Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 24.02.2006, Az.: 6 B 543/05

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
24.02.2006
Aktenzeichen
6 B 543/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 44234
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2006:0224.6B543.05.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 20.06.2006 - AZ: 13 ME 108/06

Amtlicher Leitsatz

Wenn ein Schüler wechselnd bei jedem seiner getrennt lebenden, aber gemeinsam sorgeberechtigten Elternteile wohnt, kann zur Schülerbeförderung auch derjenige Schulträger verpflichtet sein, in dessen Gebiet der Schüler nicht überwiegend wohnt; § 114 NSchG stellt (lediglich) auf die tatsächlich genutzte Wohnung ab, von der aus der Weg zur Schule angetreten bzw. in die nach Schulschluss zurückgekehrt wird.

In der Verwaltungsrechtssache

des Herrn A.

Antragsteller,

Proz.-Bev.: Rechtsanwälte W und andere,

M str 5, 38300 Wolfenbüttel,

g e g e n

den Landkreis Wolfenbüttel,

vertreten durch den Landrat,

Bahnhofstraße 11, 38300 Wolfenbüttel,

Antragsgegner,

Streitgegenstand: Schülerbeförderung

- hier: Antrag nach § 123 VwGO -

hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 6. Kammer - am 24. Februar 2006 beschlossen:

Tenor:

  1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, nach Maßgabe der unter Nr. 4 der Entscheidungsgründe getroffenen Regelungen für die Kinder B. und C. die Schülerbeförderung von ihrer Wohnung beim Antragsteller zum Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte in Braunschweig, gegebenenfalls auch zurück, durchzuführen bzw. dem Antragsteller die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten, sofern die Kinder den Schulweg von der Wohnung des Antragstellers antreten bzw. von der Schule dorthin zurückkehren.

    Der weitergehende Antrag wird abgelehnt.

    Die Kosten des Verfahrens haben der Antragsteller und der Antragsgegner je zur Hälfte zu tragen.

Gründe

1

I.

Die Beteiligten streiten um die Durchführung bzw. die Kosten der Schülerbeförderung.

2

Der Antragsteller ist der Vater der genannten, in den Jahren 1996 bzw. 1998 geborenen Kinder, die stark hörgeschädigt sind und deshalb ihren Schulbesuch beim Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte in Braunschweig absolvieren.

3

Der Antragsteller ist von der Mutter der Kinder rechtskräftig geschieden. Beide üben das Sorgerecht gemeinsam aus. Nach Absprache zwischen den Eltern leben die Kinder überwiegend in der Wohnung der Mutter in Braunschweig, jedoch auch in der des Antragstellers im Gebiet des Antragsgegners, von wo aus sie in diesen Fällen ggf. auch den Schulweg antreten.

4

In der Vergangenheit übernahm der Antragsgegner den Schülertransport des Kindes X von der und zur Wohnung des Antragstellers, sofern erforderlich. Den im Juli 2005 anlässlich der bevorstehenden Einschulung von J gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten nunmehr für beide Kinder lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 23.08.2005 im Wesentlichen mit der Begründung ab, die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Schülerbeförderung bzw. auf Erstattung der notwendigen Aufwendungen für den Schulweg lägen nicht vor. Ein Anspruch bestehe nur, soweit der Schulweg vom Ort des gewöhnlichen Aufenthalts ausgehe. Dies sei der Ort, an dem auf längere Zeit Wohnung genommen werde, mithin der Ort, an dem der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen sei. Diese Voraussetzungen seien beim Antragsteller nicht gegeben. Seine beiden Söhne lebten zwar zeitweise bei ihm, im überwiegenden Zeitraum jedoch bei ihrer Mutter in Braunschweig, sodass dort auch der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts sei.

5

Dagegen hat der Antragsteller am 16. September 2005 Klage erhoben und zugleich den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Zu dessen Begründung hat er im Wesentlichen geltend gemacht: Als Arbeitsloser könne er die Kosten der Schülerbeförderung nicht vorfinanzieren. Zu Unrecht gehe der Antragsgegner davon aus, dass er selbst dann nicht zuständig sei, wenn die Kinder von seiner Wohnung zur Schule bzw. zurück fahren würden. Der Schwerpunkt ihrer Lebensbeziehungen liege bei beiden Elternteilen und nicht nur bei der Kindesmutter.

