Landgericht Osnabrück
Urt. v. 11.08.1999, Az.: 1 S 595/99
Anforderungen an die Führung des Nachweises einer Verletzung infolge eines Unfallereignisses in einem zivilgerichtlichen Schadensersatzprozess nach einem Verkehrsunfall; Ausgestaltung der Qualifizierung der generellen Eignung eines Anscheinsbeweises zum Nachweis der Ursächlichkeit eines Auffahrunfalls für ein HWS-Syndrom aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung
Bibliographie
- Gericht
- LG Osnabrück
- Datum
- 11.08.1999
- Aktenzeichen
- 1 S 595/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 31817
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGOSNAB:1999:0811.1S595.99.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Osnabrück - 26.04.1999 - AZ: 44 C 118/99 (XXV)
Rechtsgrundlagen
- § 7 Abs. 1 StVG
- § 18 StVG
- § 823 BGB
- § 847 BGB
Fundstellen
- DAR 1999, 509 (red. Leitsatz)
- VersR 2000, 1516-1517 (Volltext mit red. LS)
In dem Rechtsstreit
...
hat die 1. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück
auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juli 1999
durch
den Vizepräsidenten des Landgerichts Dr. Schürmann,
die Richterin am Landgericht Wieseler-Sandbaumhüter und
den Richter Holling
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des AG Osnabrück vom 26.04.1999 (44 C 118/99 (XXV)) wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten der Berufung.
Tatbestand
Zum Unfallzeitpunkt stand die Klägerin bei Rotlicht vor einer Ampel mit einem Pkw der .... Der Beklagte zu 1) fuhr mit dem Lkw, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, auf das Fahrzeug der Klägerin auf.
Am Fahrzeug der Klägerin entstand ein Schaden i.H.v. 495,78 DM infolge einer ca. 2 cm großen Einstichstelle am hinteren Stoßfänger verursacht durch die Gefahrgutklappe des Lkw des Beklagten zu 1). Schäden am Fahrzeug des Beklagten zu 1) entstanden nicht.
Die Klägerin hat behauptet, sie habe sich entspannt mit den Unterarmen auf das Lenkrad gelegt, da sie sich auf eine längere Wartezeit an der Ampel eingerichtet hätte. Durch den plötzlichen Aufprall habe sie eine HWS-Zerrung 2. Grades (nach Erdmann) und ein cervikales Wurzelreizsyndrom erlitten, sei vom 06.05.1998 bis zum 20.06.1998 in ständiger ärztlicher Behandlung sowie arbeitsunfähig gewesen. Ihr sei eine Schantzsche Halskrause verordnet worden, ab dem 03.06.1998 sei eine Massage- und Fangotherapie erfolgt.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie
- 1.
ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem 12.03.1999 zu zahlen,
- 2.
80,- DM nebst 4 % Zinsen seit dem 12.03.1999 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten haben erstinstanzlich die Unfallursächlichkeit und den Umfang der Verletzungen bestritten und behauptet, das Fahrzeug des Beklagten zu 1) sei nur mit max. 5 km/h auf das klägerische Fahrzeug geprallt. Denn der Beklagte zu 1) habe zunächst hinter dem Fahrzeug der Klägerin gestanden, sei dann aber mit dem Fuß vom Kupplungspedal gerutscht, so daß das Fahrzeug leicht nach vorne gerollt und auf das Fahrzeug der Klägrin aufgefahren sei. Deshalb sei eine biomechanische Belastungsgrenze, bei der Verletzungen der HWS auftreten könne, nicht erreicht worden.
Das Amtsgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines verkehrstechnischen Gutachten durch den Sachverständigen Dipl.-Ing. ... über die Hergang des Unfalls und die Aufprallgeschwindigkeit des Fahrzeugs des Beklagten zu 1).
Durch Urteil vom 26.04.1999 hat das Amtsgericht Osnabrück die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, daß bei einer aufgrund der Beweiserhebung anzunehmenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von max. 5 km/h Ursache für die behaupteten Verletzungen nicht der durch den Beklagten zu 1) verursachte Unfall gewesen sein könnte.
