Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 15.06.2023, Az.: 2 B 140/23

Obdachlosigkeit; Verelendung; Unmenschliche und erniedrigende Behandlung anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland wegen drohender Obdachlosigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
15.06.2023
Aktenzeichen
2 B 140/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 21298
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2023:0615.2B140.23.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Aufnahmebedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland sind nach wie vor prekär. Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die griechische Regierung diese Lebensbedingungen bewusst toleriert und den Schutzberechtigten Unterstützung verweigert, um die Migration nach Griechenland durch Abschreckung einzudämmen.

  2. 2.

    Die Teilnahme am HELIOS-Programm ist auch kurzfristig nach Griechenland rückgeführten anerkannten Schutzberechtigten regelmäßig nicht möglich.

  3. 3.

    Das Fehlen einer dauerhaften Unterkunft begründet typischerweise eine Situation extremer materieller Not. Die Annahme einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung kann nicht verneint werden, indem anerkannte Schutzberechtigte darauf verwiesen werden, zeitweise Notschlafstellen in Anspruch zu nehmen oder in informellen Siedlungen zu kampieren.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 07.06.2023 gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mit vorrangigem Zielstaat Griechenland im Bescheid vom 17.05.2023 wird angeordnet.

Die Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens trägt die Antragsgegnerin; Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege vorläufigen Rechtschutzes gegen die Unzulässigkeitsentscheidung der Antragsgegnerin und die angedrohte Abschiebung nach Griechenland.

Er ist irakischer Staatsangehöriger, kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens aus Sindschar.

Im Irak besuchte der Antragsteller die Schule bis zur neunten Klasse und arbeitete sodann in einer Zementfirma und verrichtete Gelegenheitsjobs. Er verließ den Irak am 17.08.2022 und reiste von dort aus zunächst nach Griechenland, wo er sich etwa vier Monate lang im Flüchtlingscamp in Thessaloniki aufhielt und am 23.09.2022 einen Asylantrag stellte. Die griechischen Behörden erkannten dem Antragsteller sodann am 05.10.2022 einen internationalen Schutzstatus zu. Am 10.12.2022 reiste der Antragsteller sodann nach Deutschland ein und stellte am 20.03.2023 einen förmlichen Asylantrag bei der Antragsgegnerin.

Aufgrund eines Eurodac-Treffers vom 19.12.2022 stellte die Antragsgegnerin am 13.02.2023 ein Aufnahmegesuch an Griechenland. Mit Antwortschreiben vom 22.02.2023 teilten die griechischen Behörden mit, dass dem Aufnahmegesuch nicht stattgegeben werden könne, weil sie dem Antragsteller bereits Flüchtlingsschutz zuerkannt hätten und die Dublin-III-Verordnung damit nicht anwendbar sei.

In seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 27.03.2023 berichtete der Antragsteller, dass er während seines Asylverfahrens in Griechenland im Flüchtlingscamp in Thessaloniki mit Essen und Trinken versorgt worden sei. Nachdem er als Flüchtling anerkannt worden sei, habe er keine staatliche Unterstützung mehr erhalten. Er habe sodann Geld von Verwandten bekommen. Er sei in Griechenland nicht gut behandelt worden und habe bei starkem Regen draußen übernachten müssen. Erst als die Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad vor Ort gewesen und die Missstände angesprochen habe, hätten er und die anderen Asylsuchenden eine Unterkunft erhalten.

In seiner persönlichen Anhörung am selben Tag gab der Antragsteller u. a. an, dass seine Eltern, seine sechs Schwestern und drei Brüder sowie seine Großfamilie alle noch im Irak lebten. Einer seiner Brüder arbeite als Ingenieur, die anderen gingen noch zur Schule, hätten aber nebenbei Aushilfsjobs. Auch seine Schwestern gingen überwiegend noch zur Schule. Seine Eltern seien alt und krank und würden von seinen Brüdern unterstützt. Er erklärte, er habe den Irak verlassen, weil das Leben dort sehr schwer sei und er seinen Glauben nicht ausüben könne, ohne Diskriminierungen ausgesetzt zu sein.

Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag des Antragstellers mit Bescheid vom 17.05.2023 als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass hinsichtlich Griechenland keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 2), drohte die Abschiebung nach Griechenland an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate (Ziffer 4). Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass Griechenland dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt habe. Dem Antragsteller drohe bei einer Rückführung nach Griechenland auch keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Insbesondere seien anerkannt Schutzbedürftige in Griechenland nur vereinzelt von Obdachlosigkeit betroffen und könnten städtische Obdachlosenunterkünfte oder von NGOs oder kirchlichen Organisationen bereitgestellte Unterkünfte oder die Unterstützung des Programms "Helios II" bei der Wohnungssuche in Anspruch nehmen.

Der Antragsteller hat am 07.06.2023 Klage gegen den Bescheid erhoben und einen Antrag im vorläufigen Rechtsschutz gestellt.

Er hält den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und führt aus, das Asylsystem in Griechenland leide hinsichtlich anerkannter Flüchtlinge an systemischen Mängeln und ihm drohe bei einer Abschiebung akute Obdachlosigkeit und Verelendung. Er habe keine reelle Chance, in Griechenland ein Existenzminimum aufzubauen. Es sei für ihn zudem praktisch unmöglich, die Voraussetzungen für den Zugang zu staatlicher Sozialhilfe zu erfüllen. Auch die medizinische Versorgung sei lückenhaft und werde anerkannten Schutzberechtigten teilweise verweigert.

Er beantragt,

die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die elektronische Asylakte der Antragsgegnerin verwiesen.

II.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.

Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, weil die Abschiebungsandrohung nicht unter § 38 Abs. 1 AsylG, sondern unter §§ 35, 36 Abs. 1 AsylG fällt, und die in der Hauptsache erhobene Klage damit nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung hat.

Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsandrohung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem gesetzlich angeordneten Vollzug der Abschiebungsandrohung überwiegt. Hier überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Denn nach der im vorliegenden Verfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) gem. § §§ 36 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 AsylG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angedrohten Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland.

Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig im Bescheid vom 17.05.2023 ist aller Voraussicht nach rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dem Antragsteller ist nach eigenen Angaben wie auch ausweislich der Auskunft der griechischen Behörden vom 22.02.2023 bereits am 05.10.2022 in Griechenland der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden.

Gleichwohl kann die Unzulässigkeitsentscheidung im Falle des Antragstellers nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie) - der durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in deutsches Recht umgesetzt worden ist - dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRC) bzw. des diesem entsprechenden Art. 3 EMRK zu erfahren (EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris Rn. 35 ff.; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris Rn. 83 bis 94).

Ein Verstoß gegen Art. 4 GRC ist anzunehmen, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris Rn. 39; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris Rn. 90; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 92).

Die vorstehenden Grundsätze vorausgesetzt ist davon auszugehen, dass dem Antragsteller für den Fall seiner Rückkehr nach Griechenland die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC oder Art. 3 EMRK droht. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass er in Griechenland obdachlos werden und damit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten würde und seine elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnte (ebenso VG des Saarlandes, Urteil vom 08.05.2023 - 3 K 429/23 -, juris Rn. 51; VG Augsburg, Beschluss vom 03.05.2023 - Au 8 S 23.30428 -, juris Rn. 20; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 09.06.2022 - 18a L 672/22.A -, juris Rn. 29-31; VG Hannover, Urteile vom 31.03.2023 - 15 A 971/23 -, n. v., und vom 17.01.2023 - 7 A 1191/17 -, n. v.).

Die Berichterstatterin nimmt zur Begründung Bezug auf die Urteile des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19.04.2021 (10 LB 244/20 -, juris Rn. 28 ff.), des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 16.11.2021 (1 LB 371/21 -, juris Rn. 37) sowie des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 15.11.2022 (2 A 82/22 -, juris Rn. 19 ff.). Den dortigen umfassenden Ausführungen schließt sich die erkennende Einzelrichterin nach eigener eingehender Prüfung der Sach- und Rechtslage vollumfänglich an.