6

Der Antrag erstrecke sich auch auf die in der Zeit seit Antragstellung von ihm aufgebrachten Kosten der Schülerbeförderung, für die er verschiedene Darlehen erhalten habe, die er zurückzahlen müsse.

7

Der Antragsteller beantragt,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Schülerbeförderung für die Kinder B. und C. von S zum Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte in Braunschweig und zurück durchzuführen bzw. die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten.

8

Der Antragsgegner tritt dem Begehren entgegen und beantragt,

den Antrag abzulehnen.

9

Der Antragsgegner hält an seiner Auffassung fest, dass es nur einen Aufenthaltsort für die Kinder geben könne, da nur anhand dieses Ortes auch die zuständige Schule festgestellt werden könne. Selbst wenn bei wechselnden Aufenthaltsorten ein zeitliches Überwiegen nicht bestehe, sei aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität auf die Hauptwohnung im melderechtlichen Sinne abzustellen.

10

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowohl dieses auch des Klageverfahrens (6 A 542/05) und auf den vorgelegten Verwaltungsvorgang des Antragsgegners Bezug genommen.

11

II.

Der nach § 123 Abs. 1 VwGO zulässige Antrag ist im ausgesprochenen Umfang begründet, im Übrigen aber nicht begründet.

12

1. Der Antrag ist nicht begründet, soweit der Antragsteller die von ihm nicht einmal bezifferten Kosten ersetzt verlangt, die er seit der Stellung dieses Antrags für den Schülertransport aufgewandt hat. Insoweit hat der Antragsteller den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO erforderlichen Anordnungsgrund, die Notwendigkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung, nicht glaubhaft gemacht.

13

2. Anders verhält es sich mit dem zukünftigen Schülertransport, für den der Antragsteller einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass der Schulbesuch der Kinder gefährdet ist, wenn nicht alsbald eine vorläufige Regelung getroffen wird; er hat - unwidersprochen durch den Antragsgegner - darauf hingewiesen, dass es ihm nicht in jedem Falle gelungen ist, die Schülerbeförderungskosten - und sei es als Darlehen - aufzubringen, sodass seine beiden Söhne "teilweise" nicht zur Schule gegangen sind, wenn sie bei ihm gewohnt haben. Der Antragsteller verfügt nach wie vor nicht über ausreichende eigene Einkünfte, um den Transport seiner Kinder zur Schule und/oder zurück zu ihm bezahlen zu können. Er kann insoweit auch nicht darauf verwiesen werden, von seinem Vater oder anderen Personen (weitere) Darlehen zu erbitten, zumal nicht sicher zu erwarten ist, dass sie ihm gewährt werden.

14

3. Dem Antragsteller steht als Personensorgeberechtigtem gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG ein Anspruch darauf zu, dass der Antragsgegner die Schülerbeförderung seiner Kinder von S aus zu der von ihnen besuchten Schule für Hörgeschädigte in Braunschweig durchführt bzw. ihm die dafür notwendigen Aufwendungen erstattet, sofern die Kinder den Schulweg von dieser Wohnung, die zeitweise auch ihre Wohnung ist, antreten bzw. von der Schule dorthin zurückkehren. Der Umstand, dass die Kinder nicht überwiegend in der Wohnung des Antragstellers leben, steht dem nicht entgegen.

15

Nach § 114 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 NSchG haben die Landkreise und kreisfreien Städte als Träger der Schülerbeförderung (§ 114 Abs. 1 Satz 1 NSchG) die in ihrem Gebiet "wohnenden" Schülerinnen und Schüler der 1. bis 10. Schuljahrgänge der allgemeinbildenden Schulen unter zumutbaren Bedingungen zur Schule zu befördern oder ihnen bzw. ihren Erziehungsberechtigten die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten, wobei dieser Anspruch von den Erziehungsberechtigten auch in eigenem Namen geltend gemacht werden kann. Der Anspruch nach § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG besteht sowohl nach dem Wortlaut als auch nach dem Sinn und Zweck der Regelung für alle Schüler, die im Gebiet der für die Schülerbeförderung verantwortlichen Gebietskörperschaft "wohnen".

