Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 31.05.2006, Az.: L 8 AS 205/06 ER
Anspruch auf Weiterzahlung der Grundsicherung für Arbeitsuchende; Aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bei Entscheidung des angefochtenen Verwaltungsakts über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende; Rücknahme eines begünstigenden rechtswidrigen Verwaltungsakts
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 31.05.2006
- Aktenzeichen
- L 8 AS 205/06 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 18220
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0531.L8AS205.06ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 17.03.2006 - Az: S 8 AS 148/06 ER
Rechtsgrundlagen
- § 1615 BGB
- § 86b Abs. 2 S. 1 u. 2 SGG
- § 39 SGB II
- § 40 Abs. 1 SGB II
- § 331 Abs. 2 SGB III
- § 45 SGB X
Fundstelle
- ZfF 2007, 16
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 17. März 2006 aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 11. April 2004 (1)(Aufhebung des Bescheides vom 2. Januar 2006) wird angeordnet.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin über den 28. Februar 2006 hinaus die mit Bescheid vom 2. Januar 2006 bewilligten Leistungen auszuzahlen.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Weiterzahlung der ihr und ihrem im April 2003 geborenen Sohn E. mit Bescheid vom 2. Januar 2006 bewilligten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) über den 28. Februar 2006 hinaus. Der Antragsgegner hatte die Zahlung ab März 2006 eingestellt, weil seines Erachtens die Antragstellerin in einem eheähnlichen Verhältnis mit Herrn F. lebt und dessen Einkommensverhältnisse nicht offen gelegt werden.
Das Sozialgericht (SG) Stade hat den am 6. März 2006 gestellten Antrag als Antrag nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angesehen und mit Beschluss vom 17. März 2006 abgelehnt. Zwischen der Antragstellerin und Herrn F., dem Vater von E., bestehe eine Einstandsgemeinschaft. Herr F. sei zudem der Antragstellerin und E. gegenüber gemäß § 1615 l Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zum Unterhalt verpflichtet.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Antragstellerin mit ihrer am 18. April 2006 eingelegten Beschwerde. Sie bestreitet das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft mit Herrn F. und trägt vor, dass ihre Beziehung zu ihm bereits kurz nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes E. gescheitert war. Herr F. habe in der Folgezeit verschiedene Beziehungen zu anderen Frauen und Männern gehabt und sich nicht um die Belange der Beschwerdeführerin und seines Sohnes gekümmert. Nur aus finanziellen Gründen habe er weiterhin in der gemeinsamen Wohnung gelebt. Nunmehr sei er aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und habe sich zum 1. April 2006 bei seinem Bruder in G. angemeldet.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die gemäß §§ 172, 173 SGG zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet. Der angefochtene Beschluss des SG Stade ist auf die Beschwerde der Antragstellerin aufzuheben, ihr ist vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren. Der Antragsgegner ist verpflichtet, die Leistungen aus seinem Bewilligungsbescheid vom 2. Januar 2006 weiter zu zahlen.
Das SG hat das Begehren der Antragstellerin ersichtlich als Antrag nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG angesehen. Regelungsanordnungen nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG sind nur zulässig, wenn kein Fall des Absatzes 1 der Vorschrift vorliegt. Ob der hier zu beurteilende Sachverhalt bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des SG einem derartigen Fall gleichzustellen war (vgl hierzu die Erwägungen des Senats im Beschluss vom 8. Mai 2006 - Bewilligung von Prozesskostenhilfe ), kann letztlich offen bleiben, weil jedenfalls nach Erlass des Bescheides vom 11. April 2006 ein Fall des § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG vorliegt. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache in Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
Grundsätzlich haben Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung, sofern nicht durch Bundesgesetz anderes geregelt ist (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG). § 39 SGB II enthält eine abweichende Regelung für Fälle, in denen der angefochtene Verwaltungsakt über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet. Ein solcher Fall liegt hier vor mit der Folge, dass der Widerspruch des Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 11. April 2006 keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Diese kann durch das Gericht der Hauptsache gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ganz oder teilweise angeordnet werden, sofern nicht die sofortige Vollziehung des Bescheides durch die Verwaltungsbehörde bereits ausgesetzt worden ist (§ 86a Abs. 3 Satz 1 SGG).
Über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung entscheidet das Gericht nach Ermessen und aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung. Sie ist in der Regel anzuordnen, wenn das Interesse des belasteten Leistungsempfängers an der aufschiebenden Wirkung überwiegt und die Behörde keine Umstände dargelegt hat, die einen Vorrang an alsbaldiger Vollziehung erkennen lassen. Ist der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und ist der Leistungsempfänger dadurch in seinen Rechten verletzt, liegt kein Interesse der Behörde an der Vollziehbarkeit vor (Meyer- Ladewig, SGG-Kommentar 8. Auflage, § 86b Rdnr 12 ff.).
Die Voraussetzungen für eine derartige Anordnung sind hier erfüllt. Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. April 2006 erweist sich als rechtswidrig. Mit diesem Bescheid hat der Antragsgegner den Bewilligungsbescheid vom 2. Januar 2006 gemäß § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) rückwirkend zum 1. März 2006 aufgehoben.
