Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 27.06.2006, Az.: 4 A 354/04

Aufenthalt; Aufenthaltsbestimmung; Aufenthaltsbestimmungsrecht; Erziehung; Hilfe zur Erziehung; Inobhutnahme; Pfleger; Unterbringung; Wunsch- und Wahlrecht

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
27.06.2006
Aktenzeichen
4 A 354/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 53304
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme von Kindern nach § 42 SGB VIII liegen nicht vor, wenn für die bei den leiblichen Eltern in ihrem Wohl gefährdeten Kinder ein Pfleger u.a. für die Bereiche Aufenthaltsbestimmung und Erziehung bestellt worden ist und der Pfleger entschieden hat, dass die Unterbringung und Erziehung der Kinder in einem hierfür geeigneten Heim erfolgen soll.

Das Jugendamt kann nicht seine Meinung an die Stelle der Beurteilung des Familiengerichts und des Pflegers setzen und die gebotene Hilfe nach §§ 27, 34 SGB VIII mit der Begründung verweigern, die über eine Inobhutnahme hinausgehende Herausnahme der Kinder aus der Familie sei nicht erforderlich.

Tatbestand:

1

Die Klägerin begehrt Hilfe zur Erziehung durch Übernahme der Kosten für die Unterbringung der Kinder I. K., geb. am 1. März 1991, und J. K., geb. am 8. März 1993, in der Einrichtung „L.“ des Landesbetriebes N. der Freien Hansestadt F..

2

Erziehungsberechtigter der Kinder war in dem hier maßgeblichen Zeitraum das mit Beschlüssen des Amtsgerichts F. - Familiengericht - vom 19. Juni 2003 im Wege der vorläufigen Anordnung und vom 15. April 2004 nach § 1666 BGB mit dem Wirkungskreis Aufenthaltsbestimmungs- und Erziehungsrecht sowie Gesundheitsfürsorge zum Pfleger bestellte Diakonische Werk C., F., das mit der Ausübung dieser Aufgabe seine Mitarbeiterin Frau A. B., die Klägerin, betraut hatte.

3

I. und J. K. sind die Söhne von Frau O. P., damals verheiratete Q., geb. am 27. August 1970. Sie ist außerdem Mutter der am 27. November 2001 geborenen Zwillinge R. und S. Q.. Die Familie wohnte zunächst in verschiedenen Stadtteilen F. s, wo die jeweils zuständigen Jugendämter der Mutter zeitweise unterschiedliche Maßnahmen der Hilfe zur Erziehung gewährten. Wegen des Verdachts auf Gefährdung des Kindeswohls wurde bei dem Amtsgericht F. - Familiengericht - im Herbst 2002 ein Verfahren nach § 1666 BGB - zunächst wegen der beiden jüngeren Kinder - eingeleitet, das ein jugendpsychologisches Gutachten bei dem Dipl.-Psychologen Dr. phil. M. T. und der Fachärztin für Kinderheilkunde Dr. med. C. U., in Auftrag gab. Nachdem die Mutter mit den Kindern Anfang 2003 nach V. in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten umgezogen war, gewährte dieser Hilfe zur Erziehung in Form der Familienhilfe. Die Betreuung übernahmen Mitarbeiterinnen der Einrichtung „Die W. -Häuser“. Für die jüngeren Geschwister, R. und S. Q., geb. am 27. November 2001, richtete das Amtsgericht F. - Familiengericht - mit Beschlüssen vom 19. Februar 2003 und 11. März 2003 sowie 19. Juni 2003 wegen Gefährdung des Kindeswohls Pflegschaften zunächst mit dem Wirkungskreis Gesundheitsfürsorge, dann auch hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungs- und Erziehungsrechts ein. Im Laufe des Jahres 2003 wurden sie durch den Beklagten in einer Pflegefamilie untergebracht.

