Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 16.02.2006, Az.: 5 B 623/05

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
16.02.2006
Aktenzeichen
5 B 623/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 44225
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2006:0216.5B623.05.0A

Amtlicher Leitsatz

Die Entscheidung nach § 456a StPO begründet bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen regelmäßig kein besonderes Vollzugsinteresse für den Sofortvollzug einer Ausweisung.

Ein dringender Fall im Sinne der Richtlinie 64/221/EWG liegt nur vor, wenn die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende Gefahr (der Begehung neuer Straftaten) werde sich vor dem Abschluss eines Widerspruchsverfahrens verwirklichen.

Tenor:

  1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 01.09.2005 wird wiederhergestellt.

    Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

    Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Tatbestand:

1

I.

Der Antragsteller begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die mit der Anordnung des Sofortvollzuges versehene Ausweisungsverfügung des Antragsgegners vom 01.09.2005.

2

Der am D. in der Bundesrepublik Deutschland geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Seine Eltern sind ausweislich vorgelegter Versicherungsverläufe seit Dezember 1969 bzw. Mai 1969 in der Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtig tätig und beziehen inzwischen Renten. Im Jahre 1988 schloss der Antragsteller die Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen, die im Jahre 1990 im Rahmen des Familiennachzugs in die Bundesrepublik Deutschland einreiste. Aus dieser Ehe gingen drei 1989, 1991 und 2005 geborene Kinder hervor. Die beiden älteren Kinder besuchen die Realschule. Die Ehefrau des Antragstellers leidet ausweislich eines ärztlichen Attestes an Hepatitis B, an chronischer, teilweise HP-positiver Gastroduodenitis und weiteren Krankheiten.

3

Der Antragsteller ist wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:

4

Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 03.08.1992 (Az.: E.); Verurteilung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 100,00 DM wegen Beleidigung.

5

Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 07.09.1992 (Az.: F.); Verurteilung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 60,00 DM wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis.

6

Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 13.04.1994 (Az.: G.); Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in besonders schwerem Fall.

7

Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 05.11.1996 (Az.: H.); Verurteilung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 DM wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln.

8

Urteil des Amtsgerichts Oschersleben vom 23.07.1998 (Az.: I.); Verurteilung zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 25,00 DM wegen umweltgefährdender Abfallbeseitigung.

9

Urteil des Amtsgerichts Magdeburg vom 13.08.1998 (Az.: J.); Verurteilung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 40,00 DM wegen Diebstahls.

10

Urteil des Amtsgerichts Lehrte vom 31.01.2003 (Az.: K.); Verurteilung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 20,00 Euro wegen Nötigung.

11

Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 05.02.2003 (Az.: L.); Verurteilung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15,00 Euro wegen unerlaubten Erwerbs und Besitzes von Cannabis.

12

Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 21.12.2004 (Az.: M.); Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren wegen Anstiftung zur Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 20 Fällen.

13

Wegen der Verurteilung zu Nr. 9. befindet sich der Antragsteller seit dem 24.07.2004 in Haft, derzeit in der JVA Wolfenbüttel. Die Familie lebt im Landkreis Helmstedt. Der Antragsteller verfügt über keine Berufsausbildung. Zwischen Zeiten der Arbeitslosigkeit hatte er einen Imbiss in Erfurt sowie einen An- und Verkaufsladen in Helmstedt betrieben. Wenige Monate war er im Hotel N. in Wolfsburg beschäftigt. Der Antragsteller ist nach den Unterlagen suchtmittelabhängig, eine Entgiftung hat nach Aktenlage stattgefunden. Er nimmt während der Haft regelmäßig an verschiedenen Gruppensitzungen und sportlichen Aktivitäten teil. Nach einem Bericht der JVA Wolfenbüttel vom 17.11.2005 ist eine "Abschiebung gemäß § 456a StPO" geplant. Die Ausländerbehörde erhebe hinsichtlich der Gewährung von Lockerungen sowie gegen eine Unterbringung im offenen Vollzug erhebliche Bedenken. Angesichts der ungeklärten ausländerrechtlichen Situation habe der Antragsteller zur Zeit nicht die Möglichkeit, eine stationäre Drogentherapie beim Projekt O. voranzutreiben. Die Teilnahme an einer beruflichen Aus- und Weiterbildung sei zur Zeit aus diesem Grund ebenfalls nicht möglich. Der Antragsteller erhalte regelmäßig Besuch von seiner Familie. Das innervollzugliche Verhalten sei nahezu frei von Beanstandungen, er trete Bediensteten übertrieben höflich und teilweise unterwürfig entgegen und bereue seine Straftaten "übermäßig" und erkläre dies ausführlich bei jeder Gelegenheit.