Gegen dieses Urteil, das der Klägerin am 27.04.1999 zugestellt worden ist, hat diese mit einem am 27.05.1999 beim LG Osnabrück eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 26.06.1999 eingegangenen Schriftsatz begründet.
Die Klägerin wiederholt und vertieft im wesentlichen ihr erstinstanzliches Vorbringen.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des Urteils des AG Osnabrück vom 26.04.1999 nach den von ihr zuletzt gestellten Anträgen zu entscheiden.
Die Beklagten beantragen unter Bezugnahme auf ihr erstinstanzliches Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig aber unbegründet, da der Klägerin der ihr obliegende Nachweis einer Verletzung infolge des Unfallereignisses nicht gelungen ist.
Da zwischen den Parteien bereits streitig ist, ob die von der Klägerin behaupteten körperlichen Verletzungen bzw gesundheitlichen Beeinträchtigungen unfallbedingt sind, obliegt der Klägerin gem. § 286 ZPO der Vollbeweis für die Ursächlichkeit zwischen dem Aufprall des Beklagten zu 1) mit dem Lkw auf das von ihr gesteuerte Fahrzeug und den vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, um eine Haftung gem. §§ 847, 823 BGB, §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 3 Nr. 1 und 2 PflVG auszulösen.
Entgegen der Ansicht der Klägerin kann sie sich dabei nicht auf einen Anscheinsbeweis berufen, nach dem ein Auffahrunfall aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung generell geeignet ist, ein HWS-Syndrom hervorzurufen (so aber LG Heidelberg DAR 1999, S. 75 [LG Heidelberg 22.08.1996 - 1 S 62/95]).
Von einem Anscheinsbeweis ist auszugehen, wenn es sich um typische, nicht steuerbare Geschehensabläufe handelt, bei denen bestimmte Ursachen erfahrungsgemäß mit bestimmten Wirkungen verknüpft sind. Typisch sind solche Vorgänge, die das Gepräge des Üblichen und Häufigen haben, so daß von einer bestimmten Ursache auf einen bestimmten Erfolg oder umgekehrt von einem Erfolg auf eine bestimmte Ursache geschlossen werden kann (BGH NZV 1990, 386 (387); BGH NJW 1997, 528 und 529).
Insbesondere bei Auffahrunfällen im unteren Geschwindigkeitsbereich, von dem hier aufgrund des unstreitigen Schadensbildes an den Fahrzeugen auszugehen ist, kann nicht ohne weiteres von einer biomechanischen Belastung der Halswirbelsäule ausgegangen werden, die regelmäßig und üblicherweise zu einem HWS-Syndrom führt. Diese Vermutungsgrundlage wird durch die Fülle der in den letzten Jahren ergangenen Entscheidungen widerlegt, nach denen bei kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen im Bereich bis etwa 10 km/h eine unfallursächliche Verletzung der Halswirbelsäule nicht feststellbar war (vgl. z.B. LG Stuttgart R + S 1996, 442; AG Winsen R + S 1996, 442; KG VersR 1997, 1416; AG Essen VersR 1997, 1415; AG Hamburg-Harburg Vers 1997, 1415; OLG Hamburg R + S 1998, 63). Zudem ergibt sich aus der Veröffentlichung wissenschaftlicher Untersuchungen, daß kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderungen von unter 10 km/h regelmäßig nicht unfallursächlich für ein HWS-Syndrom sein können (z.B. Meyer, Hugemann, Weber: Zur Belastung der Halswirbelsäule durch Auffahrkollisionen; in: Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 32 (1994), S. 15 ff (21); siehe auch Lemke: Anmerkung zum Urteil des AG Dachau vom 04.06.1996; in: R + S 1996, 444 (445) m.w.N.).
Die Annahme, ein Auffahrunfall führe immer zu einer, wenn auch unterschiedlich ausgeprägten Verletzung der Halswirbelsäule, ist somit unrichtig (vgl. auch AG Hannover VersR 1997, 1417 [AG Hannover 01.08.1996 - 510 C 10010/95]).