4

Die Pflegerin der Kinder - die Klägerin - wandte sich am 21. Januar 2004 telefonisch an den Beklagten und teilte mit, der Gutachter habe ihr mitgeteilt, dass „die Großen“ aus der Familie herausgenommen werden müssten. Frau Q. habe in einem Gespräch am 19. ihr - der Pflegerin - gegenüber Drohungen geäußert und davon gesprochen, dass es „ein Blutbad“ gebe, wenn man ihr - der Mutter - die Kinder wegnehme. Sie beabsichtige als Pflegerin der Kinder die Inobhutnahme durchzuführen und wolle I. und J. in F. beim „L.“ in Y. unterbringen. Der vom Familiengericht bestellte Gutachter Dr. T. wandte sich in einem Fax vom 29. Januar 2004 an den Beklagten. Mit der Pflegerin der Kinder sei verabredet worden, diese in der Woche vom 2. bis 6. Februar 2004 in Obhut zu nehmen. Die Familienhelferin der W. -Häuser, Frau Z., habe berichtet, dass Frau Q. angekündigt habe, in diesem Falle „ein Blutbad“ anrichten zu wollen. Eine akute Selbst- und Fremdgefährdung könne nicht mit der nötigen Sicherheit ausgeschlossen werden, so dass er es für dringend erforderlich halte, dass Frau Q. die Obhutnahme der Kinder in Gegenwart des Sozialpsychiatrischen Dienstes mitgeteilt werde. Das Gutachten selbst ging am 12. Februar 2004 bei dem Familiengericht ein, das es vorab an den Beklagten und die Klägerin übersandte. Darin kamen die Gutachter zu dem Ergebnis, dass die Mutter der Kinder zumindest mittelfristig nicht in der Lage sei, die elterliche Sorge in einer nicht das Kindeswohl gefährdenden Art und Weise auszuüben. Die bisher durchgeführte ambulante Familienhilfe zeige keine ausreichende Wirkung. Ursächlich für die Kindeswohlgefährdung sei die psychische Erkrankung der Mutter der Kinder, eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus mit paranoiden Zügen.

5

Nachdem die Klägerin am 21. Januar 2004 ihre Absicht bekundet hatte, die Kinder in Obhut zu nehmen, kam es zu Unstimmigkeiten zwischen ihr und den Mitarbeitern des Beklagten wegen der Einrichtung, in der I. und J. untergebracht werden sollten. Während die Klägerin weiterhin die Einrichtung „L.“ in F. (Y.) präferierte, bestand der Beklagte darauf, im Rahmen der von ihm beabsichtigten Inobhutnahme der Kinder die Aufnahmeeinrichtung zu bestimmen. Als Termin für die Herausnahme der Kinder wurde schließlich der 25. Februar 2004 vorgesehen.

6

An diesem Tag suchte die Klägerin die Wohnung der Familie in V. auf. Außerdem trafen dort von Seiten des Beklagten die Sozialarbeiterin Frau AB. sowie Herr AC., der Leiter seines jugendpsychologischen Dienstes, ein. I. und J. wurden von der Klägerin in Empfang genommen und in deren Fahrzeug nach F. zu der Einrichtung „L.“ in Y. gebracht. Die Mitarbeiterin des Beklagten, Frau AB., begleitete sie.

7

Die Klägerin übersandte dem Beklagten dann am 9. März 2004 einen auf den 2. Februar 2004 rückdatierten Antrag auf Jugendhilfe. Diesen Antrag beschied der Beklagte zunächst nicht. Er beantragte seinerseits am 16. März 2004 die Entlassung der Klägerin aus der bestehenden Pflegschaft für die Kinder I. und J. K. und die Übertragung der Pflegschaft auf sich. Diesen Antrag lehnte das Amtsgericht F. - Familiengericht - mit Beschluss vom 15. April 2004 ab und erhielt die Pflegschaft durch die Klägerin aufrecht.