Aus aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich keine Verbesserung der von den genannten Gerichten zugrunde gelegten Sachlage. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Athen berichtet, obwohl sich die die Ankunftszahlen von Flüchtlingen und irregulär einreisenden Migranten in Griechenland seit März 2020 deutlich verringert habe, habe sich die Situation von Schutzberechtigten seit 2015 nicht wesentlich verbessert (Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, 01.02.2023, S. 1). Nach einem aktuellen Bericht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreichs ist die Zahl der Unterbringungsmöglichkeiten für Obdachlose in Griechenland noch immer nicht ausreichend und die Unterkünfte sind stets überfüllt. Nach einer kürzlich durchgeführten Studie sind durchschnittlich 18 von 64 Personen mit internationalem Schutzstatus obdachlos oder befinden sich in prekären Wohnverhältnissen; 14 von 64 sind unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Griechenland, 16.01.2023, S. 22 f.). Die NGO Refugee Support Aegean (RSA) berichtete im März 2023, dass der Zugang zu Obdachlosenunterkünften in der Region Attika rund um Athen, wohin Abschiebungen und Überstellungen nach Griechenland regelmäßig erfolgen, nahezu unmöglich ist. Gründe dafür seien etwa, dass die überwiegende Mehrheit der Unterkünfte wie das Mehrzweckzentrum des Zentrums für Aufnahme und Solidarität der Stadt Athen (KYADA) aufgrund fehlender Dolmetscherdienste nur griechisch- oder englischsprachige Personen aufnähmen, dass staatliche Heime die Sozialversicherungsnummer AMKA, eine Bescheinigung über die Obdachlosigkeit sowie ärztliche Untersuchungen verlangten und dass fast alle Zentren voll ausgelastet seien und lange Wartelisten führten (RSA, Beneficiaries of international protection in Greece; Access to documents and socio-economic rights, S. 25, ebenso: Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, 01.02.2023, S. 10).

Es ist anzunehmen, dass sich die Aufnahmebedingungen auch in naher Zukunft nicht verbessern werden. So ließ die griechische Regierung im Dezember 2022 das ESTIA-Programm ("Emergency Support to Integration and Accommodation") auslaufen, mit dem besonders schutzbedürftigen Asylantragstellern eine Wohnung zur Verfügung gestellt wurde, und dies, obwohl die Finanzierung des Programms durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU (AMIF) noch bis 2027 sichergestellt gewesen sein soll. Die griechische NGO FENIX versteht dies als weiteres Signal zur Abschreckung Asylsuchender und führte aus, der griechische Staat lege es darauf an, Menschen auf der Flucht vom Rest der Gesellschaft zu trennen (Florian Schmitz, Deutsche Welle (DW), Zurück ins Lager: Asylsuchende ohne Anspruch auf Wohnung, 03.02.2023, https://www.dw.com/de/abschreckung-durch-isolation-griechenland-verbannt-asylsuchende-aus-den-st%C3%A4dten/a-64578921). Für diese Einschätzung sprechen auch die aktuellen Berichte der Organisation Ärzte ohne Grenzen, wonach die griechischen Behörden in den EU-finanzierten geschlossenen Zentren mit kontrolliertem Zugang (CCAC) auf der Insel Lesbos im Mai 2023 die Versorgung u. a. von anerkannten Flüchtlingen mit Lebensmitteln einstellten und ankündigten, sie zu vertreiben (Médecins sans frontières (MSF), Greece: Pushbacks, detention and violence towards migrants on Lesbos, 25.05.2023). Es gibt ferner Hinweise darauf, dass die griechischen Behörden Geflüchteten mitunter im Schnellverfahren einen internationalen Schutzstatus zuerkennen, um ihnen nicht die finanzielle Unterstützung auszahlen zu müssen, welche ihnen während des laufenden Asylverfahrens zusteht. Nach Angaben der NGO Refugee Support Aegean vergehen von dem Zeitpunkt der Registrierung als Asylantragsteller bis zur ersten Auszahlung finanzieller Leistungen regelmäßig mindestens 40 Tage, ohne rückwirkende Zahlungen. In Fällen wie dem des Antragstellers, welcher bereits nach nur zwölf Tagen - und ohne, dass er ein individuelles Verfolgungsschicksal vortragen könnte - als international Schutzberechtigter anerkannt wurde, kommt es demnach gar nicht erst zur Gewährung von Leistungen (RSA/ Pro Asyl, What is happening today in the refugee structures on the Aegean islands, Mai 2023, 10 f.).

