anschaffung des elektronischen Wörterbuchs „Casio EW-G570C“ zum Preis von 138,95 € im Rahmen einer Sammelbestellung vor. Der Kaufpreis wurde am 19. September 2019 vom Konto der Mutter an die Lieferfirma überwiesen. Den Antrag auf Kostenübernahme lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 2. Oktober 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2019 ab. Zur Begründung gab er an, die Kosten für das elektronische Wörterbuch seien von der Schulbedarfspauschale umfasst. Weitere Kosten könnten daher nicht übernommen werden.
Mit der am 19. November 2019 erhobenen Klage hat sich die Klägerin auf das „Schulbuch-Urteil“ des Bundessozialgerichts (BSG) vom 8. Mai 2019 (B 14 AS 13/18 R) berufen, welches auf „andere einmalige kostenträchtige Schul- und Bildungsbedarfe“ übertragbar sei.
Nach Einholung einer Auskunft des Schulleiters zu den schulischen Vorgaben hinsichtlich der Anschaffung des streitgegenständlichen elektronischen Wörterbuchs hat das Sozialgericht (SG) Oldenburg der Klage stattgegeben und den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 138,95 € zu zahlen (Urteil vom 16. November 2021). Zur Begründung hat es ausgeführt, dass sich der Anspruch auf Kostenübernahme aus § 21 Abs.6 SGB II (unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf) ergebe. Die Kosten für ein elektronisches Wörterbuch seien weder vom Regelbedarf noch von der Schulbedarfspauschale abgedeckt. Die Kosten seien aufgrund der verpflichtenden schulischen Vorgabe auch unabweisbar und eine anderweitige Bedarfsdeckung sei nicht möglich. Schließlich handele es sich auch um einen laufenden Bedarf. Insoweit sei keine andere Beurteilung angezeigt als bei Schulbüchern, bei denen der Bedarf während der gesamten Schulzeit regelmäßig und absehbar in jedem Schuljahr erneut anfalle. Das elektronische Wörterbuch habe „schulbuchersetzende Funktion“, weshalb die Rechtsprechung des BSG zu Tablets (Urteil vom 12. Mai 2021 – B 4 AS 88/20 R) nicht anwendbar sei.
Gegen das ihm am 22. November 2021 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 10. Dezember 2021 die vom SG zugelassene Berufung eingelegt. Er rügt fehlende Feststellungen des SG zur Möglichkeit einer Ausleihe von Geräten, die von der Schule vorgehalten werden, sowie zu einer Kostenübernahme im Rahmen schulrechtlicher Bestimmungen. Ferner sei das in Rede stehende Gerät nicht mit einem Schulbuch vergleichbar und es ersetzten auch andere elektronische Geräte wie Laptops/Notebooks Bücher, sodass dieses Kriterium nicht zur Abgrenzung zwischen einmaligem und laufendem Bedarf herangezogen werden könne.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Oldenburg vom 16. November 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist darauf, dass der Beklagte die Kosten für ein herkömmliches Wörterbuch zweifellos hätte übernehmen müssen. Für ein digitales Wörterbuch könne nicht anderes geltend.
Die Beteiligten haben sich einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakten verwiesen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG), ist begründet.
Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 2. Oktober 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2019 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat für August 2019 keinen Anspruch auf höhere Leistungen nach dem SGB II unter Anerkennung eines Mehrbedarfs für Kosten eines elektronischen Wörterbuchs. Das anderslautende Urteil des SG Oldenburg vom 16. November 2021 ist daher aufzuheben.
Da es sich bei dem Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 12. Mai 2021 – B 4 AS 88/20 R – juris Rn. 11 m. w. N.) nicht um einen vom Regelbedarf abtrennbaren Streitgegenstand handelt, stellt sich der Kostenübernahmeantrag der Klägerin verfahrensrechtlich als Antrag auf Änderung des Bewilligungsbescheides vom 5. September 2019 wegen einer eingetretenen Änderung (am 19. September 2019 entstandene Kosten für die Beschaffung eines elektronischen Wörterbuchs) nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) dar. Diesen Antrag hat der Beklagte im Ergebnis zu Recht abgelehnt, da die fraglichen Kosten keinen Mehrbedarf i. S. des § 21 Abs. 6 SGB II (in der hier anzuwendenden, vom 3. Juni 2010 bis 31. Dezember 2020 geltenden Fassung) begründeten und damit eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen nicht eingetreten war.