16

Vom Wortsinn des § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG erfasst sind damit auch die Wohnungen, die nicht ständig, sondern nur gelegentlich genutzt werden; ein überwiegender Aufenthaltsort wird insoweit nicht vorausgesetzt. Dies entspricht dem allgemeinen anerkannten Sprachgebrauch und findet eine systematische Bestätigung auch in der übrigen Rechtsordnung.

17

§ 7 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bestimmt ausdrücklich, dass ein Wohnsitz gleichzeitig an mehreren Orten bestehen kann, und auch das Melderecht (hier § 8 Abs. 1 des Niedersächsischen Meldegesetzes - NMG-) geht ohne Weiteres davon aus, dass eine Person mehrere Wohnungen haben kann. Soweit melderechtlich zwischen Haupt- und Nebenwohnung(en) unterschieden wird (vgl. § 8 NMG), ist diese Differenzierung auf die Zwecke des Melderechts zugeschnitten und entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht auf den Begriff des Wohnens im Sinne des § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG übertragbar. § 114 NSchG stellt (lediglich) auf die tatsächlich genutzte Wohnung ab, von der aus der Weg zur Schule angetreten bzw. in die nach Schulschluss zurückgekehrt wird (so bereits VG Braunschweig, Beschl. vom 05.04.2000 - 6 B 214/00 -; VG Hannover, Beschl. vom 07.10.2002 - 6 B 4159/02 -; Nds. OVG, Beschl. vom 03.04.2003 - 13 LA 220/03 -; ebenso im Ergebnis Littmann in: Brockmann/ Littmann/ Schippmann, Niedersächsisches Schulgesetz, Stand: Dezember 2005, § 114 Anm. 2.5 a. E.).

18

Nichts anderes ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck des § 114 NSchG. Diese Vorschrift soll der Chancengleichheit im Bildungsbereich dienen und sicherstellen, dass sozial schwächere und/oder kinderreiche Familien die äußerlich gleichen Bedingungen zum Schulbesuch vorfinden und dieser nicht etwa aufgrund finanzieller Erwägungen erschwert wird oder scheitert (vgl. dazu Littmann, a. a. O., § 114 Anm. 1). Mit dieser Zwecksetzung wäre es nicht vereinbar, nicht auf den tatsächlichen Wohnort abzustellen, von dem aus ein Beförderungsbedarf entsteht und durch den der Beförderungs- oder Erstattungspflichtige nach § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG hinreichend genau bestimmt wird. Die von dem Antragsgegner vertretene Rechtsauffassung würde u. a. dazu führen, die Dispositionsfreiheit von getrennt lebenden Eltern einzuengen, denen es aus finanziellen Gründen zumindest erschwert würde, ihre Kinder im Lauf eines Monats wechselnd bei beiden Elternteilen wohnen zu lassen. Das kann gerade nicht der Sinn des § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG sein, zumal damit auch Entwicklungen im Bereich des Kindschaftsrechts konterkariert würden, denen sich das Land Niedersachsen ebenso wenig verschließen darf wie der Antragsgegner.

19

Die vom Bundesgesetzgeber ausdrücklich zum Grundsatz erklärte gemeinsame Personensorge der Eltern (vgl. §§ 1626, 1684 BGB) ist auch für den Fall des Getrenntlebens der Elternteile zugelassen und wird durch die Vorschriften des § 1687 BGB zur "Ausübung der gemeinsamen Sorge bei Getrenntleben" tendenziell erleichtert, was zur Anerkennung und gesellschaftlichen Verankerung verschiedener Kinderbetreuungsmodelle geführt hat. Dazu zählt auch das sog. Doppelresidenz-Modell, bei dem das Kind wechselweise bei den getrennt lebenden Elternteilen und damit in verschiedenen Wohnungen lebt (vgl. dazu nur Diederichsen in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 1687 Rn 3 m. w. Nw.). Dies ist auch im Bereich der Schülerbeförderung zu respektieren, zumal sich daraus keine unüberwindlichen Hindernisse, sondern allenfalls Mehrbelastungen bei der verwaltungspraktischen Handhabung ergeben, die im Vergleich mit den ansonsten drohenden Beeinträchtigungen des Umgangsrechts und der damit regelmäßig zu befürchtenden Beeinträchtigung des Kindeswohls leicht überwindbar sind. Dies hat der Antragsgegner im Falle des älteren Kindes bereits gezeigt.