Nach § 45 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 SGB II und § 331 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) ist ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt, im Falle seiner Rechtswidrigkeit ganz oder teilweise bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen zurückzunehmen. Diese Voraussetzungen sind im Einzelnen in § 45 Abs. 2, 4 SGB X geregelt. Gemäß § 45 Abs. 2 SGB X ist eine Rücknahme dann nicht möglich, wenn der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist; auf Vertrauen kann sich der Begünstigte dann nicht berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X), der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2 der Vorschrift) oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Nr. 3 der Vorschrift). Nur bei Vorliegen einer dieser drei Voraussetzungen oder in dem Fall, dass Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 Zivilprozessordnung (ZPO) vorliegen, wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen (§ 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X).
Es kann hier offen bleiben, ob der ursprüngliche Bewilligungsbescheid rechtswidrig war. Diese Frage bedarf im Rahmen des hier vorliegenden Verfahrens keiner endgültigen Klärung und kann einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren überlassen werden. Der Bescheid vom 11. April 2006 ist bereits deshalb rechtswidrig, weil ihm die nach § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB X erforderliche Begründung fehlt und nach summarischer Prüfung auch keine der in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen vorliegt.
Die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes bedeutet einen erheblichen Eingriff in die Rechte des Leistungsempfängers. Deswegen kommt der grundsätzlichen Verpflichtung zur Begründung eines Verwaltungsaktes in derartigen Fällen besondere Bedeutung zu. Der Leistungsempfänger muss dem Rücknahmebescheid entnehmen können, warum in seine Rechtsposition eingegriffen wird. Bei der hier erfolgten Rücknahme für die Vergangenheit muss sich aus dem Bescheid zumindest ergeben, welche der hierfür erforderlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 4 Satz 1 iV mit Abs. 2 Satz 3 bzw. Abs. 3 Satz 2 SGB X als erfüllt angesehen werden. Der Bescheid vom 11. April 2006 enthält hierzu keinerlei Ausführungen und unterliegt bereits deshalb der Aufhebung.
Die Antragstellerin konnte im Übrigen auf den Bestand des Verwaltungsaktes (hier des Bewilligungsbescheides vom 2. Januar 2006) vertrauen, ihr Vertrauen war unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig. Der Verwaltungsakt beruhte, so das Ergebnis der summarischen Prüfung durch den Senat, nicht auf Angaben, die die Antragstellerin vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Insoweit könnte allenfalls in Betracht kommen, dass sie im Antrag vom Januar 2005 angegeben hatte, mit dem Vater ihres Sohnes, Herrn F., zwar in einer Wohnung, aber "getrennt" zu leben; in den Folgeanträgen hatte sie jeweils die Frage nach Änderungen in den persönlichen Verhältnissen mit "unverändert" beantwortet. Ob diese Angaben, die vom Antragsgegner trotz Kenntnis der Verhältnisse über ein Jahr nicht in Zweifel gezogen wurde, unrichtig i.S. von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X waren, ist im Hinblick auf die obigen Ausführungen zur Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides zumindest zweifelhaft. Aus den gleichen Gründen kann nach derzeitigem Kenntnisstand auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X).
Bei derart erheblichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides ist hier die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen. Das Interesse der ohne die streitigen Leistungen über keine Einkünfte verfügende Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung wiegt erheblich schwerer als das des Antragsgegners. Dieser hat keine überzeugenden Umstände dargelegt, die einen Vorrang an alsbaldiger Vollziehung erkennen lassen. Bei der Formulierung in der Beschwerdeerwiderung, er sei nicht bereit, die "Gewährung von solchen Leistungen zu verantworten, bei denen die erforderlichen Mittel von der Solidargemeinschaft unter großen Anstrengungen und Mühen sowie auch unter bereits nachhaltig spürbaren sozialen Spannungen aus allgemeinen Steuermitteln aufgebracht werden", handelt es sich um reine Allgemeinsätze. Sollte sich in einem Hauptsacheverfahren die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides herausstellen und auch die formellen Voraussetzungen für eine Rücknahme erfüllt sein, steht es dem Antragsgegner frei, ggf. überzahlte Leistungen von der Antragstellerin zurückzufordern. Nachteile für eine "Solidargemeinschaft" können damit nicht entstehen.
Im Hinblick auf die vom Antragsgegner in Anwendung des § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II iV mit § 331 SGB III ab dem 1. März 2006 vorläufig eingestellten Zahlungen hat der Senat neben der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 11. April 2004 letzteren verpflichtet, der Antragstellerin über den 28. Februar 2006 hinaus die mit Bescheid vom 2. Januar 2006 bewilligten Leistungen auszuzahlen. Zwar kann die vorläufige Zahlungseinstellung nach Erlass des Rücknahmebescheides vom 11. April 2006 keinen Rechtsgrund für die Vorenthaltung von Leistungen mehr darstellen, aus Gründen der Rechtssicherheit scheint dem Senat eine ausdrückliche Zahlungsverpflichtung jedoch geboten.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.