14

Mit Bescheid vom 01.09.2005 wies der Antragsgegner den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus, drohte ihm die Abschiebung an und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Verfügung an. Zur Begründung wird ausgeführt: Die Verurteilung zu Nr. 9 stelle bereits für sich allein gesehen einen zwingenden Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG dar. Da der Antragsteller im Bundesgebiet geboren sei und wegen der familiären Bindungen bestehe erhöhter Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 und 3 AufenthG, sodass eine Regelausweisung vorliege. Gegenüber diesem Regelausweisungstatbestand lägen keine atypischen Ausnahmegründe vor. Es falle vielmehr besonders negativ ins Gewicht, dass die strafrechtliche Verurteilung zu Nr. 9 zwei Tatbestandsmerkmale des § 53 AufenthG erfülle. Auf Grund der Vielzahl der strafrechtlichen Verstöße könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller zukünftig in der Lage sein werde, ein straffreies Leben zu führen. Gerade bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz sei von einer hohen Rückfallquote auszugehen, einerseits wegen bestehender Abhängigkeit und andererseits auf Grund der besonderen finanziellen Anreize. Dabei sei zu berücksichtigen, dass er bereits in den Jahren vor der Inhaftierung seinen Lebensunterhalt sowie den seiner Familienangehörigen überwiegend aus öffentlichen Mitteln bestritten habe. Nach einer Haftzeit von vier Jahren sei eine Wiedereingliederung in ein geregeltes Arbeitsverhältnis schwierig, sodass davon ausgegangen werden müsse, dass die Rückfallgefahr durch finanzielle Probleme vergrößert werde. Strafrechtliche Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz stellten ein erhebliches Gefährdungspotenzial für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Danach liege selbst unter Berücksichtigung der Aufenthaltszeit und der familiären Bindungen kein atypischer Fall vor. Der Antragsteller könne keine Rechte aus dem ARB 1/80 geltend machen, da er nicht mindestens ein Jahr ordnungsgemäß bei einem gleichen Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei. Hilfsweise sei auch unter Berücksichtigung dieses Abkommens der Erlass der Ausweisungsverfügung gerechtfertigt. Auch die in diesem Zusammenhang zu treffende Ermessensentscheidung käme zum selben Ergebnis. Unter Berücksichtigung der Höhe der strafrechtlichen Verurteilung sowie des erheblichen Gefährdungspotenzials insbesondere bei Betäubungsmitteldelikten und unter Berücksichtigung der Ausführungen zum atypischen Fall müsse die Ermessenserwägung zu Ungunsten des Antragstellers ausfallen. Die geltend gemachten gesundheitlichen Probleme der Ehefrau könnten nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Insoweit sei anzumerken, dass die Ehefrau nunmehr bereits wegen der Vollstreckung der Strafhaft bereits für einen Zeitraum von vier Jahren vom Antragsteller getrennt leben müsse. Auf Grund der Größe der Familie des Antragstellers sollte es den Familienmitgliedern möglich sein, sich auch ohne persönliche Anwesenheit des Antragstellers im Bundesgebiet gegenseitig im Alltagsleben zu helfen. Im Übrigen werde insoweit auf die Möglichkeit der Befristung der Folgen der Ausweisung verwiesen. Die Zuständigkeit des Antragsgegners ergebe sich aus Ziff. 71.1.9.3 und 71.1.9.4 der vorläufigen niedersächsischen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, wonach für Ausländer der Familienwohnsitz am Wohnort der Familie erhalten bleibe und nicht die für den Sitz der JVA zuständige Ausländerbehörde tätig werde. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertige sich daraus, dass durch die Verurteilung zu mehrjähriger Freiheitsstrafe nach dem Betäubungsmittelgesetz ein so erhebliches Gefährdungspotential bestehe, dass es im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dringend geboten sei, die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln durch Sofortmaßnahmen zu verhindern. Es bestehe die Möglichkeit der nachträglichen Befristung und es bestehe die Möglichkeit, auch vom Ausland her ein evtl. Rechtsmittelverfahren zu betreiben.

