Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 07.06.2006, Az.: 1 B 23/06

Abwägung; Anpassungsstörung; antizipiertes Ermessen; Auflage; Ausländerbehörde; Belastungsstörung; Duldung; Ermessen; ernstliche Zweifel; Interessenabwägung; Isolierung; Pflege; Pflegebedürftigkeit; räumliche Beschränkung; Rückführung; Somalia; somalische Staatsangehörige; Suizid; Suizidgefährdung; unmittelbarer Zwang; Verteilung; Verwaltungsvorschrift; Vollzugsanordnung; Wiederherstellung ; Wohnsitz; Wohnsitzauflage; Wohnsitznahme

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
07.06.2006
Aktenzeichen
1 B 23/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 53240
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz für ihre Klage, mit der sie sich gegen die ihrer Aufenthaltsbefugnis beigefügten Wohnsitzauflage sowie die Androhung unmittelbaren Zwanges zur Durchsetzung der Wohnsitzauflage wendet.

2

Die am 1. Januar 1944 in C. /Somalia geborene Antragstellerin reiste im Mai 1999 in das Bundesgebiet ein und beantragte Asyl. Sie wurde dem Freistaat Sachsen zugewiesen. Das Asylbegehren der Antragstellerin lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 14. Februar 2000 ab. Aufgrund eines Urteils des Verwaltungsgerichts Chemnitz stellte es mit Bescheid vom 4. Mai 2000 jedoch fest, dass in der Person der Antragstellerin Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Somalia vorliegen.

3

Durch die Stadt Plauen erhielt die Antragstellerin zunächst Duldungen, in denen der Aufenthalt auf den Freistaat Sachsen beschränkt war. Eine von der Antragstellerin im Jahre 2003 begehrte Aufhebung der Wohnsitzauflage zum Zwecke des Umzuges nach Walsrode zu ihrem dort lebenden Neffen wegen einer psychischen Erkrankung der Antragstellerin scheiterte an der fehlenden Zustimmung des Antragsgegners. Mit Bescheid vom 9. März 2005 erteilte die Stadt Plauen der Antragstellerin eine bis zum 9. März 2006 befristete Aufenthalterlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG. Eine räumliche Beschränkung des Aufenthalts wurde darin ohne erneute Rücksprache mit dem Antragsgegner nicht mehr aufgenommen. Die Antragstellerin zog daraufhin nach Walsrode in eine eigene Wohnung; sie bezieht weiterhin Sozialhilfeleistungen.

4

Am 23. März 2006 beantragte die Antragstellerin bei dem Antragsgegner die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 4. April 2006 verlängerte der Antragsgegner die Aufenthalterlaubnis der Antragstellerin um ein Jahr. Gleichzeitig verfügte er aber unter Anordnung der sofortigen Vollziehung, dass die Antragstellerin ihren Wohnsitz im Bereich des Freistaates Sachsen zu nehmen habe, forderte sie auf, bis spätestens zum 31. Mai 2006 den Bereich des Antragsgegners zu verlassen und sich zur Wohnsitznahme in den Freistaat Sachsen zu begeben, und drohte schließlich für den Fall der Nichtbefolgung die zwangsweise Rückführung in den Freistaat Sachsen an.

5

Gegen die Wohnsitzauflage und die Androhung unmittelbaren Zwanges zur Durchsetzung der Wohnsitzauflage hat die Antragstellerin am 8. Mai 2006 Klage erhoben (1 A 118/06) und gleichzeitig bei Gericht um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

6

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt dieser Gerichtsakte, den der Gerichtsakte 1 A 118/06 und den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

7

Der Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage 1 A 118/06 gegen die dem Bescheid des Antragsgegners vom 4. April 2006 beigefügte Wohnsitzauflage und die Androhung unmittelbaren Zwanges zur Durchsetzung der Auflage ist zulässig und begründet.

8

Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs oder der Klage ganz oder teilweise anordnen bzw. wiederherstellen. Bei der danach vom Gericht zu treffenden eigenen Entscheidung sind sowohl die Erfolgsaussichten als auch die jeweiligen Interessen an der Aussetzung einerseits und der sofortigen Vollziehung andererseits, die zusammen ein bewegliches System bilden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 80 Rdnr. 158), zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen. Aufgrund dieser Abwägung ist im vorliegenden Fall die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.

9

Rechtsgrundlage für die der Aufenthaltserlaubnis der Antragstellerin beigefügte, selbständig anfechtbare (vgl. zur alten, vergleichbaren Rechtslage Nds. OVG, Beschl. v. 6.6.2001- 9 LB 1401/01 -) räumliche Beschränkung, hier die sog. Wohnsitzauflage, ist § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Danach steht es im Ermessen der Ausländerbehörde, die Aufenthaltserlaubnis insbesondere mit einer räumlichen Beschränkung zu verbinden. Dieses Ermessen der Ausländerbehörde ist durch Nr. 12 Vorl. Nds. VV - AufenthG vom 31. März 2005 weiter gebunden. Nach Nr. 12.2 der Vorläufigen Verwaltungsvorschrift ist es regelmäßig, da im öffentlichen Interesse liegend, zulässig, das Aufenthaltsrecht derjenigen Ausländer, die Sozialleistungen beziehen, räumlich zu beschränken. Bedenken gegen das insoweit durch die oberste Ausländerbehörde antizipierte Ermessen im Hinblick auf höherrangiges Recht bestehen grundsätzlich nicht (vgl. VG Oldenburg, Beschl. v. 25.4.2005 - 11 B 1383/05 - mit weiteren Nachweisen).

