Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 13.09.2007, Az.: 8 U 100/07
Anspruch auf Zahlung aus einer Unfallversicherung wegen des Verlustes einer Niere; Ruptur der rechten Niere mit anschließender operativer Rekonstruktion wegen eines Pferdetritts; Anspruch auf Invaliditätsleistungen und Voraussetzungen einer Invaliditätsleistung bei dauernder Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 13.09.2007
- Aktenzeichen
- 8 U 100/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 46727
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2007:0913.8U100.07.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hildesheim - 27.03.2007 - AZ: 3 O 149/06
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 1 S. 2 VVG
- § 179 Abs. 1 VVG
- § 179 Abs. 2 VVG
Fundstellen
- NJW-RR 2008, 345-347 (Volltext mit amtl. LS)
- OLGReport Gerichtsort 2008, 231-232
- VK 2008, 24-25
- VersR 2007, 1688-1689 (Volltext mit amtl. LS)
- r+s 2008, 254-255 (Volltext mit red./amtl. LS)
- zfs 2008, 42-43 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Verliert der Versicherte durch einen Unfall eine von zwei Nieren, so kommt es, wenn der Verlust dieses Organs in der Gliedertaxe nicht aufgeführt ist, alleine darauf an, inwieweit hierdurch die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit unter ausschließlicher Berücksichtigung medizinischer Gesichtspunkte beeinträchtigt ist.
- 2.
Steht nach dem Ergebnis eines medizinischen Sachverständigengutachtens fest, dass der Verlust der einen Niere vollständig durch die andere Niere kompensiert wird und mit keinen weiteren Nachteilen zu rechnen ist, so kommt eine Invaliditätsentschädigung nicht in Betracht.
- 3.
Soweit in Vorschriften des öffentlichrechtlichen Versorgungs- oder Schwerbehindertenrechts beim Verlust einer Niere ein fester Grad der Behinderung oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit vorgesehen ist, spielt das für die Auslegung privatrechtlicher Vorschriften des Unfallversicherungsrechts keine Rolle.
In dem Rechtsstreit
...
hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 10. September 2007
durch
den Richter am Oberlandesgericht ... als Einzelrichter
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 27. März 2007 verkündete Urteil des Einzelrichters der 3. Zivilkammer des Landgerichts Hildesheim wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung ist unbegründet. Das angefochtene Urteil beruht weder auf einem Rechtsfehler (§ 513 Abs. 1, 1. Alt., § 546 ZPO) noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1, 2. Alt. ZPO). Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zahlung von 12.782,30 EUR aus der von ihrem Vater mit der Beklagten geschlossenen Unfallversicherung gem. § 1 Abs. 1 S. 2, § 179 Abs. 1 VVG i. V. m. Abschnitt E II Ziff. 3 AUB-Komfort wegen ihres Unfalles vom 26. Mai 2003 zu, als sie von einem Pferd in den Unterbauch getreten wurde und eine Ruptur der rechten Niere mit anschließender operativer Rekonstruktion erlitt.
1.
Die Klägerin ist aktivlegitimiert. Zwar ist sie nicht selbst Versicherungsnehmerin, sondern in dem von ihrem Vater geschlossenen Vertrag nur versicherte Person. Nach § 179 Abs. 2 VVG finden in diesem Fall die Vorschriften der §§ 75 - 79 VVG entsprechende Anwendung. Gem. § 75 Abs. 2 VVG kann der Versicherte über seine Rechte mit Zustimmung des Versicherungsnehmers verfügen. Das ergibt sich hier schon daraus, dass im Zeitpunkt der Erhebung der Klage die Klägerin noch nicht volljährig war und deshalb von ihren Eltern vertreten wurde. Dieser Umstand kann, nachdem die Klägerin nunmehr volljährig geworden ist, als Zustimmung angesehen werden.
2.