8

Mit Bescheid vom 8. Juli 2004 lehnte der Beklagte den Antrag auf „Kostenübernahme für die Inobhutnahme nach § 42 KJHG“ in dem Kinderhaus „L.“ in F. ab. Zur Begründung führte er aus, für die Inobhutnahme sei er örtlich zuständig gewesen. Von ihm werde für derartige Fälle die Dienststelle der evangelischen Jugendhilfe in AD. vorgehalten. Für die Unterbringung in der Jugendschutzstelle sei seine - am 25. Februar 2004 ebenfalls anwesende - Sozialarbeiterin zuständig gewesen. Ebenso habe die Entscheidung, welche Maßnahme die geeignete und erforderliche gewesen sei, in ihrer Zuständigkeit gelegen. Die Unterbringung im Kinderhaus „L.“ sei nicht mit der Zustimmung seiner Sozialarbeiterin erfolgt.

9

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 6. August 2004 zurück. Zur Begründung führte er aus, er als zuständiges Jugendamt und die Klägerin seien sich in der damaligen Situation darüber einig gewesen, dass die Kinder nach § 42 SGB VIII als vorläufige Maßnahme zu ihrem Schutz in Obhut genommen werden sollten. Für diese Maßnahme der Inobhutnahme sei seine Zuständigkeit begründet gewesen. Das Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 SGB VIII hinsichtlich der Einrichtung beziehe sich nicht auf Maßnahmen, wie die Inobhutnahme. Das Problem liege in der Selbstbeschaffung der Leistung durch die Klägerin. Diese habe widerrechtlich von einem ihr nicht zustehenden Wunsch- und Wahlrecht Gebrauch gemacht und die Kinder als Erziehungsberechtigte unzuständig in einer von ihr ausgewählten Einrichtung untergebracht. Die Entscheidungskompetenz des Erziehungsberechtigten werde durch § 42 SGB VIII eingeschränkt.

10

Hiergegen hat die Klägerin am 27. August 2004 Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt, der bei der Kammer erfolglos geblieben ist (Beschluss vom 7. Oktober 2004 - 4 B 171/04 -). Das Beschwerdeverfahren vor dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht ist von den Beteiligten für erledigt erklärt worden, nachdem der Beklagte die Kosten für die Unterbringung der Kinder in Y. ab dem 5. November 2004 übernommen hat.