10

Im vorliegenden Fall bestehen jedoch ernstliche Zweifel, ob der Antragsgegner nach der hier nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung von seinem Ermessen hinreichend bzw. fehlerfrei Gebrauch gemacht. Zwar ist nach Nr. 12.2.3.5 Satz 2 Vorl. Nds. VV - AufenthG die Wohnsitznahme erneut durch Auflage auf das Land des vorherigen Wohnorts des Ausländers zu beschränken, wenn eine wohnsitzbeschränkende Auflage ohne vorherige Zustimmung der Ausländerbehörde des Zuzugsorts gestrichen wurde und innerhalb von sechs Monaten am Zuzugsort Bedürftigkeit nach dem SGB II oder XII oder dem AsylbLG eintritt. Eine solche Beschränkung hat aber unter anderem dann zu unterbleiben, wenn der Umzug der Sicherstellung der benötigten Pflege von Betroffenen, die wegen ihres Alters oder wegen ihrer Krankheit oder Behinderung pflegebedürftig sind, durch die Verwandten am Zuzugsort gedient hat. Die Verneinung dieser Ausnahme durch den Antragsgegner begegnet nicht unerheblichen Bedenken. Der Antragsgegner übersieht dabei, dass ausweislich des amtsärztlich-psychiatrische Gutachtens vom 23. Juni 2003 bei der Antragstellerin eine schwere Belastungs- und Anpassungsstörung mit zunehmender Somatisierung diagnostiziert und festgestellt worden war, dass die soziale Isolierungssituation der Antragstellerin eine weitere Verstärkung des Krankheitsbildes mit zunehmender Suizidgefährdung befürchten ließ. Aus medizinischer Sicht wurde deshalb eine Umverteilung der Antragstellerin zu ihrem Neffen nach Walsrode, der bereit sei, der Antragstellerin die notwendige Hilfe und Fürsorge zukommen zu lassen, für unabweisbar gehalten. Diese in sich schlüssigen und nachvollziehbaren medizinischen Feststellungen kann der Antragsgegner nicht einfach durch eine eigene, nicht auf medizinische Feststellungen basierende Einschätzungen „beiseite schieben“. Es mag sein, dass andere Ausländer einer ähnlichen Situation wie die Antragstellerin ausgesetzt sind, nur diese sind offenbar nicht wie die Antragstellerin nachweisbar erheblich erkrankt - mit der Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung der Situation. Ob die Hilfe des Neffen und seiner deutschen Ehefrau trotz der Berufstätigkeit des Neffen für die Antragstellerin ausreichend sein wird, wie es im ärztlichen Gutachten prognostiziert worden ist, kann der Antragsgegner ohne eigene medizinische Begutachtung nicht einfach anders bewerten. Des Weiteren hat der Antragsgegner bislang nicht in den Blick genommen, dass die Antragstellerin nach dem ärztlichen Bericht des Klinikums Chemnitz vom 12. Februar 2000 und der ärztlichen Bescheinigung des Arztes D. aus Walsrode vom 15. Februar 2005 nach Brüchen des linken Unterschenkels und des linken Handgelenks in ihrer Bewegung erheblich eingeschränkt ist und darüber hinaus an Schmerzen leidet. Nach dem ärztlichen Bericht vom 15. Februar 2005 ist die Antragstellerin deshalb regelmäßig auf Hilfe angewiesen, die der Neffe gewährleistet. Aufgrund dieser Gesamtsituation spricht vieles dafür, von einer Pflegebedürftigkeit der Antragstellerin im Sinne der vorläufigen niedersächsischen Verwaltungsvorschrift auszugehen.

11

Selbst wenn jedoch eine Pflegebedürftigkeit im Sinne der Verwaltungsvorschrift noch verneint werden müsste, bestehen Bedenken, ob die dann nach der vorläufigen Verwaltungsvorschrift vorgesehene Pflicht, die Wohnsitzauflage erneut zu verfügen, ermessensgerecht ist. Es stellt sich nämlich die Frage, ob den Interessen des Ausländers bei - wie dann hier - Vorliegen der Voraussetzungen von Nr. 12.2.1.4.3 Vorl. Nds. VV- AufenthG nicht auch bei einer länderübergreifenden Verteilung von Ausländern, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, der Vorrang gebührt.

12

In Anbetracht dessen, dass die verfügte Wohnsitzauflage ernstlichen Zweifeln begegnet, kann auch deren verfügte Beachtung und zwangsweise Durchsetzung keinen Bestand haben.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.