15

Dagegen hat der Antragsteller am 04.10.2005 Klage erhoben (5 A 622/05) und gleichzeitig Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor: Er könne sich entgegen der Auffassung des Antragsgegners auf Art. 7 Abs. 1 2. Spielstrich ARB 1/80 EWG/Türkei berufen. Er sei als Sohn türkischer Arbeitnehmer in Helmstedt geboren und sei in seinem Elternhaus aufgewachsen. Er habe seine Schulausbildung in Helmstedt mit dem Hauptschulabschluss beendet. Durch die Inhaftierung habe er das Recht aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren. Es komme in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob er selbst die Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 als Arbeitnehmer erfülle. Daraus ergebe sich, dass seine Ausweisung nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur dann erfolgen könne, wenn er durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährde und dieses Verhalten eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstelle. Eine Ausweisung könne nur unter Ermessensgesichtspunkten und unter Berücksichtigung der Entwicklung bis zum Zeitpunkt der letzten Entscheidung geschehen. Im Übrigen könne er sich auf die Richtlinie 2004/38 EG vom 29. April 2004 berufen. Danach dürfe eine Ausweisung nur verfügt werden, wenn die Entscheidung auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedsstaaten festgelegt werden, beruhe. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Eine Wiederholungsgefahr bestehe nicht. Er sei durch die Strafhaft geläutert. Es lägen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass er weitere Straftaten begehen werde. Dies Straftaten, die zu der Verurteilung unter Ziff. 9 geführt hätten, seien auf seine damalige Drogenabhängigkeit zurückzuführen. Er sei sich dessen bewusst und bemühe sich deshalb spätestens seit seiner Inhaftierung intensiv um eine Drogentherapie, um nach seiner Entlassung ein drogen- und straffreies Leben zu führen. Nach der Rechtsprechung des EGMR seien im Rahmen des Art. 8 EMRK auch die Interessen des Ehepartners und der Kinder schutzwürdig. Deren Interessen seien bei der angefochtenen Verfügung nicht ausreichend gewürdigt worden. Die Verurteilungen aus den Jahren vor 2002 könnten die Ausweisung nicht stützen, da ihm erst im Jahre 2002 in Kenntnis sämtlicher bis dahin bekannter Verurteilungen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei. Es gelte auch im Ausländerrecht das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG. Die angefochtene Verfügung sei auch deshalb rechtswidrig, weil ein Widerspruchsverfahren nicht stattgefunden habe. Das Bundesverwaltungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 13.09.2005 entschieden, dass Ausweisungen von assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig seien, wenn kein Widerspruchsverfahren stattgefunden habe, es sei denn, es hätte ein dringender Fall im Sinne der Richtlinie 64/221/EWG vorgelegen. Ein solcher dringender Fall liege nicht vor.

16

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 01.09.2005 wiederherzustellen.

17

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

18

Er wiederholt und vertieft die Gründe seines Bescheides und führt ergänzend aus, dass er, für den Fall, dass das Gericht von einer Rechtstellung des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 ausgehe, auf die im angefochtenen Bescheid getätigten Ermessenserwägung Bezug nehme. Das dafür notwendige erhebliche Gefährdungspotenzial läge vor. Eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ergebe sich nicht aus dem Fehlen des Widerspruchsverfahrens. Der Antragsgegner tritt unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Nds. Innenministeriums der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage der Notwendigkeit eines Widerspruchsverfahrens nach der Richtlinie 64/221/EWG entgegen und führt aus, dass im Übrigen ein dringender Fall im Sinne dieser Richtlinie vorliege. Daran ändere auch nichts, dass sich der Kläger voraussichtlich bis mindestens Juli 2007 (2/3-Zeitpunkt) weiter in Haft befinden werde.