Zudem wird dem Antragsteller entgegen der Darstellung der Antragsgegnerin selbst bei einer zeitnahen Rückführung nicht die Teilnahme am sog. HELIOS-Programm ("Hellenic Integration Support for Beneficiaries of International Protection") möglich sein. Das HELIOS-Programm bietet Hilfestellung bei der Integration in die griechische Gesellschaft mittels Integrationskursen sowie Unterstützung bei der Arbeits- und Wohnungssuche an. Es werden monatliche Mietzuschüsse gezahlt, die für Alleinstehende bei 162 Euro liegen. Der Anspruch auf finanzielle Unterstützung besteht für mindestens sechs und höchstens zwölf Monate und besteht aus einem Beitrag zur Gründung eines selbstständigen Lebens (Einstiegsunterhalt) und monatlichen Mietzuschüssen. Voraussetzungen für die Teilnahme an dem Programm für anerkannt international Schutzberechtigte ist zum einen, dass die Anmeldung nicht länger als ein Jahr nach der Zuerkennung des Schutzstatus erfolgt. Diese Frist könnte der Antragsteller noch einhalten. Ferner setzt der Zugang zum Programm jedoch voraus, dass sich der Antragsteller offiziell registriert und ansässig in einer Flüchtlingsaufnahmeeinrichtung, einem Empfangs- und Identifikationszentrum (RIC), einem Hotel des IOM FILOXENIA-Projekts oder in einer Wohnung des ESTIA-Programms ist (Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, 01.02.2023, S. 5). Das Programm, welches anerkannt Schutzberechtigten also zu einer Wohnung verhelfen soll, setzt voraus, dass sie bereits über eine Unterkunft verfügen (Florian Schmitz, Deutsche Welle (DW), Zurück ins Lager: Asylsuchende ohne Anspruch auf Wohnung, 03.02.2023, https://www.dw.com/de/abschreckung-durch-isolation-griechenland-verbannt-asylsuchende-aus-den-st%C3%A4dten/a-64578921). Zudem werden Mietzuschüsse im Rahmen des HELIOS-Programms nur gewährt, wenn der Antragsteller bereits einen Mietvertrag mit einer Laufzeit von mehr als 6 Monaten vorlegen kann (Refugee Support Aegean (RSA)/ Pro Asyl, Beneficiaries of international protection in Greece, Access to documents and socio economic rights, März 2021, S. 8). Innerhalb der verbleibenden knapp vier Monate bis zum Ablauf der Antragsfrist in Griechenland eine Mietwohnung zu finden wird dem Antragsteller aber ohne staatliche oder familiäre Unterstützung aber gerade nicht möglich sein.

Es bestehen im vorliegenden Einzelfall schließlich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Freunde oder Verwandte des Antragstellers ihn bei einer Rückkehr nach Griechenland für einen längeren Zeitraum bei sich aufnehmen oder ihn in einem Maße unterstützen könnten, welches es ihm ermöglichen würde, zeitnah eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt anzumieten (in dem Fall ablehnend: VG Bremen, Urteil vom 23.02.2023 - 5 K 1434/22 -, juris Rn. 28 ff.).

In der dem Antragsteller drohenden Obdachlosigkeit liegt auch eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC (ebenso für Italien: VG Braunschweig, Urteil vom 21.03.2023 - 7 A 446/19 -, n. v.). Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem Urteil vom 27.03.2023 im Hinblick auf drohende Obdachlosigkeit anerkannter Schutzberechtigter in Italien vertritt, "eine Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit [sei] für sich genommen weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Annahme einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Aufnahmesituation im Sinne einer extremen materiellen Not" (OVG Rheinland-Pfalz - 13 A 10948/22.OVG -, juris Rn. 59), so entbehrt diese Wertung jeder sachlichen Grundlage und widerspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Das Oberverwaltungsgericht bezieht sich zur Rechtfertigung seiner Position zudem fälschlicherweise auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.05.2020 (1 C 34/19, juris, s. Bezugnahme in OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.03.2023 - 13 A 10948/22.OVG -, juris Rn. 47), in welchem das Gericht aber tatsächlich nicht behauptet, Obdachlosigkeit stelle grundsätzlich keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar. Stattdessen hebt das Bundesverwaltungsgericht das Bedürfnis, eine Unterkunft zu finden, als elementar und damit das Fehlen einer Unterkunft als typische Situation extremer materieller Not hervor (BVerwG, Urteil vom 20.02.2020 - 1 C 34/19 -, juris Rn. 19, ebenso: EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris Rn. 90; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 92).