Es ist bereits fraglich, ob der Anwendungsbereich des § 21 Abs. 6 SGB II überhaupt eröffnet ist. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn es um Bedarfe geht, die von dem spezielleren und daher abschließenden § 28 SGB II erfasst sind (vgl. BSG a. a.O. Rn. 18). Die Schulbedarfspauschale ist zum 1. August 2019 von 100 € auf 150 € pro Schuljahr erhöht worden (§ 28 Abs. 3 SGB II i. V. m. § 34 Abs. 3 S. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB XII] in der hier anwendbaren Fassung seit dem 1. August 2019). Mit dieser Erhöhung sollte u. a. der zunehmenden Digitalisierung in der Schule Rechnung getragen und ein damit einhergehender erhöhter Bedarf berücksichtigt werden. Für die aktuelle Rechtslage spricht – anders als zuvor (vgl. BSG a. a. O.) – einiges dafür, dass die Kosten für elektronische Geräte wie Tablets oder Wörterbücher grundsätzlich aus der Schulbedarfspauschale zu bestreiten sind (vgl. für Tablets: Wietfeld, NZS 2019, 801, 806; a. A. Leopold/Buchwald in: Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB II, 5. Aufl., § 28 Rn. 111).
Jedenfalls sind die Voraussetzungen der Härtefallregelung des § 21 Abs. 6 SGB II nicht erfüllt.
Es handelt sich bei den streitbefangenen Kosten für die Beschaffung eines elektronischen Wörterbuchs bereits nicht um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf. Das Tatbestandsmerkmal „laufender Bedarf“ in § 21 Abs. 6 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung setzt voraus, dass es sich um einen regelmäßig wiederkehrenden, dauerhaften und längerfristigen Bedarf handelt (vgl. BSG a. a. O. Rn. 23). Dies ist für das hier in Rede stehende elektronische Wörterbuch nicht erkennbar. Die Auffassung des SG, es sei auf die „schulbuchersetzende Funktion“ des Geräts abzustellen und hieraus resultiere wie bei Schulbüchern ein laufender Bedarf, überzeugt nicht. Bei der Prüfung der Frage, ob es sich bei der Anschaffung eines elektronischen Wörterbuchs um einen laufenden Bedarf handelt, ist auf dieses konkrete Gerät abzustellen und es kann – anders als auch die Klägerin in ihrer Berufungserwiderung meint -- nicht darauf ankommen, welche anderen Schulmaterialien anstelle dieses Geräts hätten angeschafft werden müssen. Aufgrund des auf eine konkret-individuelle Sondersituation abstellenden Ausnahmecharakters des § 21 Abs. 6 SGB II („im Einzelfall“) ist eine Prognose anhand der individuellen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (BSG a. a. O., m. w. N.). Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass das elektronische Wörterbuch bis zur Erlangung des Schulabschlusses mehrfach angeschafft werden muss. Insofern ergibt sich keine andere Beurteilung als beim Tablet. Dieses stellt ebenso wie das hier streitige elektronische Wörterbuch weder bei einer konkret-individuellen noch bei einer abstrakt-generellen Betrachtungsweise einen laufenden Bedarf dar, da es für den Schulunterricht nicht typischerweise wiederholt angeschafft werden muss (vgl. BSG a. a. O. Rn. 24).
Scheidet die Anwendbarkeit des § 21 Abs. 6 SGB II schon aus den vorstehenden Gründen aus, kommt es auf die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht an. Weitere Anspruchsgrundlagen für die begehrte Kostenübernahme sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor, insbesondere scheidet eine grundsätzliche Bedeutung schon mit Blick auf eine zwischenzeitliche Gesetzesänderung aus (Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 21 Abs. 6 SGB II auch auf einmalige Bedarfslagen zum 1. Januar 2021 durch das Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie weiterer Gesetze vom 9. Dezember 2020 [BGBl. I 2855]).