Die Klägerin kann den Beweis der Unfallursächlichkeit ihrer Verletzungen nicht durch die ärztlichen Bericht der ... vom 20.05.1998 und vom 02.12.1998 führen. Danach fanden sich bereits am Tag des Unfalls eine Verhärtung der Nackenmuskulatur und Schmerzen bei der Bewegung des Kopfes. Der Kopf wurde steif gehalten, es bestand eine deutliche Übelkeit. Eine Röntgenaufnahme zeigte eine Steilstellung der HWS. Aus diesen Berichten ist aber schon nicht ersichtlich, ob und wie die behandelnden Ärzte die Unfallursächlichkeit der Beschwerden der Klägerin geprüft haben. Zudem handelt es sich bei der Steilstellung der Halswirbelsäule im oberen Bereich nach Erkenntnissen der Kammer in anderen Verfahren aufgrund dort eingeholter medizinischer Gutachten um ein sehr unspezifisches Phänomen, das unabhängig von Traumen häufig auch bei Patienten mit monoton sitzenden Tätigkeiten, etwa an Schreibtischen auftritt. Auch soweit in dem Berichten angeführt wird, die Klägerin habe zuvor nicht unter den festgestellten Beeinträchtigungen gelitten, vermag dies nicht den Rückschluß auf ein Ursächlichkeit des Unfalls zu rechtfertigen. Nach den ärztlichen Angaben hat die Klägerin zuvor ihnen gegenüber nicht über solche Schmerzen geklagt. Damit ist aber nicht die Annahme gerechtfertigt, daß die Klägerin zuvor vollkommen beschwerdefrei gewesen ist.
Auch durch das erstinstanzlich eingeholte unfalltechnische Gutachten des Sachverständigen ... kann der Nachweis der Ursächlichkeit des Unfall für die behaupteten Verletzungen nicht geführt werden.
Der Sachverständige kommt nach Begutachtung der Fahrzeugschäden und Rekonstruktion der Stellung der Fahrzeuge zum Zeitpunkt des Unfalls zu einer Auffahrgeschwindigkeit von 5 km/h. Hieraus hat er eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des klägerischen Fahrzeugs von maximal 5 km/h ermittelt. Unter Berücksichtigung seiner sonstigen sachverständigen Kenntnisse zur Entstehung eines HWS-Syndroms hat der Sachverständige weiter ausgeführt, daß er die behaupteten Verletzungen aus technischer Sicht für sehr unwahrscheinlich halte.
Die Kammer hat keine grundlegenden Bedenken den detaillierten und nachvollziehbaren Feststellungen des Sachverständigen, der der Kammer aus einer Vielzahl anderer Verfahren als erfahrener Verkehrssachverständiger bekannt ist, zu folgen. Seine Schlußfolgerungen decken sich mit Erkenntnissen, die die Kammer in anderen Verfahren, auch durch Einholung interdiziplinärer Gutachten gewonnen hat, sowie mit weiten Teilen der Rechtsprechung (vgl. oben), wonach bei kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen bis zu 10 km/h (sog. "Harmlosigkeitsgrenze") mit Verletzungen der Halswirbelsäule nicht zu rechnen ist. Aus diesem Grund hält es die Kammer bei der vorliegenden Geschwindigkeitsänderung auch nicht erforderlich, ein ergänzendes medizinisches Gutachten einzuholen.
Allerdings bliebe der Klägerin in diesem Fall grundsätzlich die Möglichkeit, den Nachweis zu führen, daß aufgrund einer ungewöhnlichen Sitzposition im Fahrzeug, wegen vorhandener Vorschäden oder unfallursächlicher psychischer Folgen die behaupteten Beeinträchtigungen eingetreten sind. Soweit sie jedoch eine untypische Sitzposition behauptet, ist diese durch die Beklagten bestritten worden. Ein Beweisangebot durch die Klägerin ist nicht erfolgt. Auf individuelle Besonderheiten und Vorschäden hat die Klägerin in der Berufungsbegründung zwar hingewiesen. Eine nähere Substantiierung, welche Besonderheiten und Vorschäden bei der Klägerin zu den behaupteten Schäden geführt haben sollen, ist nicht erfolgt und widerspricht auch gerade den vorgelegten ärztlichen Berichten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Wieseler-Sandbaumhüter Richterin am Landgericht
Holling Richter