Sozialgericht Aurich
Beschl. v. 09.06.2005, Az.: S 25 AS 78/05 ER
Anspruch auf Gewährung laufender Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie von Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung; Summarische Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes; Gesetzliche Vermutung der Bevollmächtigung des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zur Beantragung von Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen; Ärztliches Attest als Voraussetzung für die Gewährung des Mehrbedarfszuschlags gem. § 21 Abs. 5 SGB II; Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für die Gewährung von Krankenkostzulage; Verwertbarkeit des Begutachtungsleitfadens des Landschaftsverbandes Westfalen- Lippe bei der Bemessung der Krankenkostzulage
Bibliographie
- Gericht
- SG Aurich
- Datum
- 09.06.2005
- Aktenzeichen
- S 25 AS 78/05 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 31781
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGAURIC:2005:0609.S25AS78.05ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 21 Abs. 5 SGB II
- § 38 S. 1, 2 SGB II
- § 86 Abs. 2 S. 2 und 4 SGG
- § 920 Abs. 2 ZPO
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Aus dem Rechtsgedanken des § 38 S. 1 und 2 SGB II ergibt sich für das Verwaltungsverfahren die Vermutung, dass im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft der erwerbsfähige Hilfebedürftige zum Bezug von Leistungen nach dem SGB II bevollmächtigt ist, soweit konkrete Anhaltspunkte nicht entgegenstehen.
- 2.
Die Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages nach § 21 Abs. 5 SGB II setzt grds. die Vorlage eines entsprechenden ärztlichen Attestes voraus. Dabei bestimmt sich die Höhe des Mehrbedarfs nach dem ernährungswissenschaftlich erforderlichen Ernährungsbedarf.
- 3.
Bei der Bestimmung der Angemessenheit des Mehrbedarfs können die vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge entwickelten und an antypisierten Fallgestaltungen ausgerichteten Empfehlungen herangezogen werden.
In dem Rechtsstreit
hat das Sozialgericht Aurich - 25. Kammer -
am 9. Juni 2005
durch
den Richter am Verwaltungsgericht Sonnemann - Vorsitzender -
beschlossen:
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, bei der Gewährung laufender Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für Herrn D. weiterhin in der Zeit von Mai 2005 bis einschließlich Oktober 2005 einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II in Höhe von monatlich 51,13 EUR zu berücksichtigen
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages für eine kostenaufwändige Ernährung ihres Ehemannes, D., gemäß § 21 Abs. 5 SGB II.
Mit ihrem Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II legten die Antragstellerin und ihr Ehemann eine ärztliche Bescheinigung zur Anerkennung eines Mehrbedarfes für kostenaufwändige Ernährung des Facharztes für Allgemeinmedizin E. vom 09. November 2004 vor. Nach dieser Bescheinigung leidet Herr D., geb. am 09. Januar 1955, an Diabetes mellitus Typ I, wobei eine konventionelle Insulintherapie (Krankenkost: Diabeteskost) notwendig sei. Die Agentur für Arbeit F. bewilligte daraufhin bei der Gewährung von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II mit Erstbescheid vom 30. November 2004 u.a. einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung in Höhe von 51,13 EUR monatlich. Das Arbeitsamt F. /Landkreis G. gewährte Herrn D. mit Bescheid vom 20. Januar 2005 für den nachfolgenden Zeitraum vom 01. Februar 2005 bis 30. April 2005 ebenfalls Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung in Höhe von 51,13 EUR monatlich.
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid des Antragsgegners vom 25. April 2005, der den Zeitraum vom 01. Mai 2005 bis zum 31. Oktober 2005 regelt, entfiel dann dieser Mehrbedarfszuschlag.
Gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 25. April 2005 hat die Antragstellerin unter dem 30. Mai 2005 Widerspruch eingelegt und zugleich beim erkennenden Gericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie vertritt die Auffassung, dass der Antragsgegner weiterhin verpflichtet sei, Herrn D. auf Grund dessen Erkrankung ein Mehrbedarfszuschlag gemäß § 21 Abs. 5 SGB II zu gewähren.
Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu verpflichten, bei der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an die Bedarfsgemeinschaft auch einen Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 5 SGB II für kostenaufwändige Ernährung zu berücksichtigen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er bestreitet nicht, dass Herr D. an Diabetes mellitus Typ I erkrankt ist und eine konventionelle Insulintherapie durchgeführt wird. Er bezweifelt aber zum einen die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Entscheidung. Zum anderen verweist er auf den medizinischen Begutachtungsleitfaden des Landschaftsverbandes Westfalen/Lippe wonach bei Diabetes mellitus und Normalgewicht eine optimale Einstellung auf der Basis einer ausgewogenen Mischkost unter Verzicht auf teilweise kostenintensive Diätprodukte erreicht werden könne. Mehrkosten entstünden hierdurch nicht. Die Empfehlungen des Deutschen Vereins seien zwischenzeitlich wissenschaftlich überholt. Im Übrigen habe die Antragstellerin nicht dargelegt, das durch die Erkrankung ihres Ehemannes ernährungsbedingte Mehrkosten entstünden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) als auch die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), also die Eilbedürftigkeit, glaubhaft gemacht werden (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Die Glaubhaftmachung bezieht sich dabei auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes im so genannten summarischen Verfahren (Berlit, Vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz im Leistungsrecht der Grundsicherung für Arbeit Suchende - ein Überblick, Info also, 2005, 3, 7; Meyer-Ladewig, SGG Kommentar, 7. Aufl. 2002, § 86 b Rn 40).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist es der Antragstellerin gelungen, sowohl die Voraussetzungen des Anordnungsanspruches als auch des Anordnungsgrundes glaubhaft darzulegen.
Obwohl die Antragstellerin mit dem vorliegenden Antrag Ansprüche ihres Ehemannes, D., verfolgt, steht dies der Wirksamkeit des Antrages, der (nur) von der Antragstellerin gestellt worden ist, nicht entgegen. Dies ergibt sich aus dem Rechtsgedanken des § 38 Satz 1 und 2 SGB II. Danach wird für das Verwaltungsverfahren vermutet, soweit Anhaltspunkte nicht entgegenstehen, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Person zu beantragen und entgegen zu nehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Hilfebedürftige in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zu Gunsten desjenigen, der die Leistung beantragt (§ 38 Satz 2 SGB II). Die Antragstellerin und ihr Ehemann sind beide erwerbsfähige Hilfebedürftige und leben in einer Bedarfsgemeinschaft. In dem streitgegenständlichen Bescheid des Antragsgegners vom 25. April 2005 ist in der Bedarfsberechnung als erstes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft die Antragstellerin aufgeführt. Sie ist daher berechtigt, auch Ansprüche für ihren Ehemann geltend zu machen.
Nach § 21 Abs. 5 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Diese Regelung entspricht im Grundsatz der früheren Regelung in § 23 Abs. 4 BSHG. Voraussetzung für die Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages nach § 21 Abs. 5 SGB II ist zunächst grundsätzlich, dass ein entsprechendes ärztliches Attest vorliegt. Die Höhe des Mehrbedarfes bestimmt sich dann nach dem ernährungswissenschaftlich erforderlichen Ernährungsbedarf. Der Hilfeberechtigte hat insoweit einen auch der Höhe nach bestimmten Rechtsanspruch auf die Krankenkostzulage; es sind die tatsächlich erforderlichen Mehrkosten zu decken (LPK -SGB II, Kommentar, § 21 Rn 24). Für die Entscheidung, ob im konkreten Einzelfall ein Hilfeberechtigter einen Anspruch auf einen Mehrbedarfszuschlag für kostenaufwändige Ernährung hat, legt das erkennende Gericht - zumindest für Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - in Übereinstimmung mit der früheren Rechtssprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg (vgl. Beschluss vom 13. Oktober 2003, 12 LA 385/03, FEVS 55 (2004), Seite 359 ff - die Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostenzulage des Deutschen Vereins zu Grunde. Dies entspricht auch den Gesetzesmaterialien zum SGB II (BT - Dr 15/1516, 57), wonach bei der Bestimmung der Angemessenheit des Mehrbedarfs die hierzu vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge entwickelten und antypisierten Fallgestaltung ausgerichteten Empfehlung herangezogen werden können. Die Erarbeitung dieser Empfehlung ist geprägt von einem Zusammenwirken von Wissenschaftlern aus den Fachgebieten der Medizin und der Ernährungswissenschaft. So sind nicht nur die medizinisch notwendigen Ernährungsformen bei verschiedenen Krankheiten festgestellt, sondern auch die