11

Zur Begründung der Klage führt die Klägerin aus, nach den Untersuchungen im Rahmen der Erstellung des jugendpsychologischen Gutachtens habe sich bereits im Januar 2004 abgezeichnet, dass ein weiterer Verbleib von J. und I. bei der Mutter mit dem Kindeswohl nicht länger vereinbar sein werde. Der Beklagte habe dies aus dem Gutachten Dr. T., das er ebenso wie sie vor der offiziellen Versendung durch das Familiengericht vorab zur Kenntnis erhalten habe, entnehmen können. Sie habe sich frühzeitig um die Auswahl einer geeigneten Einrichtung nach § 34 SGB VIII bemüht und sich für die Einrichtung „L.“ in Y. entschieden. Dies habe sie dem Beklagten auch bereits Ende Januar 2004 mitgeteilt. Aufgrund einer telefonischen Nachfrage des Beklagten habe die Einrichtung selbst am 6. Februar 2004 an diesen Informationsmaterial übersandt. Der Beklagte habe ihr dagegen am 23. Februar 2004 telefonisch mitgeteilt, dass er beabsichtige, die Kinder am 25. Februar 2004 in einer Wohngruppe der evangelischen Jugendhilfe AE. in AD. unterzubringen. Sie habe daraufhin diese Einrichtung besucht. Vor Ort habe sie in Übereinstimmung mit den dortigen Betreuern festgestellt, dass die Einrichtung nicht geeignet sei. Einer der Lehrer, der die Kinder in der für die Unterbringung vorgesehenen Gruppe unterrichtet habe, stehe in einem unklaren Verhältnis zur Familie, so dass die zu diesem Zeitpunkt erforderliche klare Trennung von der Mutter nicht gewährleistet gewesen sei. Sie habe die Kinder daraufhin am 25. Februar 2004 in die von ihr gewünschte Einrichtung nach F. gebracht. Dabei sei sie von einer Mitarbeiterin des Beklagten begleitet worden. Obwohl dieser zunächst eine andere Einrichtung präferiert habe, habe seine Mitarbeiterin, Frau AB., vor Ort dann ihr Einverständnis mit der Unterbringung im Kinderhaus erklärt und zugesagt, sich um die entsprechende Verfügung hinsichtlich der Kostenübernahme kümmern zu wollen. Auch in der späteren mündlichen Verhandlung vor dem Familiengericht hätten sowohl Frau AB. als auch ein weiterer Mitarbeiter des Beklagten ihr Einverständnis mit der Maßnahme sowie die Bereitschaft zur Kostenübernahme zum Ausdruck gebracht. Bereits am 26. Februar 2004 sei ihr von dem Beklagten per Fax ein Antragsformular übersandt worden. Selbst wenn man davon ausgehe, dass kein Einverständnis des Beklagten vorgelegen habe, seien die Voraussetzungen für eine erlaubte Selbstbeschaffung aufgrund von „Systemversagen“ gegeben. Der Hilfebedarf sei an den Träger der Jugendhilfe rechtzeitig herangetragen worden. Die Unterbringung sei in einem bereits laufenden Hilfeverfahren erfolgt, so dass es sich lediglich um eine Veränderung der Form der Hilfegewährung vor dem Hintergrund der bereits seit längerem bekannten und dann eskalierten Problemlage gehandelt habe. Ein schriftlicher Antrag sei zudem nicht erforderlich, es reiche auch ein mündlicher oder konkludent gestellter Antrag aus. Sie - die Klägerin - habe ihren Wunsch nach Unterbringung in der von ihr präferierten Einrichtung auch rechtzeitig, d. h. mehrere Wochen vor Beginn der Maßnahme, geäußert. Als Belege für ihre Darstellung des Geschehensablaufes hat die Klägerin eidesstattliche Versicherungen von Mitarbeitern des Kinderhauses in Y. sowie der Richterin am Amtsgericht F. - Familiengericht - Dr. AF. AG. vorgelegt. Die Eignung der von ihr ausgewählten Einrichtung für die Betreuung der Kinder, die sich dort seit mehr als 1 ½ Jahren befänden, sei nicht zweifelhaft. Bei der Jugendhilfemaßnahme, deren Kostenübernahme sie begehre, habe es sich von Anfang an um eine Maßnahme nach § 34 SGB VIII gehandelt. Dass diese zwischenzeitlich von allen Beteiligten als „Inobhutnahme“ bezeichnet worden sei, stehe dem nicht entgegen. Auch die vom Beklagten vorgeschlagene Wohngruppe AH. der evangelischen Jugendhilfe AD. sei eine Betreuungsform im Sinne von § 34 SGB VIII, die für eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII gerade nicht geeignet sei. Es handele sich nämlich konzeptionell um eine feste Gruppe, deren Zusammensetzung sich über einen längeren Zeitraum nicht verändere. Kinder, die in Obhut genommen würden, würden deshalb nicht in derartigen Gruppen untergebracht. Selbst wenn der Beklagte zunächst noch davon ausgegangen sein sollte, dass die Maßnahme nur einen vorübergehenden Charakter haben werde, könne davon im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung am 6. August 2004 keine Rede mehr sein, da die Unterbringung zu diesem Zeitpunkt bereits über fünf Monate gedauert habe.

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Die Klägerin beantragt,

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den Beklagten unter Aufhebung seines Ablehnungsbescheides vom 8. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 2004 zu verpflichten, ihr Hilfe zur Erziehung durch Übernahme der Kosten für die Betreuung der Kinder I. und J. K. in der Einrichtung „L.: M.“ für den Zeitraum vom 25. Februar bis zum 5. November 2004 zu gewähren.