Der Klägerin steht jedoch kein Anspruch auf Invaliditätsleistungen zu, weil es an der nach Abschnitt E I Ziff. 1 der vereinbarten AUB-Komfort (insoweit identisch mit § 7 I Ziff. 1 AUB 94) erforderlichen Invalidität in Form der dauernden Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit fehlt. Keine Anwendung findet zunächst die Gliedertaxe nach Abschnitt E I Ziff. 3 AUB-Komfort, da dort der Verlust einer Niere nicht aufgeführt ist. Nur für die dort genannten Glieder und Organe ist ein fester Invaliditätsgrad vereinbart, bei dem weder eine höhere noch eine geringere Invalidität in Betracht kommen. Werden durch den Unfall dagegen Körperteile oder Sinnesorgane betroffen, deren Verlust oder Funktionsfähigkeit in der Gliedertaxe nicht geregelt sind, erfolgt die Bemessung des Invaliditätsgrades nach medizinischen Gesichtspunkten (Abschnitt E II Ziff. 3 AUB-Komfort ). Maßgebend ist also, inwieweit die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit insgesamt unter ausschließlicher Berücksichtigung medizinischer Gesichtspunkte beeinträchtigt ist. Maßstab ist die Leistungsfähigkeit eines Unversehrten gleichen Alters und Geschlechts (Grimm, AUB, 4. Aufl., AUB 99 2 Rdnr. 36. Prölss/Martin, VVG, 27. Aufl., § 7 AUB 94 Rdnr. 3). Unberücksichtigt bleiben alle Umstände, die über das Medizinische hinausgehen, wie Beruf, Beschäftigung, Arbeitsmarktsituation, sonstige Tätigkeiten des Versicherten etc. (Grimm, a. a. O., Rdnr. 37. Prölss/Martin, a. a. O., Rdnr. 29).
a)
Hierzu hat der Sachverständige Prof. Dr. H. in seinem Gutachten vom 15. November 2006 ausgeführt, aus medizinischer Sicht sei eine dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit zu verneinen. Zwar sei die Funktion der rechten Niere deutlich eingeschränkt, da ihr Gesamtanteil an der Nierenfunktion nur noch bei 14 % liege. Auch sei eine Wiederherstellung der rechten Niere nicht zu erwarten, da von einem Progress der Funktionsverschlechterung ausgegangen werden müsse. Es erscheine auch möglich, dass sich dieser Prozess fortsetze und es zu einem vollständigen Funktionsverlust der rechten Niere komme. Es sei aber auch möglich, dass sich die Funktion der rechten Niere auf dem gegenwärtigen Niveau stabilisiere. Es fehle jedoch gleichwohl an einer Invalidität, weil die linke Niere den Funktionsverlust der rechten Niere kompensiere. Bei der Klägerin liege eine normale Gesamtnierenfunktion vor. Der Gutachter hat weiter unter Hinweis auf mehrere Langzeitstudien ausgeführt, es gebe keine Hinweise, dass der Verlust einer Niere bzw. der traumatisch bedingte Funktionsverlust einer Niere die Mortalität bzw. Morbidität im Vergleich zur altersentsprechenden Normalbevölkerung erhöhten. Auch die Lebenserwartung sei durch den Verlust einer Niere bzw. bei Spendern von einer Niere nicht beeinträchtigt.
Auf der Grundlage dieser medizinischen Feststellungen des Sachverständigen, die von der Klägerin auch nicht mit Substanz angegriffen werden, kann von einer Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit mithin nicht ausgegangen werden. Zwar hat die Klägerin (weitgehend) eine von zwei Nieren verloren. Das wirkt sich indessen insgesamt nicht auf ihre Leistungsfähigkeit aus, so dass es mangels Vereinbarung eines festen Satzes in einer Gliedertaxe gerade am Eintritt der Invalidität fehlt. Soweit zum Teil die Auffassung vertreten wird, beim Verlust von paarigen Organen komme etwa bei einer Niere bei verbleibender gesunder Niere in der Praxis eine Bewertung mit 20 % in Betracht (vgl. Grimm, a. a. O., Rdnr. 36), kann dem in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Ist gerade kein fester Satz für den Verlust einer Niere in einer Gliedertaxe vereinbart, ist alleine maßgeblich, ob und inwieweit die Gesamtfunktion des Körpers nach medizinischen Gesichtspunkten beeinträchtigt ist. Ist das wegen einer vollständigen Kompensation durch die andere Niere nach dem Ergebnis der Beurteilung durch einen Sachverständigen nicht der Fall, kann auch kein Invaliditätsgrad festgesetzt werden.