Kostenunterschiede wissenschaftsmethodisch ermittelt worden, die sich bei den, den verschiedenen Krankheitsbildern entsprechenden Ernährungsform bzw. Diäten, im Vergleich zu einer den ernährungswissenschaftlichen Anforderungen entsprechenden "Normalernährung" ergeben (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 13. Oktober 2003, a.a.O.). Der Auffassung des Antragsgegners, dass der Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung (auch) anhand des medizinischen Begutachtungsleitfadens des Landschaftsverbandes Westfalen/Lippe zu beurteilen sei, vermag sich das erkennende Gericht zumindest für Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht anzuschließen. Die Bedenken an der Verwertbarkeit des Begutachtungsleitfadens des Landschaftsverbandes Westfalen/Lippe sind in der genannten Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 13. Oktober 2003 ausführlich und zutreffend dargestellt. Diesen Ausführungen schließt sich der erkennende Richter voll inhaltlich an. Von Bedeutung ist insbesondere, dass an der Erstellung des Leitfadens ausschließlich Mediziner beteiligt gewesen sind. Zwar sind wohl auch praktische Erfahrungen von Gesundheitsämtern und Sozialämtern eingeflossen; es wird aber nicht deutlich, worin diese im Einzelnen bestanden. Auch lässt sich dem Begutachtungsleitfaden des Landschaftsverbandes Westfalen/Lippe nicht entnehmen, auf welcher Grundlage die Aussagen zu den Kosten medizinisch notwendig umgestellter Ernährungsformen beruhen. Die Auffassung des Antragsgegners, das die Empfehlung des Deutschen Vereines teilweise aus dem Jahre 1974 stammen und Grundlage für diese Empfehlungen ein Wissensstand weit vor 1974 gewesen sei, weckt im Übrigen einen falschen Eindruck. Zwar hat der Deutsche Verein im Jahr 1974 ernährungswissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt und entsprechend Gutachten und Empfehlungen veröffentlich. Diese sind jedoch im Jahre 1997 überarbeitet worden. Für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes legt das erkennende Gericht seiner Beurteilung - mangels anderweitig verfügbarer gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse - die Empfehlung des Deutschen Vereines (Stand 31.121997) zu Grunde. Ob die vom Deutschen Verein ermittelten Werte für die Zeit ab 1998 jährlich fortzuschreiben sind (so Hofmann in LPK-SGB II § 21 Rn 28) erscheint erwägenswert. Mangels gesicherter Erkenntnisse ist diese Fortschreibung aber jedenfalls nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmen.
Herr D. leidet, wie sich aus der vorgelegten ärztlichen Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin E. vom 09. November 2004 ergibt, an Diabetes mellitus Typ I, wobei er einer konventionellen Insulintherapie mit Diabeteskost bedarf. Sowohl die Erkrankung als auch diese ärztliche Aussage sind unstrittig. Bei Anwendung der Empfehlung des Deutschen Vereines für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe (Kleinere Schriften des Deutschen Vereines, 2. Auflage 1997) ergibt sich bei insulinbedürftiger Diabetes ein monatlicher Mehrbedarf für kostenaufwändigere Ernährung in Höhe von 51,00 EUR. Da der Antragsgegner bis zum 30. April 2005 einen Mehrbedarfszuschlag in Höhe von 51,13 EUR gewährt hat, - und dieser Mehrbedarfszuschlag offensichtlich der Verwaltungspraxis entspricht - ist an diesem Betrag festzuhalten.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat die Antragstellerin auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Zwar erhalten die Antragstellerin, ihr Ehemann und die beiden gemeinsamen Kinder ausweislich des streitgegenständlichen Bescheides vom 25. April 2005 für die Zeit ab dem 01. Mai 2005 bis einschließlich 31. Oktober 2005 monatliche Leistungen in Höhe von 1.112,00 EUR. Der Auffassung, dass auf Grund dieses Betrages ein Anordnungsgrund nicht bestehe, vermag sich das Gericht aber nicht anzuschließen. Entscheidend ist vielmehr, dass - anders als in der Vergangenheit - derzeit kein Mehrbedarfszuschlag gewährt wird. Ein Mehrbedarfszuschlag in Höhe von monatlich rund 51,00 EUR ist auch nicht als Bagatellbetrag einzustufen. Der Ehemann der Antragstellerin ist auf Grund seiner Diabeteserkrankung offensichtlich auf diesen Mehrbedarfszuschlag angewiesen, um sich entsprechend der dieser Entscheidung zu Grunde liegenden medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse ernähren zu können.
In Anlehnung an die Regelung in § 41 Abs. 1 Satz 3 SGB II spricht das Gericht die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung des streitgegenständlichen Mehrbedarfszuschlages für einen Zeitraum von 6 Monaten beginnend ab Antragstellung aus. Dies deckt sich auch mit dem Regelungszeitraum des Bescheides vom 25. April 2005.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.