19

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners sowie die Akten der Staatsanwaltschaft Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Gründe

20

II.

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 01.09.2005 ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und begründet. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wiederherzustellen. Diese Wirkung reicht allerdings nicht bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens, sondern endet zu dem in § 80b Abs. 1 VwGO bestimmten Zeitpunkt. Der Antrag des Antragstellers ist sachgerecht dahin auszulegen, dass er die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung im Rahmen der gesetzlichen Regelung des § 80b Abs. 1 VwGO begehrt, ihm ist deshalb in vollem Umfang stattzugeben.

21

Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruchs- und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung nur in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, besonders angeordnet wird. Gemäß § 80 Abs. 3 VwGO ist in den Fällen des Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes schriftlich zu begründen.

22

Zweifel bestehen vorliegend bereits im Hinblick auf § 80 Abs. 3 VwGO. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung auf Seite 8 des angefochtenen Bescheides bezieht sich lediglich auf die für die Begründung der Ausweisungsverfügung angeführten Erwägungen. Zwar ist hier auf das besondere Gefährdungspotenzial abgestellt worden, das in der Verurteilung des Antragstellers zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe wegen Verstoßes gegen das BtmG liegt. Jedoch fehlen z.B. Ausführungen darüber, weshalb - gerade in Anbetracht der erst frühestens für den Juli 2007 möglichen Entlassung des Antragstellers - ein Abwarten einer ersten Entscheidung in der Hauptsache besonderen öffentlichen Interessen widerspricht. Soweit der Antragsteller hier auf die Möglichkeit eines Rechtsmittelverfahrens vom Ausland her und die "Ausschöpfung aller vom Prozessrecht gebotenen Möglichkeiten" verwiesen wird, ist nicht zu erkennen, warum sich daraus die Anordnung des Sofortvollzugs begründen soll, und es wird im Übrigen § 80b Abs. 1 VwGO verkannt. Der Hinweis darauf, dass die für einen späteren Antrag auf Befristung der Ausweisungsverfügung maßgebliche Frist mit dem Tag der Abschiebung und aus dem Bundesgebiet zu laufen beginne, und nicht mit dem Tage der Rechtskraft der Verfügung, bleibt ohne erkennbaren Zusammenhang mit der Anordnung des Sofortvollzuges.

23

Letztlich kann diese Frage dahingestellt bleiben, denn der Antragsteller hat ausreichend dargelegt, dass es derzeit an einem besonderen öffentlichen Vollzugsinteresse im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO fehlt, hinter dem sein Interesse an der aufschiebenden Wirkung der Klage zurückzutreten hätte. Dies gilt bereits unabhängig von der Frage, ob sich die Ausweisung im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erweisen wird. Im Rahmen der Überprüfung des Sofortvollzuges von Ausweisungsentscheidungen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist zwar die summarische Überprüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung wesentliches Element der Interessenabwägung, aber sie ersetzt nicht die Prüfung, ob überhaupt ein besonderes öffentliches Sofortvollzugsinteresse vorliegt; es bedarf daher der Feststellung begründeter Anhaltspunkte dafür, dass die Gefahr erneuter Straftaten in der Zeitspanne bis zur Entscheidung der Hauptsache besteht ( OVG Hamburg, Entsch. vom 04.02.2005 - 4 Bs 518/04 - juris - mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes). Zu berücksichtigen ist bei dieser Entscheidung die Frist des § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das bedeutet, bei der Frage, ob vom Antragsteller eine solche besondere Gefährdung ausgeht, ist nicht auf die rechtskräftige Beendigung des Verfahrens nach ggf. drei Instanzen abzustellen, sondern nur auf die in § 80b VwGO genannte Frist. Innerhalb dieser Frist muss vom Antragsteller eine besondere Gefährdung im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ausgehen. Während der Inhaftierung des Antragstellers, der erst im Juli 2008, auch bei 2/3-Verbüßung erst im Juli 2007 aus der Haft entlassen werden wird, ist die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten nicht gegeben. Innerhalb diese Zeitraumes ist mit einem Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu rechnen. Bei einer vorzeitigen Entlassung des Antragstellers bliebe es dem Antragsgegner unbenommen, erneut den Sofortvollzug anzuordnen. Bei einer Entlassung zum 2/3-Zeitpunkt im Juli 2007 müsste eine Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 57 StGB ergehen, die darin enthaltene Prognose wäre bei der erneuten Anordnung des Sofortvollzuges zu beachten(vgl. OVG Hamburg, aaO.).