14

Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung führt er aus, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung für die Zeit bis zum 5. November 2004, weil die gesetzlichen Voraussetzungen der §§ 27 ff. SGB VIII nicht gegeben gewesen seien. Vorgelegen hätten vielmehr die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII, während die Klägerin die Unterbringung im Kinderhaus in F. stattdessen in unzulässiger Selbstbeschaffung vorgenommen habe. Im Übrigen beziehe er sich auf seinen Vortrag im Verfahren 4 B 171/04 und den in diesem Verfahren ergangenen Beschluss der Kammer vom 7. Oktober 2004.

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Wegen der Einzelheiten des weiteren Vorbringens wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie auf das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes 4 B 171/04 und das Beschwerdeverfahren bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht 4 ME 464/04 Bezug genommen.

18

Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung auf Antrag des Beklagten eine Beweisaufnahme durchgeführt und die Mitarbeiter seines Jugendamtes Frau AI. AB. und Herr AJ. AK. als Zeugen gehört. Hinsichtlich der Aussagen der Zeugen wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.

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Die Klägerin hat nach §§ 27, 34 SGB VIII Anspruch auf die Übernahme der Kosten für die Unterbringung der Kinder I. und J. K. in der Jugendhilfeeinrichtung „L..“ des Landesbetriebes N. der Freien Hansestadt F. für den Zeitraum vom 25. Februar bis zum 5. November 2004. Ab diesem Zeitpunkt hat der Beklagte die Kosten der Maßnahme übernommen, so dass lediglich der dazwischen liegende Zeitraum streitig ist und der maßgebliche Entscheidungszeitraum - wie auch der Vortrag des Beklagten im Klageverfahren deutlich macht - nicht durch den Erlass des Widerspruchsbescheides begrenzt wird.

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Die Abholung von I. und J. K. am 25. Februar 2004 und ihre Unterbringung in der Einrichtung in F. -Y. ist keine Maßnahme nach § 42 SGB VIII gewesen. Die rechtlichen Voraussetzungen für eine derartige Maßnahme lagen zum damaligen Zeitpunkt auch nicht vor.

22

Die Inobhutnahme durch das Jugendamt setzt zunächst grundsätzlich das Fehlen einer anderweitigen Obhut voraus (Mrozynski, SGB VIII, Kommentar, 4. Aufl. 2004, § 42 Rdnr. 4). Darüber hinaus soll das Jugendamt das Kind oder den Jugendlichen unverzüglich dem Personensorge- oder Erziehungsberechtigten übergeben oder eine Entscheidung des Familiengerichts herbeiführen, wenn der Personen- oder Erziehungsberechtigte der Inobhutnahme widerspricht (§ 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII).

23

Eine Inobhutnahme von I. und J. K. durch den Beklagten am 25. Februar 2004 kam auf dieser Grundlage nicht in Betracht. Erziehungsberechtigter war das mit Beschluss des Amtsgerichts F. - Familiengericht - vom 19. Juni 2003 im Wege der vorläufigen Anordnung nach § 1666 BGB zum Pfleger bestellte Diakonische Werk C., F., das mit der Ausübung dieser Aufgabe seine Mitarbeiterin Frau A. B., die Klägerin, betraut hatte. Aufgrund dessen war allein sie zur Aufenthaltsbestimmung und zur Regelung der Erziehung der Kinder berechtigt. Denn die elterliche Sorge der Mutter von I. und J. K. erstreckte sich nicht (mehr) auf Angelegenheiten, für die die Pflegerin bestellt war (§ 1630 BGB). Eine „Obhut“ im Sinne der Fähigkeit und Bereitschaft des Erziehungsberechtigten, das Kindeswohl wahrende Maßnahmen zu treffen, war damit gegeben, so dass eine Maßnahme des Jugendamtes nach § 42 SGB VIII schon aus diesem Grund ausschied. Darüber hinaus hatte die Pflegerin der Kinder als Erziehungsberechtigte am 25. Februar 2004 eindeutig zu erkennen gegeben, dass sie mit der vom Beklagten beabsichtigten Maßnahme mit einer anschließenden Unterbringung der Kinder in dem evangelischen AE. in AD. nicht einverstanden sei, was als Widerspruch i.S.d. Vorschrift zu werten war. Da bei der gegebenen Sachlage weder Zweifel an der Befugnis der Pflegerin, noch an deren Fähigkeit und Bereitschaft, die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl der Kinder zu treffen, bestehen konnten, haben die dort anwesenden Mitarbeiter des Beklagten zu Recht auf die beabsichtigte jugendamtliche Inobhutnahme verzichtet und deren Maßnahmen im folgenden unterstützt.