20

Soweit der Antragsgegner meint, die Regelung des § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG müsse an den Regelungen über die Schulpflicht nach § 63 NSchG orientiert sein, deren Sinn und Zweck es sei, dass es für Schülerinnen und Schüler "nur eine zuständige Schule" gebe, irrt er. Die Auffassung des Antragsgegners verkennt zum einen, dass sich diese Frage - - wie vorliegend - nicht immer stellt und insbesondere auch den Rückschluss auf die eigene Unzuständigkeit nicht begründen kann. Unstreitig dürfte sein, dass eine Verpflichtung nach § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG auch dann besteht, wenn die zuständige Schule nicht im Zuständigkeitsbereich des für den Schülertransport verantwortlichen Schulträgers, sondern im Bereich einer anderen Gebietskörperschaft liegt (vgl. § 114 Abs. 3 Satz 5 NSchG). Ferner trifft die These nicht zu, § 63 Abs. 1 Satz 1 NSchG lege verbindlich fest, welche Schule ein Kind zu besuchen habe. Dem steht bereits die ersichtlich weite Fassung des § 63 Abs. 1 NSchG zur Schulpflicht entgegen, die eine eindeutige (auch Zuständigkeits-)Zuordnung gerade nicht trifft. Die Schulpflicht in Niedersachsen ist nach § 63 Abs. 1 NSchG nicht nur an das Innehaben des "Wohnsitzes", sondern darüber hinaus - alternativ ("oder") - auch an den "gewöhnlichen Aufenthalt" sowie an den Ort der "Ausbildungs- oder Arbeitsstätte" geknüpft. Dadurch kann die Schulpflicht eines Kindes gleichzeitig an verschiedenen Orten begründet und in diesem Sinne zunächst auch die Verantwortlichkeit verschiedener Schulträger gegeben sein (Brockmann in: Brockmann/ Littmann/ Schippmann, Niedersächsisches Schulgesetz, Stand: Dezember 2005, § 63 Anm. 2.1). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts nicht mit dem Wohnsitz des Kindes identisch ist und diese Orte in unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen liegen. Soweit in solchen Fällen - wohl regelmäßig - mit Blick auf das Kindeswohl ein pädagogisches Bedürfnis besteht, zwischen mehreren in Betracht kommenden Schulen zu entscheiden, bedeutet dies nicht, dass der Schulträger, in dessen Bereich die besuchte Schule nicht liegt, notwendig aus seiner Verantwortung nach § 114 Abs. 1 NSchG entlassen sein muss.

21

4. Zur Bestimmung der näheren Einzelheiten der mit dieser Entscheidung getroffenen Regelung ordnet die Kammer an: Die Verpflichtung des Antragsgegners besteht nur, soweit der Antragsteller die beanspruchten Leistungen schriftlich beantragt hat. Der Antrag muss spätestens sieben Werktage vor der geplanten Inanspruchnahme bei dem Antragsgegner eingegangen sein. Aus dem Antrag muss sich ergeben, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang die Schülerbeförderung beansprucht wird, für die der Antragsgegner zuständig ist. Dabei hat der Antragsteller ggf. für jedes Kind gesondert darzulegen, ob eine Beförderungsleistung benötigt wird a. von seiner Wohnung in die Schule und zurück, b. von seiner Wohnung nur in die Schule oder c. von der Schule zu seiner Wohnung.

22

Der Antragsgegner muss, will er den Schülertransport nicht selbst organisieren, dem Antragsteller rechtzeitig die erforderlichen Mittel zukommen lassen.

23

Den Beteiligten bleibt es unbenommen, eine andere Verfahrensweise zu vereinbaren.

24

5. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.