Soweit der Senat sodann argumentiert, in Italien "[existierten] auch außerhalb der staatlichen Strukturen zahlreiche private Unterbringungsmöglichkeiten - namentlich Schlafplätze und Notunterkünfte -, betrieben etwa von Kirchen und Freiwilligenorganisationen" sowie "regional und kommunal zahlreiche Angebote, die temporäre Unterkunft, Versorgung und Verpflegung anbieten" (a. a. O., juris Rn. 63), geht er offenbar davon aus, dass es anerkannten Flüchtlingen zumutbar sei, ein Leben auf der Straße zu führen, sofern sie die Nächte dabei gelegentlich in Notschlafstellen verbringen können. Im Übrigen hätte der Senat seiner Entscheidung eine unzutreffende Definition von Obdachlosigkeit zugrunde gelegt, denn diese ist, im Gegensatz zum weiteren Oberbegriff der Wohnungslosigkeit, davon gekennzeichnet, dass Menschen im öffentlichen Raum wie beispielsweise in Parks, Gärten, U-Bahnhöfen, Kellern oder Baustellen übernachten müssen - also gerade nicht dauerhaft bei Freunden oder in karitativen oder kommunalen Einrichtungen Unterkunft finden können. Notschlafstellen für die Nacht sind indes sowohl in Italien als auch in Griechenland keine Unterkünfte, welche die elementaren Bedürfnisse der anerkannten Schutzberechtigten erfüllen könnten. Sie bieten Obdachlosen gerade keinen festen und zuverlässigen Schlafplatz und Rückzugsraum, sondern ihre Zugänglichkeit ist typischerweise auf bestimmte Öffnungszeiten beschränkt und abhängig von den tagesaktuellen Kapazitäten, welche für Griechenland, wie oben ausgeführt, aktuell stark eingeschränkt sind. Es ist Schutzberechtigten gerade nicht zuzumuten, "sich darüber zu informieren, an welchem Ort noch Kapazitäten bestehen und ihren Aufenthalt schließlich dorthin zu verlagern" (a. a. O., juris Rn. 69), also ihre Tage herumreisend auf der Suche nach dem nächsten Schlafplatz für die Nacht zu verbringen.

Genauso wenig können sie darauf verwiesen werden, in "informellen Siedlungen [...] einen hinreichenden Schutz vor extremen Witterungsverhältnissen zu finden" (a. a. O., Rn. 70). Bei informellen Siedlungen handelt es sich häufig um Behelfslager bestehend aus Zelten oder Papphütten, in denen Geflüchtete unter unwürdigen Umständen und ohne Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, Hygienevorrichtungen und Heizung leben müssen (zu Italien: aida, Country Report: Italy, 31.05.2023, S. 157 f.). Selbst wenn es sich bei den informellen Unterkünften um besetzte Häuser handelt, so dürften diese regelmäßig überfüllt sein und nicht über Strom und Wasser verfügen, also ebenfalls keine menschenwürdige Unterkunft bieten (vgl. OVG des Saarlandes, Urteil vom 15.11.2022 - 2 A 81/22 -, juris Rn. 28). Ferner ist zu beachten, dass solche Unterkünfte illegal sind und in Griechenland immer wieder durch die Polizei geräumt werden (Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, 01.06.2021, S. 3). Folglich müssen die Menschen, die in informellen Siedlungen leben, permanent damit rechnen, zwangsweise aus ihrer Unterkunft entfernt zu werden (Sächs. OVG, Urteil vom 27.04.2022 - 5 A 492/21 A -, juris Rn. 83).

Somit droht dem Antragsteller auch in Griechenland eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung, unabhängig davon, ob es ihm voraussichtlich möglich wäre, zeitweise in Notschlafstellen zu übernachten oder vorübergehend in einer informellen Siedlung zu kampieren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.