24

Für die von ihr durchgeführte Maßnahme der Unterbringung der Kinder in dem Kinderhaus „L.“ in F. -Y., einer Einrichtung nach § 34 SGB VIII, hat die Klägerin Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII. Nach dieser Rechtsvorschrift hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Zu den in diesem Zusammenhang zu gewährenden Hilfen gehört insbesondere auch die Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder einer sonstigen betreuten Wohnform nach § 34 SGB VIII. Die Voraussetzungen für eine Hilfegewährung nach diesen Vorschriften sind erfüllt.

25

Eine Kindeswohlgefährdung war gegeben. Nach der fachlichen Beurteilung der vom Amtsgericht F. - Familiengericht - im Verfahren nach § 1666 BGB bestellten Gutachter, des Dipl.-Psychologen Dr. phil. M. T. und der Fachärztin für Kinderheilkunde Dr. med. C. U., war die Mutter der Kinder zumindest mittelfristig nicht in der Lage, die elterliche Sorge in einer nicht das Kindeswohl gefährdenden Art und Weise auszuüben. Nachdem sie gegenüber verschiedenen Personen angekündigt hatte, gewalttätig zu werden und - sei es im Zusammenhang mit der anstehenden Zwangsräumung oder der absehbaren Wegnahme der Kinder - davon gesprochen hatte, „ein Blutbad“ anzurichten, ist auch der Einschätzung des Gutachters Dr. T. und der Klägerin zu folgen, ein unmittelbares Eingreifen sei geboten gewesen. Dieser Beurteilung hatte sich auch das Jugendamt des Beklagen angeschlossen, das jedenfalls nach dem 20. Februar 2004 die Inobhutnahme der Kinder vorbereitete.

26

Mit der Trennung der Kinder von ihrer leiblichen Mutter, die sich bis dahin um sie gekümmert und sie versorgt hatte, entstand unmittelbar der Bedarf an Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB VIII bei der Klägerin als der mit der Personensorge und Erziehung der Kinder betrauten Pflegerin. Denn die bloße Existenz eines gerichtlich bestellten Erziehungsberechtigten verschafft dem Jugendlichen noch keine Unterkunft und schon gar nicht die erforderlichen erzieherischen Hilfen (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 19.8.2003 - 9 S 2398/02 - juris). Der Pfleger kann den Jugendlichen in aller Regel nicht selbst aufnehmen. Eine Betreuung der Kinder durch das Diakonische Werk C. bzw. die von ihm mit der Aufgabenwahrnehmung betraute Klägerin schied nach Lage der Dinge aus. In dieser Situation ergab sich für das Jugendamt die Notwendigkeit, dem Pfleger als Personensorge- und damit Anspruchsberechtigten im Sinne von § 27 SGB VIII die zur Erziehung des Kindes oder Jugendlichen erforderlichen Hilfe zu gewähren.

27

Der Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, aus seiner Sicht würde eine lediglich vorübergehende und kurzfristige Trennung der Kinder von ihrer Mutter ausgereicht haben, um der bestehenden Gefährdung zu begegnen und er habe die anschließende Rückgabe der Kinder an die leibliche Mutter und eine gemeinsame Maßnahme für Mutter und Kinder für die dem Kindeswohl eher entsprechende Maßnahme gehalten, wie in der mündlichen Verhandlung von seinem Jugendamtsmitarbeiter ausgeführt worden ist.