24

Das Interesse des Antragstellers, das Klageverfahren gegen seine Ausweisung jedenfalls bis zum Ablauf der Frist des § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO vom Bundesgebiet aus betreiben zu können, hat auch nicht deshalb zurückzutreten, weil die Staatsanwaltschaft von § 456a StPO Gebrauch machen will. Die Vermeidung der weiteren Strafvollstreckung aus fiskalischen Gründen bzw. zum Zweck der Entlastung begrenzter Haftkapazitäten begründet regelmäßig kein besonderes öffentliches Interesse im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. Abs. 3 VwGO, das über das öffentliche Interesse an der Ausweisung selbst hinausgeht, und dem der Vorrang gegenüber dem Interesse des Ausländers an der aufschiebenden Wirkung seiner Anfechtungsklage gebührt. Durch eine Verfügung nach § 456a StPO wird lediglich ein der Aufenthaltsbeendigung des ausgewiesenen Ausländers entgegenstehendes Strafvollstreckungshindernis beseitigt. Damit wird nicht zugleich das für den Sofortvollzug der Ausweisung notwendige besondere Vollzugsinteresse im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO begründet, mit dem der Rechtsschutzanspruch des ausgewiesenen Ausländers nach Art. 19 Abs. 4 GG i.V.m. § 80 Abs. 1 VwGO überwunden werden könnte. Angesichts der existentiellen Bedeutung der Ausweisung sowohl für den betroffenen Ausländer als auch für seine Familienangehörigen kommt der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs.4 GG eine besondere Bedeutung zu, die allein von strafvollstreckungsrechtlichen und fiskalischen Erwägungen nicht aufgehoben werden kann, wenn die besondere Gefährdung während der Dauer des Hauptsacheverfahrens nicht besteht (vgl. OVG Hamburg aaO.). Dem steht im vorliegenden Fall die Entscheidung des OVG Bremen (vom 25.03.1999 - 1 B 65/99 - juris) nicht entgegen. Zwar kann nach dieser Entscheidung ein besonderes Interesse im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO im Gebrauchmachen von der Regelung des § 456a StPO gesehen werden, jedoch führt das OVG Bremen zur Begründung im dort entschiedenen Fall aus, dass das Bundesverfassungsgericht es auch im Rahmen des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung von Ausweisungsverfügungen für zulässig erachtet hat, unabhängig von der Gefahr erneuter Straftaten des ausgewiesenen Ausländers auch z.B. generalpräventive Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Da der Antragsteller im vorliegenden Fall den Schutz aus Art. 7 ARB 1/80 genießt und ihn auch durch die Inhaftierung nicht verloren hat (BVerwG, Urt. vom 13.09.2005 - 1 C 7/04), dürfen aber bei ihm nach der einschlägigen, im vorliegenden Verfahren zwischen den Beteiligten diskutierten Rechtsprechung des EuGH keine generalpräventiven Gesichtspunkte eine Rolle spielen.

25

Bereits aus diesen Gründen ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die angefochtene Verfügung wiederherzustellen.

26

Es bestehen allerdings auch Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung, weil ein Widerspruchsverfahren nicht stattgefunden hat.

