Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 31.08.2010, Az.: 311 SsRs 54/10
Antrag auf Erhebung eines Beweises wegen möglicher Verwechslung eines Betroffenen mit seinem ähnlich aussehenden Bruder im Falle eines Verfahrens wegen Geschwindigkeitsüberschreitung; Recht auf Ablehnung eines Beweisantrags mangels Erforderlichkeit der Beweiserhebung gem. § 77 Abs. 2 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG); Befugnis zur Zurückweisung von Beweisanträgen durch das Tatgericht bei nicht fortbestehender Aufklärungspflicht
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 31.08.2010
- Aktenzeichen
- 311 SsRs 54/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 25857
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2010:0831.311SSRS54.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Hannover - 12.02.2010
Rechtsgrundlagen
- § 77 Abs. 1 S. 1 OWiG
- § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG
- § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG
Fundstellen
- NJW 2010, 3794-3795
- NJW-Spezial 2010, 682-683
- NStZ 2011, 585-586
- NZV 2010, 634-635
- StraFo 2011, 59
- VRA 2011, 13
- VRR 2010, 474
Verfahrensgegenstand
Verkehrsordnungswidrigkeit
Amtlicher Leitsatz
Das Tatgericht ist unter Befreiung vom Verbot der Beweisantizipation nur dann befugt, Beweisanträge nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückzuweisen, wenn es seine nach § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG prinzipiell fortbestehende Aufklärungspflicht nicht verletzt.
In der Bußgeldsache
...
hat der 1. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Celle
auf den Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde
gegen das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 12. Februar 2010
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht,
den Richter am Oberlandesgericht - dieser zugleich zu 1) als Einzelrichter - und
den Richter am Oberlandesgericht Hillebrand
am 31. August 2010
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird zugelassen.
- 2.
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
- 3.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Hannover zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen "fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung nach §§ 41, 49 StVO, § 24 StVG" zu einer Geldbuße von 140 EUR. verurteilt. Nach den getroffenen Feststellungen befuhr der Betroffene am 27. März 2009 um 16:12 Uhr mit einem Pkw in Hannover die B 65 in Richtung Landwehrkreisel. Bei einer dort zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h ergab eine Geschwindigkeitsmessung eine gefahrene Geschwindigkeit von 123 km/h nach Toleranzabzug.
Der Betroffene hat den Tatvorwurf in Abrede gestellt und zum Beweis der Tatsache, dass sein in Spanien lebender Bruder zum Tatzeitpunkt Führer des Kraftfahrzeugs gewesen ist, diesen als Zeugen benannt. Dieser gleiche dem Betroffenen "wie ein Ei dem anderen". Das Amtsgericht hat den Beweisantrag nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückgewiesen, da der Betroffene trotz mehrfacher Aufforderung, seine Behauptung zu verifizieren, keine aktuellen Fotos seines Bruders vorgelegt habe. Es hält den Betroffenen für eindeutig identifiziert, zumal eine Ähnlichkeit von Brüdern unterschiedlichen Alters eher selten sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, mit dem er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
II.
Das Rechtsmittel hat (vorläufigen) Erfolg und führt zur Zurückweisung der Sache an das Amtsgericht Hannover.
1.
Die Rechtsbeschwerde war nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zuzulassen, weil es geboten war, die Nachprüfung des Urteils zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Es galt, dem im folgenden dargestellten Rechtsfehler entgegenzuwirken.
2.
Die sodann nach § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragene Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
a)
Die erhobene Verfahrensrüge der fehlerhaften Ablehnung eines Beweisantrages ist zulässig ausgeführt. Der Betroffene hat neben der Wiedergabe des Inhalts seines Antrages und der ablehnenden Entscheidung auch die übrigen für eine zulässige Aufklärungsrüge erforderlichen Umstände dargelegt (vgl. hierzu etwa KK-Senge, § 77 OWiG Rn. 51 m.w.N.).
b)
Die Verfahrensrüge greift auch durch. Den Antrag, den Bruder des Betroffenen zu vernehmen, hätte das Amtsgericht nicht wie erfolgt ablehnen dürfen.
Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist das Gericht gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG verpflichtet, die Wahrheit vom Amts wegen zu erforschen. Den Umfang der Beweisaufnahme hat der Amtsrichter - unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache (§ 77 Abs. 1 Satz 2 OWiG) - nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. In § 77 Abs. 2 OWiG ist für die Beweisaufnahme im Bußgeldverfahren zudem eine über das Beweisantragsrecht der Strafprozessordnung (§ 244 Abs. 3 bis 5 StPO) hinausgehende Sondervorschrift normiert. Danach kann das Gericht, wenn es den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält, einen Beweisantrag auch dann ablehnen, wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist (§ 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Hierzu müssen drei Voraussetzungen vorliegen: Es muss bereits eine Beweisaufnahme über eine entscheidungserhebliche Tatsache stattgefunden haben, aufgrund der Beweisaufnahme muss der Richter zu der Überzeugung gelangt sein, der Sachverhalt sei geklärt und die Wahrheit gefunden und die beantragte Beweiserhebung muss nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur weiteren Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sein (OLG Hamm v. 11.12.2006 - 2 Ss OWi 598/06, [...]; OLG Schleswig SchlHA 2004, 264 t; KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., § 77 Rn. 15 m.w.N.; Göhler/Seitz, OWG, 14. Aufl., § 77 Rn. 11). Damit ist das Gericht unter Befreiung vom Verbot der Beweisantizipation befugt, Beweisanträge nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückzuweisen, wenn es seine nach § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG prinzipiell fortbestehende Aufklärungspflicht nicht verletzt (vgl. OLG Celle, NZV 2009, 575 [OLG Celle 16.07.2009 - 311 SsBs 67/09]; KK-Senge, a. a. 0., § 77 Rn. 16; Göhler/Seitz, a. a. 0., § 77 Rn. 12, 14 und 16).
Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die Ablehnung des Beweisantrages das Beweisantragsrecht des Betroffenen. Denn die Grundlage, die das Amtsgericht seiner Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen zugrunde gelegt hat, ist nicht so verlässlich, dass die Möglichkeit, das Gericht könne in seiner Überzeugung durch eine weitere Beweisaufnahme erschüttert werden, vernünftigerweise auszuschließen ist. Die Annahme, der Betroffene sei Fahrer des Fahrzeugs gewesen, beruht allein auf dem Lichtbild, das vom Führer des Fahrzeugs gefertigt worden ist und welches nach Auffassung des Amtsgerichts das Antlitz des Betroffenen wiedergibt. Unterstellt, der unter Beweis gestellte Vortrag, dass der Bruder dem Betroffenen "wie ein Ei dem anderen" ähnelt, wäre zutreffend, hätte das Amtsgericht jedoch keine verlässliche Grundlage dafür, zu entscheiden, ob tatsächlich der Betroffene oder nicht doch sein Bruder Führer des Fahrzeugs gewesen ist. Auch dieser hätte dann vom Amtsgericht "eindeutig identifiziert" werden können. Da diese Ähnlichkeit vom Betroffenen in seinem Beweisantrag auch behauptet worden ist, durfte das Amtsgericht den Beweisantrag nicht ohne Weiteres ablehnen (vgl. OLG Düsseldorf, ZfSch 2001, 183; DAR 2001, 176; BayObLG, NStZ-RR 1999, 60; weitergehend OLG Oldenburg, NZV 195, 84; BayObLG DAR 1997, 318). Insbesondere konnte das Amtsgericht auch nicht zu Lasten des Betroffenen werten, dass dieser trotz Aufforderung kein aktuelles Lichtbild seines Bruders vorgelegt hatte. Es ist auch in Bußgeldsachen nicht Sache des Betroffenen, seine Unschuld zu beweisen. Dass eine täuschende Ähnlichkeit zwischen Brüdern unterschiedlichen Alters eher selten ist, mag zutreffen, schließt aber nicht aus, dass diese Ähnlichkeit gerade beim Betroffenen und seinem Bruder gegeben ist.
3.
Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben. Ob nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO unter den dafür geltenden Voraussetzungen von der beantragten Beweiserhebung hätte abgesehen werden können, kann der Senat mangels entsprechender Entscheidung des Amtsgerichts nicht prüfen. Für den Fall einer erneuten Verurteilung weist der Senat darauf hin, dass die anzuwendenden Vorschriften nicht Gegenstand des Urteilstenors, sondern erst anschließend zu nennen sind (g 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 260 Abs. 5 StPO; vgl. Göhler, § 71 OWiG Rn. 41).