28

Zum Zeitpunkt der Herausnahme der Kinder am 25. Februar 2004 war eine Rückkehr der Kinder zu ihrer leiblichen Mutter nicht absehbar. Die Gutachter hatten dargelegt, dass die Mutter der Kinder nicht in der Lage sei, die elterliche Sorge in einer nicht das Kindeswohl gefährdenden Art und Weise auszuüben. Sie habe sich in Vergangenheit und Gegenwart in einem bei weitem nicht ausreichenden Maße erziehungsfähig gezeigt und könne die Bedürfnisse der Kinder nicht ausreichend erkennen und erfüllen. Die bisher durchgeführte ambulante Familienhilfe zeige keine ausreichende Wirkung. Ursächlich für die Kindeswohlgefährdung sei die psychische Erkrankung der Mutter der Kinder, eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus mit paranoiden Zügen. Sie zeige keinerlei Krankheitseinsicht. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Mutter der Kinder zumindest mittelfristig nicht in der Lage sein werde, diesen einen ausreichenden Entwicklungsrahmen zu bieten.

29

Bei dieser Sachlage musste der Beklagte die Entscheidung der Klägerin als Personensorgeberechtigter respektieren, die Betreuung und Unterbringung nicht länger der leiblichen Mutter zu überlassen und die Kinder durch eine Trennung vor ihr zu schützen. Durch die Entscheidung des Familiengerichts, einen Pfleger mit dem Aufgabenkreis „Erziehungsrecht“ zu bestellen, wird die Bestimmung, wem die Erziehung des Kindes tatsächlich anzuvertrauen ist, in die Hände des Pflegers gelegt. Das Jugendamt ist an der Entscheidung des Familiengerichts nach § 1666 BGB, den leiblichen Eltern die Personensorge zu entziehen bzw. deren Ausübungsbefugnis zu beschränken, beteiligt und wird in diesem Rahmen angehört. Sofern es Zweifel daran hat, dass der bestellte Pfleger bei seinen Entscheidungen zum Wohl des Kindes handelt, etwa weil das Jugendamt im Gegensatz zum Pfleger aus fachlichen Gründen einen Verbleib der Kinder bei den leiblichen Eltern befürwortet, muss es den Weg eines Antrages auf Aufhebung der Pflegschaft bzw. Entbindung des Pflegers von seinen Aufgaben wählen. Wird dieser Weg nicht beschritten oder lehnt das Familiengericht einen entsprechenden Antrag ab, kann das Jugendamt nicht seine Meinung an die Stelle der Beurteilung des Familiengerichts und der von diesem mit der Ausübung des Erziehungsrechts betrauten Person setzen und die gebotenen Erziehungshilfen mit der Begründung verweigern, die über eine Inobhutnahme hinausgehende Herausnahme der Kinder aus der Familie sei nicht erforderlich und die Erziehung könne - entgegen deren Einschätzung - weiterhin durch die leiblichen Eltern erfolgen. Da vorliegend keine Zweifel daran bestehen, dass das Vorgehen der Pflegerin dem Kindeswohl entsprach, war der Beklagte nicht berechtigt, ihr die begehrte Erziehungshilfe mit dem Ziel zu verweigern, die Kinder lediglich in Obhut zu nehmen, um sie anschließend im Rahmen einer gemeinsamen Hilfemaßnahme für Mutter und Kinder - gegen den Willen der Pflegerin - kurzfristig zur Mutter zurück zu führen.

30

Die Eignung der von der Pflegerin der Kinder ausgewählten Einrichtung das Kinderhaus „L.“ in F. -Y. für die Unterbringung der Kinder unterliegt keinen ernstlichen Zweifeln. Es handelt sich um eine Einrichtung des Landesbetriebes N. der Freien und Hansestadt F., die mit ihrem Träger eine Kostenvereinbarung über Hilfen nach § 34 SGB VIII geschlossen hat. Auch der Beklagte plante im Übrigen die - für eine kurzzeitige Inobhutnahme untypische - Unterbringung der Kinder in einer festen Wohngruppe in einer auch nach § 34 SGB VIII zugelassenen Einrichtung. Er hat die Eignung der Einrichtung zwar im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes - pauschal - bestritten, jedoch ab dem 5. November 2004 die Kosten übernommen und seine diesbezüglichen Einwände damit erkennbar fallen gelassen.