27

Nach der Richtlinie 64/221/EWG kann auf das Widerspruchsverfahren gem. § 68 VwGO bei der Ausweisung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen nur in einem sog. dringenden Fall verzichtet werden (BVerwG aaO.). Nach dem oben Gesagten besteht jedoch im Rahmen der Frist des § 80b Abs. 1 VwGO keine besondere, die sofortige Vollziehung rechtfertigende Gefahr (der Begehung weiterer Straftaten) durch den Antragsteller. Zur Frage, wann ein dringender Fall vorliegt, verhält sich der EuGH in der einschlägigen Rechtsprechung nicht. Das Bundesverwaltungsgericht (aaO., S. 7 f. des Abdrucks) geht davon aus, dass die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles i.S.d. Richtlinie den Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts ähneln. Ein dringender Fall kommt danach nur in Betracht, wenn die begründete Besorgnis besteht, die vom Ausländer ausgehende Gefahr (neuer Straftaten) werde sich "schon vor Abschluss des Hauptverfahrens" realisieren. Abzustellen wäre insoweit zur Überzeugung der erkennenden Kammer aber nicht auf den Abschluss eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens oder die Frist des § 80b Abs. 1 VwGO, sondern darauf, ob vom Antragsteller bis zum Abschluss eines potenziellen Widerspruchsverfahrens eine besondere Gefährdung ausgeht, die als Ausnahme vom Grundsatz des Vier-Augenprinzips der Richtlinie 64/221/EWG den Verzicht auf das Widerspruchsverfahren rechtfertigt. Davon ist für die Dauer der Haft nicht auszugehen (so auch BVerwG aaO.). Auch eine Anwendung des § 456a StPO kann die Annahme eine dringenden Falles i.S.d. Richtlinie nicht rechtfertigen. Zwar führt das Bundesverwaltungsgericht insoweit aus, dass im Falle der Inhaftierung des Ausländers ein dringender Fall nur in Betracht käme, wenn er aus der Haft abgeschoben werden soll (aaO.,S.8 des Abdrucks), dieses kann sich jedoch nach den vorangegangenen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zu den besonderen vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen an den Sofortvollzug von Ausweisungen nicht auf den von fiskalischen Interessen getragenen § 456a StPO beziehen, sondern auf die Fälle, in denen ein Ausländer nach Verbüßung der Haftstrafe aus der Haft abgeschoben werden soll.

28

Soweit der Antragsgegner unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Nds. Innenministeriums vom 22.11.2005 vorträgt, dass das Gemeinschaftsrecht keine Ermessensentscheidung und damit auch keine Überprüfung von Zweckmäßigkeitserwägungen in einem Widerspruchsverfahren fordert, und deshalb eine umfassende Kontrolle der Ausweisungsentscheidung durch das Verwaltungsgericht möglich ist, schließt sich die erkennende Kammer dem nicht an. Wenn das deutsche Aufenthaltsrecht auf Grund der Anwendung des Aufenthaltsgesetzes auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige dazu kommt, dass bei einer Ausweisung dieses Personenkreises eine Ermessensentscheidung erfolgen muss, ist nach Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG für die zweite Instanz die gleiche Entscheidungsbreite zu fordern, auch wenn das Gemeinschaftsrecht eine Ermessensentscheidung vielleicht nicht fordert. Art 9 der Richtlinie ist als europarechtliche Verfahrensgarantie Ausprägung des sogenannten Vier-Augen-Prinzips (BVerwG aaO.). Dies und die Betonung der Unabhängigkeit der zweiten Stelle von der ersten, entscheidenden, Stelle führt dazu, dass die zweite Stelle in jedem Fall die gleiche Prüfungskompetenz haben muss wie die erste Stelle. Diese Kompetenz kommt wegen § 114 VwGO den Verwaltungsgerichten nicht zu.

29

Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK auch deshalb, weil der Antragsgegner in der gegenüber dem assoziationsberechtigten Antragsteller zu treffenden Ermessensentscheidung nicht geprüft hat, ob und inwieweit der in der Bundesrepublik Deutschland geborene Antragsteller Bindungen an die Türkei hat, ob er z.B. türkisch spricht. Auch ist fraglich, ob im Rahmen des Art. 8 EMRK die Interessen der minderjährigen Kinder und der erkrankten Ehefrau ausreichend berücksichtigt werden, wenn lediglich darauf verwiesen wird, dass auch der inhaftierte Vater keine Hilfe im täglichen Leben geben könne. Ausweislich der Stellungnahme der JVA finden regelmäßige Familienbesuche statt, sodass sich durch eine Abschiebung des Antragstellers die Situation der Familienangehörigen erheblich ändern würde. Der Hinweis auf die Möglichkeit eines späteren Antrages auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung ersetzt diesbezügliche Ermessenserwägungen nicht.

30

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 52 GKG.