Das Risiko, dass es zukünftig zu einem vollständigen Ausfall der rechten Niere kommt, und auch die Gefahr einer Beeinträchtigung der Leistung der linken Niere besteht, vermag ebenfalls keine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen. Hinreichende Anhaltspunkte hierfür gibt es nach dem Gutachten des Sachverständigen gerade nicht. Maßgebend ist aber alleine der zu erwartende Zustand nach Ablauf von 3 Jahren nach dem Unfall (vgl. Abschnitt E II AUB-Komfort am Ende). Diese Frist war aber im Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens am 15. November 2006 nach dem Unfall vom 26. Mai 2003 bereits abgelaufen.
b)
Insoweit können auch nicht Wertungen aus anderen Versicherungszweigen auf die private Unfallversicherung übertragen werden. Für die Auslegung des Begriffs der Invalidität kommt es alleine auf die vereinbarten Unfallversicherungsbedingungen, nicht dagegen auf Vorschriften der Sozialversicherung, des Versorgungsrechts oder des Schwerbehindertenrechts an (OLG Celle VersR 1959, 784). Die Begriffe Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit aus diesen Rechtsgebieten sind vom Invaliditätsbegriff der Allgemeinen Unfallversicherung verschieden. Ebenso wenig wie im Bereich der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Grad der Behinderung im öffentlichrechtlichen Sozialrecht abgestellt werden kann (vgl. BGH VersR 1996, 959, 960 [BGH 12.06.1996 - IV ZR 116/95]. OLG Koblenz VersR 2000, 1224, 1226 [OLG Koblenz 27.08.1999 - 10 U 105/91]. OLG Hamm VersR 1997, 217 [OLG Hamm 29.03.1996 - 20 W 5/96]. KG VersR 1995, 1473), ist das im Bereich der privaten Unfallversicherung möglich. Es spielt daher von vornherein keine Rolle, ob im Bereich des sozialen Entschädigungsrechtes und nach dem Schwerbehindertenrecht durch die von der Klägerin vorgelegten "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" der Ausfall einer Niere mit einer MdE oder einem GdB von 25 % bei Gesundheit der anderen Niere festgesetzt wird. Wenn hier in Ausfüllung der Regelungen der §§ 69 SGB IX und 30 BVG bestimmte Prozentsätze ähnlich einer Gliedertaxe zugrunde gelegt werden, betrifft das nur diese öffentlichrechtlichen Leistungen, hat aber auf die private Unfallversicherung keine Auswirkung.
Schon gar nicht enthalten die ohnehin nur als Anhaltspunkte bezeichneten Richtlinien eine Legaldefinition der Behinderung, die auch für die private Unfallversicherung maßgebend wäre. Der Begriff der Behinderung wird hier gar nicht benutzt, sondern es kommt auf den eigenständigen Begriff der Invalidität als dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit an. Hinzu kommt, dass im sozialen Entschädigungsrecht auch anders als in der privaten Unfallversicherung nicht auf ausschließlich medizinische Gesichtspunkte für die allgemeine Leistungsfähigkeit abzustellen ist. Vielmehr kommt es etwa nach § 30 Abs. 1 S. 2 BVG, auf den auch § 69 SGB IX verweist, darauf an, um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörung beeinträchtigt sind. Das sind indessen Umstände, die für die private Unfallversicherung keine Rolle spielen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 708 Nr. 10, § 713 ZPO. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.