31

Der Beklagte kann der Klägerin auch nicht entgegenhalten, dass er mit dem evangelischen AE. in AD. eine eigene Einrichtung bereithalte, die entsprechende Leistungen anbiete.

32

Nach § 5 SGB VIII haben Leistungsberechtigte das Recht zwischen Einrichtung und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern. Der Wahl und den Wünschen soll entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist (§ 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Dass die Einrichtung in Hamburg unter Kostengesichtspunkten von der Klägerin nicht hätte ausgewählt werden dürfen, wird vom Beklagten nicht geltend gemacht, der seit dem 5. November 2004 die Kosten der Einrichtung übernimmt.

33

Der Anspruch der Klägerin scheitert auch nicht an dem Grundsatz, dass der Jugendhilfeträger die Kosten einer in unzulässiger Weise selbst beschafften Hilfe nicht übernehmen muss (BVerwG, Urteil vom 28.9.2000 - 5 C 29.99 -, DVBl. 2001, 1060). Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zielt darauf zu verhindern, dass das Jugendamt auf die Funktion eines bloßen Kostenträgers beschränkt wird, der erst nachträglich nach Durchführung einer selbst beschafften Hilfemaßnahme in die kostenmäßige Abwicklung des Hilfefalles eingeschaltet wird (BVerwG, a.a.O.).

34

Vorliegend war der Jugendhilfebedarf der Familie seit Jahren, dem Beklagten seit Beginn seiner Zuständigkeit, bekannt. Die Mutter der Kinder erhielt vom Beklagten bereits Leistungen in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) durch Betreuung von J. und I. durch eine Mitarbeiterin des W. -Hauses. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Forderung der Klägerin im Februar 2004 nach Gewährung von Jugendhilfe in Form der Heimunterbringung (§ 34 SGB VIII) lediglich als Wechsel der Hilfeart dar. Ihre Notwendigkeit ergab sich durch die Entscheidung der Pflegerin, die Erziehung und Betreuung der Kinder mit Rücksicht auf deren durch das Gutachten T. /U. belegte Erziehungsunfähigkeit nicht länger der Mutter zu überlassen.

35

Die Klägerin hat die von ihr ausgewählte Einrichtung in F. Y. dem Beklagten gegenüber in dem Telefonat mit dessen Sozialarbeiterin Frau AB. am 21. Januar 2004 genannt. Sie hat diesen Wunsch gegenüber den Mitarbeitern des Beklagten in der Folgezeit mehrfach wiederholt, zuletzt im Telefonat mit dessen Sozialarbeiter AJ. AK. am 24. Februar 2005. Das ergibt sich aus den vom Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgängen und der Vernehmung der Zeugin AB. und des Zeugen AK. in der mündlichen Verhandlung vom 27. Juni 2006. Der Beklagte hatte sowohl die Möglichkeit, sich mit der Notwendigkeit der gewünschten Hilfe wie mit der vorgeschlagenen Einrichtung zu befassen, zumal ihm - wie sich heraus gestellt hat - der Inhalt des Gutachtens T. /U. bekannt war. Die Anmeldung des Unterbringungswunsches der Klägerin war vor diesem Hintergrund rechtzeitig. Mit Rücksicht auf die genannten Erkenntnisse hält die Kammer an ihrer abweichenden Bewertung aus dem Beschluss vom 7. Oktober 2004 (4 B 171/04) im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht fest.

36

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Ihre vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

37

Gründe, die Berufung zuzulassen (§§ 124 a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO), sind nicht gegeben.